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Neuntes Kapitel.

Sobald ich mit dem Durchlesen dieser Schrift zu Ende war, legte ich sie auf den Tisch nieder und brütete geraume Zeit in tiefen Gedanken.

»Ist's möglich,« dachte ich, »daß getäuschte Liebe in eine solche Wuth übergehen und das Herz in einem Grade gegen alle besseren Gefühle verhärten kann, um ein Weib zu veranlassen, daß sie die Tage ihres Vaters abkürzt, ihre Schwester in einem so peinlichen Irrthum hinsterben läßt und ohne Rücksicht auf die Stimme der Gerechtigkeit ihre Rache sogar auf ein unschuldiges kleines Wesen ausdehnt! Gebe Gott, daß ich nie einer solchen Leidenschaft anheim falle! Wer hätte es je gedacht, daß auf der Seele der unbekümmerten, überspannten Lady R– ein so schweres Verbrechen lastete und daß sie täglich und stündlich durch die Nähe der gekränkten Person daran erinnert wurde! Wie unempfindlich muß sie durch die Gewohnheit geworden sein, daß sie immer zögerte, den ihr obliegenden Akt der Gerechtigkeit zu vollziehen – wie befremdlich, daß die Furcht vor der Welt und ihrer Meinung die Furcht Gottes so sehr zu überbieten vermochte!«

Diese letztere Bemerkung bewies, wie wenig ich noch die Welt kannte. Meine Gedanken nahmen jetzt eine andere Richtung. Wie ich bereits bemerkte, wurde ich als Katholikin erzogen; aber nach dem Tod meiner Großmutter trat eine große Nachläßigkeit in Erfüllung meiner religiösen Pflichten ein, da es mir sowohl an Ermutigung, als an einem Vorbilde fehlte. Ich war jetzt mehr als zwei Jahre in England und hatte stets im Verkehr mit Protestanten gelebt, wie ich denn auch mit denen, in deren Haus ich wohnte, die protestantische Kirche besuchte. Zwar wußte ich wohl, welche Verschiedenheit zwischen den beiden Glaubensbekenntnissen stattfand; aber ich dachte, es sei doch besser, in die protestantische Kirche, als in gar keine zu gehen, und so hatte die Gewohnheit allmählich eine Hinneigung zum Protestantismus herbeigeführt. Jetzt kam ich übrigens auf den Gedanken, wenn Lady R– zur Beichte gegangen wäre, wie die Katholiken zu thun pflegen, so hätte dieses Geheimniß nicht so lange verschwiegen bleiben können, und selbst in dem Falle, daß sie den Empfang des Sacraments umgieng, würden doch ihre Mitbetheiligten (wären sie Katholiken gewesen) ihr Herz vor dem Priester entlastet und so Anlaß dazu gegeben haben, daß dem armen Lionel Gerechtigkeit wiederfahren mußte. Diese Betrachtung ließ mich mit inniger Befriedigung das Glück empfinden, dem katholischen Verbande anzugehören.

Nach einigen weiteren Erwägungen legte ich die Papiere bei Seite, schrieb an den Sachwalter Mr. Selwyn einen Brief, in welchem ich ihn bat, daß er mich am anderen Morgen besuchen möchte, und begab mich dann zu Lady M– hinunter.

»Es kömmt mir vor, als ob wir uns Eurer Gesellschaft nicht mehr wie früher zu erfreuen haben werden, Miß de Chatenœuf,« sagte die gnädige Frau, »nachdem Euch neuerdings ein so wichtiger Auftrag zu Theil geworden ist.«

»Es ist eine sehr leidige Aufgabe für mich,« versetzte ich, »und es wäre mir lieb, wenn mich Lady R– mit diesem Complimente verschont hätte. Darf ich wohl Eure Güte so weit in Anspruch nehmen, gnädige Frau, daß Ihr mir die Bitte nachseht, mir auf eine halbe Stunde Euren Wagen zu borgen, damit ich aus dem Hause der Lady R– in Bakerstreet einige Papiere holen kann?«

»Oh, gewiß,« entgegnete die gnädige Frau. »Darf ich fragen, ob Ihr von dem Testament der Lady R– bereits Einsicht genommen habt?«

»Dies ist der Fall, Madame.«

»Und wie hat sie über ihr Eigenthum verfügt?«

»Sie hat ihr ganzes Vermögen ihrem Neffen vermacht, Lady M–.«

»Ihrem Neffen? Ich habe sie doch nie zuvor von einem Neffen sprechen hören. Ihr Gatte hatte keine Neffen oder Nichten, da er ein einziger Sohn war, und der Titel ist jetzt auf den Zweig der Viviane übergegangen. Daß sie einen Neffen hätte, ist mir völlig unbekannt. Und was hat sie Euch hinterlassen, wenn man zu fragen sich die Freiheit nehmen darf?«

»Lady R– hat mir fünfhundert Pfund vermacht, gnädige Frau.«

»Wirklich? Nun, dann bezahlt sie Euch gut für Eure Mühe. Aber in der That, Miß de Chatenœuf, es wäre mir lieb, wenn Ihr diese Angelegenheit verschieben könntet, bis die beiden Hochzeiten vorbei sind. Ich bin so von allen Seiten in Anspruch genommen und geplagt, daß ich wahrhaftig nicht weiß, wohin ich mich zuerst wenden soll, und ich muß gestehen, daß ich während der letzten zwei Tage den Mangel Eures Mitwirkens schwerer empfand, als Ihr Euch vorstellen könnt. Ihr seid so geschickt und habt so viel Geschmack, daß wir ohne Euch nicht vorwärts kommen. Ihr seid ganz selbst daran Schuld,« fügte die gnädige Frau scherzhaft bei. »Eure Gutmüthigkeit hat uns verwöhnt und in einem Grade von Euch abhängig gemacht, daß wir Euch jetzt nicht fortlassen können. Von den trousseaux darf nichts angeschafft werden, wenn es nicht durch den Geschmack der Mademoiselle Valerie de Chatenœuf gestempelt ist. Eine Woche wird wohl keinen großen Unterschied ausmachen, da die Advokaten ja ohnehin keine Freunde von übergroßer Eile sind. Wollt Ihr mir daher den Gefallen erweisen, Lady R–'s Angelegenheiten vorderhand beruhen zu lassen?«

»Sicherlich, Lady M–,« lautete meine Erwiederung. »Ich will nur den Brief, den ich an den Sachwalter abzuschicken gedachte, wieder zurücknehmen und in Gemäßheit Eurer Wünsche einen andern schreiben; auch werde ich mein Gesuch um den Wagen nicht wiederholen, bis die beiden Vermählungen stattgefunden haben.«

»Vielen Dank,« entgegnete die gnädige Frau.

Ich entfernte mich, holte meinen Brief aus der Bedientenhalle und schrieb einen anderen, in welchem ich Mr. Selwyn mittheilte, daß ich mich vor der nächsten Woche auf kein Geschäft einlassen könne; dann aber werde ich Muße haben, ihn zu empfangen.

Auch an Lionel ließ ich ein Schreiben abgehen, in welchem ich ihn bat, mich nicht wieder zu besuchen, da ich ihm brieflich mittheilen wolle, wo er mich treffen könne, sobald mir mehr Zeit zur Verfügung stehe. In der That war es mir lieb, daß Lady M– das erwähnte Ersuchen an mich gestellt hatte, da das rührige Treiben, das Plaudern und die glücklichen Gesichter derer, welche die trousseaux umschaarten, wie auch die beständige Beschäftigung, für die ich in Anspruch genommen wurde, die Trauer verscheuchten, in welche mich die Geschichte der Lady R– versetzt hatte. Es gelang mir großentheils, meine Heiterkeit wieder zu gewinnen; auch strengte ich mich fast über Kräfte an, so daß schon zwei Tage vor der für die Trauungen anberaumten Zeit Alles Erforderliche zur großen Zufriedenheit der beteiligten Personen fertig war.

Endlich kam der Morgen. Die Bräute waren gekleidet und begaben sich nach dem Saale hinunter – noch immer scheu und verwirrt; aber die Thränen waren bereits oben vergossen worden. Der Zug der Wagen bewegte sich Hanover-Square zu. Dort harrte natürlich ein Bischoff der Brautpaare, und die Kirche war mit prächtig geputzten Frauen angefüllt. Die Feierlichkeit nahm ihren Fortgang, und die Bräute wurden in die Sacristei geführt, um daselbst Küsse und Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Dann kam das Festmahl, von dem kaum Jemand einen Bissen kostete, mit Ausnahme des Bischoffs, dem schon zu viele Trauungen vorgekommen waren, als daß sein Appetit durch eine solche Ceremonie hätte nothleiden können, und einiger anderen alten Rundreisenden auf den Stationen des Lebens, welche sich wenig darum bekümmerten, ob sie bei einem Hochzeitfrühstück oder bei einer Labung nach einem Leichenbegängnisse saßen.

Nach einem sehr schweigsamen Beisammensitzen zogen sich endlich die Bräute zurück, um ihre Kleider zu wechseln, und als sie wieder erschienen, wurden sie, sobald sie sich den Küssen und Thränen der Lady M– entreißen konnten, welche zum Wunder gut die Rolle der trostlosen Mutter spielte, von den betreffenden Bräutigamen in die Wagen gehoben. Wer die zärtliche Mamma damals in ihrem Niobenschmerz sah, würde sich sicherlich nie vorgestellt haben, daß während der letzten drei Jahre ihr ganzes Dichten, Trachten und Manövriren dahin gegangen war, sich die Töchter vom Halse zu schaffen; aber Lady M– war eine vollendete Schauspielerin, und diese Schlußscene gelang ihr vortrefflich.

Als ihre Töchter nach den Wagen hinuntergeführt wurden, meinte ich, sie wolle ohnmächtig werden; bei weiterem Besinnen schien sie es jedoch vorzuziehen, vorher die Bräute in ihren prächtigen Carossen abfahren zu sehen. Sie wankte daher nach dem Fenster, sah sie einsteigen und betrachtete die schönen Apfelschimmel, die herausgeputzten Postillone, die weiß- und silbernen Festschleifen, den geschniegelten Kammerdiener und die schmucke Kammerjungfer hinten auf den Bedientensitzen. In rasselndem Galop ging es von dannen, und sie schaute den Scheidenden nach bis an die Ecke des Square; dann aber – und erst dann – sank sie besinnungslos in meine Arme und wurde von der Dienerschaft nach ihrem Zimmer getragen.

Die arme Frau mußte jetzt freilich völlig erschöpft sein, denn sie hatte während der letzten sechs Wochen in steter Todesangst gelebt, ob nicht etwa irgend ein contretemps vorfalle, welcher die glückliche Vollendung hindere oder verzögere.

Am andern Morgen kam die gnädige Frau nicht aus ihrem Zimmer, sondern ließ mir herunter sagen, daß der Wagen zu meiner Verfügung stehe; ich fühlte mich jedoch in hohem Grade erschöpft und abgemattet, so daß ich an diesem Tage keinen Gebrauch davon machen wollte. Ich schrieb an Lionel und an Mr. Selwyn, sie möchten morgen Mittag um zwei Uhr in Bakerstreet mit mir zusammentreffen, und verbrachte den Rest des Tages ruhig in der Gesellschaft von Amy, welche, wie bereits bemerkt wurde, die dritte Tochter der Lady R– war. Ich hatte dieses holde, ungezierte Mädchen sehr lieb gewonnen, mehr als ihre so kürzlich erst vermählten Schwestern, und ihr große Aufmerksamkeit erwiesen, da sie eine sehr schöne Stimme besaß und meinem Unterricht Ehre machte. Auch bestand zwischen uns ein sehr vertrautes Verhältniß, das meinerseits in der Schätzung ihres liebenswürdigen, edeln Charakters begründet war, welchen nicht einmal das schlimme Beispiel ihrer Mutter zu verderben vermochte.

Nachdem wir uns eine Weile über die jungen Brautpaare unterhalten hatten, sagte sie zu mir –

»Ich weiß kaum, was ich thun soll, Valerie. Ich liebe Euch zu sehr, als daß ich mit ansehen könnte, wenn Ihr übel behandelt werdet, und doch fürchte ich Euch zu kränken, wenn ich Euch mittheile, was ich über Euch gehört habe. Ich weiß auch, daß Ihr dann nicht mehr werdet im Hause bleiben wollen, und ich verliere Euch so ungern. Doch dies ist ein selbstsüchtiges Gefühl, das ich überwinden muß, und es würde mich nur schmerzen, wenn ich Euch weh thäte. Sagt mir daher aufrichtig, soll ich unverholen zu Euch sprechen, oder nicht?«

»Ich will Euch unumwunden meine Ansicht sagen,« versetzte ich. »Ihr habt bereits zu wenig oder zu viel gesagt. Ihr sprecht von übler Behandlung gegen mich; natürlich möchte ich dagegen auf der Hut sein können, obschon ich mir nicht vorzustellen vermag, wer mein Feind ist.«

»Hätte ich es nicht selbst mit eigenen Ohren gehört, so würde ich es nimmermehr geglaubt haben,« entgegnete sie. »Ich war immer der Meinung, Ihr seiet als Gast und Freundin zu uns gekommen: aber was mich zur Offenheit gegen Euch zwingt, ist der Umstand, daß man Eurem Rufe durch eine Beschuldigung schaden will, die meiner festen Ueberzeugung nach auf einer Unwahrheit beruht.«

»Nun, dann muß ich Euch in der That bitten, Euch offen auszusprechen und nichts zu bemänteln, da mir nur die volle Wahrheit von Werth sein kann. Und wer gedenkt denn meinen Charakter anzugreifen?«

»Es thut mir leid – recht leid, es sagen zu müssen – die Mamma,« erwiderte sie eine Thräne abwischend.

»Lady M–?« rief ich.

»Ja,« versetzte sie. »Aber Ihr müßt jetzt alles hören, was ich zu sagen habe. Nichts soll mich hindern, es zu thun, da ich es für meine Pflicht halte. Ich liebe meine Mutter wohl – aber es ist traurig, daß ich sie nicht achten kann. Ich befand mich diesen Morgen im Ankleidezimmer, als meine Mutter, die in ihrem Schlafgemach auf dem Sopha lag, von ihrer guten Freundin, der Mrs. Germane, einen Besuch erhielt. Sie plauderten eine Zeit lang miteinander und schienen entweder zu vergessen, oder sich nicht darum zu kümmern, daß ich in der Nähe war; denn endlich kam auch Euer Name zur Sprache.

»›Ich muß gestehen, daß sie Euch und Eure Mädchen recht hübsch kleidet,‹ sagte Mrs. Germane. ›Wer ist sie? Wie ich höre, stammt sie aus einer guten Familie; aber wie kömmt es, daß sie als Putz- und Kleidermacherin bei Euch lebt?‹

»›Meine liebe Mrs. Germane,‹ versetzte meine Mutter, ›es ist allerdings wahr, daß ich sie als Putzmacherin im Hause habe, denn ich lud sie aus keinem andern Grunde zu mir ein, als daß sie mir in dieser Eigenschaft diene, obschon sie selbst es nicht weiß. Wie ich von Mrs. Bathurst erfuhr, gehört sie einer edeln Familie in Frankreich an und wurde durch ungünstige Verhältnisse in die Welt hinaus geworfen. Sie ist sehr talentvoll, aber auch sehr stolz, und ich bemerkte schon, als sie noch bei Mrs. Bathurst war, ihren feinen Geschmack in Modesachen. Als ich nun fand, daß es meinem Manövriren gelungen war, sie zum Austritt von Lady R– zu veranlassen, lud ich sie ein, als eine Art Freundin zu mir zu kommen und bei meinen Töchtern zu bleiben, ohne daß dabei des Putz- und Kleidermachens auch nur mit einem Wort Erwähnung geschah – denn dafür hatte ich zu viel Takt. Selbst wenn ich ihrer Dienste benöthigt war, wußte ich es stets einzuleiten, daß sie dabei wie aus eigenem Antrieb handelte, und ich dankte ihr dann für ihre Herablassung. So ist es mir denn durch Schmeichelei und geschickte Behandlung gelungen, sie zu bewegen, daß sie fortwährend meine und meiner Töchter Kleider besorgte, und ich muß sagen, daß ich der festen Ueberzeugung lebe, nur ihrem gewählten Geschmack habe ich die schnelle und gute Versorgung meiner Mädchen zu danken.‹

»›Ich gestehe, Ihr habt dies bewundernswürdig angegriffen,‹ entgegnete Mrs. Germane. ›Aber meine liebe Lady M–, was wollt Ihr jetzt mit ihr anfangen?‹

»›Oh,‹ sagte meine Mutter, ›da die Reihe jetzt an Amy kömmt, so werde ich sie in meinem Dienste behalten, bis ich auch diese vom Hals habe; und dann –‹

»›Ja, dann wird's freilich eine Schwierigkeit absetzen,‹ unterbrach sie Mrs. Germane; ›denn wie wollt Ihr ihrer loswerden, nachdem Ihr sie so lange so zu sagen als Gast behandelt habt?‹

»›Dies hat mir allerdings schon Verlegenheit gemacht, und ich dachte daran, ob es nicht ginge, wenn ich ihr eine Kränkung zufügte und ihre Gefühle verwundete, da sie sehr stolz ist. Zum Glück ist mir aber etwas in den Wurf gelaufen, was ich für mich behalten will, bis es Zeit ist; dann kann ich sie augenblicklich entlassen.‹

»›Wirklich?‹ entgegnete Mrs. Germane. ›Und was mag wohl das sein, was Ihr im Wurf habt?‹

»›Euch kann ich es schon anvertrauen; aber ich muß Euch bitten, reinen Mund zu halten. Mein Mädchen ist letzthin ins Zimmer getreten, als die Mademoiselle eben von einem jungen Gentleman, der sie besucht hatte, geküßt wurde.‹

»›Was Ihr da sagt!‹

»›Ja; es wurde ein Kuß gegeben, und meine Kammerjungfer war Zeuge davon. Nun kann ich es leicht so einleiten, daß es den Anschein gewinnt, als habe das Mädchen dieses Vorfalls erst in einer Zeit gegen mich Erwähnung gethan, die für meine Zwecke paßt, und ich bin dann in der Lage, sie ohne alles Weitere fortzuschicken. Werden Fragen an mich gestellt, so lasse ich einen Wink über eine kleine Ungebühr in ihrem Betragen fallen.‹

»›Und zwar mit Fug und Recht,‹ erwiederte Mrs. Germane. ›Wäre es aber nicht besser, man deutete schon vorläufig etwas dergleichen an, um die Leute darauf vorzubereiten?‹

»›Vielleicht ist's gut; aber benehmt Euch vorsichtig dabei – ja recht vorsichtig, meine liebe Mrs. Germane.‹

»Mademoiselle de Chatenœuf, es thut mir leid, daß mich mein Pflichtgefühl gegen Euch zwingt, meine Mamma bloßzustellen,« sagte Amy, indem sie von ihrem Stuhle aufstand; »aber ich bin überzeugt, daß Ihr Euch keiner Ungebühr schuldig machen konntet, und werde nicht zugeben, daß man Euch etwas derart zur Last lege, wenn ich es hindern kann.«

»Vielen Dank, meine theure Amy,« versetzte ich, »Ihr habt als eine wahre Freundin gegen mich gehandelt. Indeß liegt es mir jetzt ob, Euch über die Beschuldigung einer angeblichen Ungebühr aufzuklären, damit Ihr nicht glaubet, es könne mir mit Recht ein solcher Vorwurf gemacht werden. Es ist wahr, daß die Kammerjungfer Eurer Mutter ins Zimmer trat, als sich eben ein junger Mensch von siebenzehn Jahren bei mir befand, der mir seinen Dank für mein Interesse an seiner Wohlfahrt ausdrückte und, als er sich von mir verabschiedete, meine Hand zu seinen Lippen erhob, um sie zu küssen. Wäre nun auch Eure Frau Mutter selbst zugegen gewesen, so hätte ich es nicht hindern können. Dies war der Kuß, welcher nach der Versicherung der Lady M– zwischen uns fiel – dies die ganze Ungebühr, welche stattfand. Oh, was ist doch dies für eine traurige, tückische, selbstsüchtige, boshafte Welt!« rief ich, indem ich mich auf den Sopha niederwarf und in Thränen ausbrach.

Amy gab sich alle Mühe, mich zu trösten und machte sich noch die bittersten Vorwürfe über ihre Mittheilung, als Lady M– die Treppe herunter und ins Zimmer kam.

»Was soll dies? – welche Scene!« rief sie. »Mademoiselle de Chatenœuf, sind Euch schlimme Neuigkeiten zugegangen?«

»Ja, gnädige Frau,« antwortete ich; »so schlimme, daß ich mich in die Notwendigkeit versetzt sehe, Euch sogleich zu verlassen.«

»Wirklich? Und darf ich fragen, was vorgefallen ist?«

»Nein, gnädige Frau; ich bin nicht in der Lage, hierauf zu antworten. Indeß wiederhole ich, daß ich, mit Eurer Erlaubniß, morgen früh Euer Haus verlassen muß.«

»Gut, Mademoiselle,« versetzte die gnädige Frau, »es ist mir nicht darum zu thun, mich in Eure Geheimnisse einzudringen; aber so viel muß ich sagen, daß wohl etwas Unrechtes um den Weg sein wird, wo man so heimlich thut. Freilich habe ich in letzter Zeit so mancherlei Entdeckungen gemacht, daß ich mich eben sowenig darüber wundere, als über Euren Wunsch, mich zu verlassen.«

»Lady M–,« entgegnete ich mit Stolz, »so lange ich unter Eurem Dache war, habe ich mir nie etwas zu Schulden kommen lassen, worüber ich erröthen müßte – überhaupt nie etwas gethan, was der Verheimlichung bedürfte. Dies kann ich mit Stolz behaupten. Wenn ich jetzt etwas nicht offenbar werden lassen will, so geschieht dies, um andere – ja, ich kann beifügen, Euch selbst zu schonen. Zwingt mich nicht, in der Gegenwart Eurer Tochter mehr zu sagen. Es mag genügen, wenn ich Euch andeute, daß ich jetzt weiß, warum ich in dieses Haus eingeladen wurde und mit welchem Plane Ihr Euch tragt, um mich zu entlassen, sobald es Euch gut dünkt.«

»So ist also das Horchen auch ein Theil Eures Charakters, Mademoiselle?« rief Lady M– bis an die Schläfen erröthend.

»Nein, Madame, dies ist nicht der Fall, und ich habe Euch keine andere Antwort darauf zu geben. Es möge Euch genügen, daß Ihr entlarvt seid, und ich beneide Euch ganz und gar nicht um Eure gegenwärtigen Gefühle. Ich habe Euch nur zu wiederholen, daß ich morgen früh dieses Haus verlassen und die gnädige Frau nicht weiter mit meiner Gesellschaft belästigen werde.«

Mit diesen Worten verließ ich das Zimmer. Als ich an Lady M– vorbeikam, las ich in ihrem Gesicht Verwirrung und Aerger – ja, mein Inneres sagte mir, daß sie die Gedemüthigte sei, nicht ich. Sobald ich in meinem Gemach angelangt war, traf ich sogleich Anstalten zum schleunigsten Auszug, und ich war noch keine Stunde mit dem Einpacken meiner Habseligkeiten beschäftigt, als Amy zu mir hereinkam.

»O Valerie, wie tief bin ich bekümmert – aber Ihr habt Euch benommen, wie Ihr meiner Ansicht nach nicht anders konntet, und ich danke Euch für Eure Güte, daß Ihr mich nicht verriethet. Ihr waret kaum fort, als meine Mutter im größten Zorn aufbrauste; sie sagte, die Mädchen müßten gehorcht haben, und sie wolle alle mit einander fortjagen. Nun, ich weiß wohl, daß sie es nicht so weit treiben wird. Sie sprach von Eurer Zusammenkunft mit einem jungen Mann und einem gegebenen Kuß; aber hierüber habt Ihr mir ja bereits eine Erklärung gegeben.«

»Wenn ich das Haus verlassen habe, Amy,« versetzte ich, »so erseht eine Gelegenheit, Lady M– zu sagen, daß Ihr mir dies mitgetheilt hättet; meine Antwort darauf sei gewesen – wenn Lady M– wüßte, wer dieser junge Mann wäre, in welchen Verbindungen er stünde und welches große Vermögen er als Erbe anzutreten hätte, so würde sie sich glücklich schätzen, Zeuge sein zu können von seinem Handkuß an eine von ihren Töchtern, vorausgesetzt, daß er denselben mit einem anderen Gefühl gäbe, als das war, mit welchem er mir die Hand küßte.«

»Dies soll geschehen, verlaßt Euch darauf,« sagte Amy. »Und dann wird Mamma denken, sie habe durch ihr Benehmen einen auserlesenen Gatten für mich verscherzt.«

»Sie wird ihm wohl nächster Tage begegnen,« versetzte ich – »und was noch mehr ist, er wird mich gegen jeden Angriff, der um deswillen auf mich gemacht wird, beschützen.«

»Auch dies soll sie erfahren,« sagte Amy. »Sie wird deshalb ihre Zunge hüten.«

Eines von den Dienstmädchen klopfte jetzt an die Thüre und brachte die Meldung, daß Lady M– nach Miß Amy verlangt habe.

»So wollen wir jetzt Abschied von einander nehmen,« sagte ich, »denn es könnte Euch verboten werden, noch einmal mit mir zusammenzukommen.«

Das liebe Mädchen umarmte mich auf's Herzlichste und verließ mit Thränen in den Augen das Zimmer. Ich machte mit Einpacken fort, bis ich fertig war, und setzte mich dann nieder. Bald darauf kam die Kammerjungfer der Lady herein und überlieferte mir ein Paket, in welchem mein Salär eingeschlossen war, während die Dame selbst noch auf dem Umschlage mir ihr Compliment vermeldete.

Ich bekam an jenem Abend weder sie noch ihre Tochter mehr zu Gesicht. Nachdem ich mich zu Bette gelegt hatte, stellte ich wie früher, wenn mir eine Veränderung bevorstand, Erwägungen an über die Schritte, die ich jetzt einschlagen mußte. Gegen die erlittene Behandlung war ich jetzt bis zu einem gewissen Grade abgehärtet geworden und sie verwundete mich nicht mehr so tief, wie in der Zeit, als ich die erste Lehre erhielt, was ich auf meinem Gange durchs Leben durch die Selbstsucht und Herzlosigkeit der Welt zu erwarten hätte. Aber in dem vorliegenden Fall erhob sich eine Schwierigkeit, die früher nicht stattgefunden hatte – ich mußte ausziehen, ohne zu wissen, wohin ich gehen sollte. Nach einigem Nachdenken faßte ich den Entschluß, Madame Gironac aufzusuchen und zu sehen, ob sie mich nicht aufnehmen könne, bis ich mich für einen künftigen Plan entschieden hätte.

Meine Gedanken gingen dann auf andere Gegenstände über. Ich erinnerte mich an die Bestellung Lionels und des Sachwalters nach Backerstreet und beschloß, am andern Morgen früh mich mit meinem Gepäcke nach Lady R–'s Hause zu begeben, wo ich meine Habseligkeiten der Obhut der Köchin überlassen konnte, welche noch immer daselbst wohnte. Auch berechnete ich die Geldsumme, die schon jetzt in meinem Besitz war und mir noch in Aussicht stand. Als ich mit Madame Bathurst nach England herüberkam, hatte ich einen so großen Kleidervorrath mitgebracht, daß ich in dieser Beziehung während meines nun mehr als zweijährigen Aufenthalts auf der brittischen Insel mit keinem weiteren Aufwand belastet worden war, wie ich denn überhaupt von dem mitgenommenen Gelde nicht mehr als zwanzig Pfund ausgegeben hatte. Hiezu kamen noch einige Geschenke von Lady M– und Madame Bathurst, von Lady R– aber sehr viele; und so brachte ich nach meiner Berechnung ungefähr zweihundert und sechzig Pfund zusammen, über die ich augenblicklich verfügen konnte, denn Lady R– hatte mir für die kurze Zeit meines Aufenthalts bei ihr einen ganzen Jahresgehalt im Betrag von hundert Pfunden ausbezahlt. Außerdem besaß ich noch die fünfhundert Pfund, welche mir Lady R– vermacht hat, nebst ihrer Garderobe und ihren Kleinodien, die, wie ich wußte, sehr werthvoll waren. Dies konnte man für meine Stellung wohl ein kleines Vermögen nennen, und ich beschloß, mir bei Mr. Selwyn über die beste Art, es anzulegen, Raths zu erholen. Nachdem ich so meine Betrachtungen mit dem angenehmsten Theil derselben abgeschlossen hatte, schlief ich ein, um am andern Morgen mit neuen Kräften zu erwachen.

Lady M–'s Kammermädchen, das mir sehr zugethan war, weil ich sie Manches gelehrt hatte, was einer Person in ihrer Stellung sehr zu statten kommen mußte, besuchte mich in aller Frühe und drückte mir ihr Bedauern über meinen Austritt aus. Ich entgegnete ihr, daß ich das Haus so bald wie möglich zu verlassen wünsche, und bat sie, mir ein Frühstück zu bringen. Sie entsprach diesem meinem Gesuche.

Ich war mit meinem Mahle noch nicht fertig, als Amy erschien und mich folgendermaßen anredete:

»Ich habe die Erlaubniß erhalten, noch einmal zu Euch zu kommen und Euch Lebewohl zu sagen, Valerie. Mamma weiß jetzt, was Ihr mir von der Person sagtet, die man Euch die Hand küssen sah. Sie gab zu, daß es sich in der That nur um einen Handkuß handelte, und gerieth in das größte Erstaunen, weil sie weiß, daß Ihr Euch nie mit Unwahrheiten abgabet. Aber denkt Euch nur – sie verlangt jetzt von mir, daß ich den Namen des jungen Gentleman zu erfahren suche, der ein so großes Vermögen hat. Ich versprach ihr, zu thun, was ich könne, und erfülle nunmehr meine Zusage dadurch, daß ich mit Umgehung aller anderen Mittel Euch offen darum befrage. Ich für meine Person will den Namen nicht wissen,« fuhr sie lachend fort; »aber ich bin überzeugt, Mamma faßt ihn schon als meinen künftigen Gatten in's Auge und würde eine Welt darum geben, wenn Ihr im Hause bliebet, damit er durch Euch ihr vorgestellt werden könnte.«

»Ich bin nicht in der Lage, Euch diese Mittheilung zu machen, meine Liebe,« versetzte ich, »und wie gerne ich Euch auch eine solche Gefälligkeit erwiese, muß ich doch vorläufig darüber Schweigen bewahren. Ich bin jetzt im Begriffe zu scheiden. Gott behüte Euch, meine Liebe, und möget Ihr stets das offene, liebenswürdige Wesen bleiben, das Ihr jetzt seid. Ich verlasse Euch mit schmerzlichen Gefühlen und werde mit Innigkeit für Euer Glück beten. Ihr habt mir eine große Freude durch die Mittheilung bereitet, daß Eure Mamma gegen Euch anerkannte, wie bei jener Gelegenheit nur ein Handkuß stattfand; denn jetzt wird sie es kaum wagen, mich in der Weise zu kränken, wie sie sich vorgenommen hatte.«

»Oh nein, Valerie, denn ich denke, die Furcht hält sie jetzt ab davon. Dieser reiche junge Mann hat ihren Sinn ganz und gar geändert. Er würde Euch natürlich gegen jede Verläumdung schützen und sie bloßstellen, wenn sie sich so weit vergäße. So lebt denn wohl!«

Nachdem wir uns umarmt hatten, ertheilte ich die Weisung, eine Miethkutsche herbeizuholen, und fuhr mit meinem Gepäcke nach Backerstreet. Die Köchin hieß mich willkommen und sagte mir, daß sie mich erwartet habe, denn Mr. Selwyn sei bei ihr gewesen, um sie von Lady R–'s Tode zu unterrichten; als sie nun fragte, an wen sie sich wegen ihres Lohnes zu wenden habe, erhielt sie die Antwort, daß ich mit Bereinigung sämmtlicher Angelegenheiten der Lady beauftragt und Alles mir anheimgegeben sei. Sie zeigte mir einen Brief von Martha, Lady R–'s Kammermädchen, aus welchem ich entnahm, daß sie wahrscheinlich noch am nämlichen Tage mit allen Effekten der Lady in Backerstreet eintreffen werde.

»Ich denke wohl, daß Ihr hier Eure Herberge nehmen werdet, Miß?« sagte die Köchin. »Ich habe Euer Bett gelüftet, und Ihr werdet Euer Zimmer in bester Ordnung finden.«

Ich entgegnete ihr, daß ich wohl für ein Paar Nächte hier bleiben werde, weil mir so Mancherlei zur Besorgung anheimfalle; indeß wolle ich noch über diesen Gegenstand mit Mr. Selwyn Rücksprache nehmen, der um ein Uhr eintreffen werde.

Lionel hatte ich ersucht, sich um zwölf Uhr einzufinden, damit ich ihn noch von Mr. Selwyn's Ankunft über den Inhalt des Schreibens, welches Lady R– mir zurückgelassen, unterrichten könnte. Er hielt die Zeit sehr pünktlich ein, und ich hieß ihn mit einem Händedruck willkommen.

»Ich wünsche Euch Glück, Lionel,« begann ich gegen ihn, »denn es liegen jetzt die Beweise vor, daß Ihr ein Neffe der Lady R– seid; auch hat sie Euch ein schönes Vermögen hinterlassen! Ihr werdet Euch wundern, wenn Ihr hört, daß ich zur Vollstreckerin ihres Testaments ernannt wurde.«

»Nein, dies überrascht mich ganz und gar nicht,« versetzte Lionel. »Jedenfalls ist diese letzte Handlung von ihr eine kluge gewesen.«

»Davon bin ich nicht überzeugt,« entgegnete ich, »obschon ich Euer Compliment zu würdigen weiß. Wir dürfen übrigens keine Zeit verlieren, Lionel; denn um Ein Uhr soll Mr. Selwyn, der Sachwalter eintreffen, und ich wünsche noch vor seiner Ankunft mit Euch Lady R–'s Bekenntniß – wenn ich es so nennen darf – durchzugehen, da Ihr daraus die Beweggründe Ihres Verhaltens gegen Euch entnehmen werdet. Leider ist es nicht geeignet, ihr Betragen in einem milderen Lichte erscheinen zu lassen; aber Ihr müßt bedenken, daß sie nun alle Vergütung geleistet hat, die in ihren Kräften lag, und wir sind angewiesen, zu vergeben, wie wir selbst auf Verzeihung hoffen. Setzt Euch und lest diese Papiere, während ich droben einige von meinen Koffern auspacke.«

»Als wir das letzte Mal hier beisammen waren, habe ich sie mit Stricken zugeschnürt, Miß Valerie; ich hoffe, Ihr werdet mir auch jetzt gestatten, Euch Beistand zu leisten.«

»Ich danke Euch; aber Ihr habt ja sonst keine Zeit, mit den Aufklärungen der Lady R– fertig zu werden, und ich kann mit der Köchin auch ohne Euch dieses Geschäft zu Ende bringen.«

Ich verließ nun das Zimmer und begab mich die Treppe hinauf, wo ich noch immer mit meinem Gepäcke beschäftigt war, als ein Klopfer an die Hausthüre die Ankunft des Mr. Selwyn verkündigte. Ich ging deshalb nach dem Besuchzimmer hinunter, um ihn zu empfangen.

Lionel ging in dem Gemach hin und her, und ich fragte ihn, ob er mit den Papieren zu Ende gekommen sei; seine Antwort bestand in einem Kopfnicken. Der arme Jüngling sah sehr trostlos aus; da aber Mr. Selwyn eintrat, so konnte ich nicht weiter mit ihm sprechen.

»Ich hoffe, ich habe Euch nicht warten lassen, Mademoiselle de Chatenœuf,« sagte der Rechtsgelehrte.

»Nein, gewiß nicht. Ich kam um zehn Uhr hieher, und da ich Lady M–'s Haus für immer verlassen habe, möchte ich mir wohl die Frage erlauben, ob es mir gestattet ist, für einige Tage hier meinen Aufenthalt zu nehmen.«

»Ob es Euch gestattet ist? Ei, Mademoiselle, Ihr seid ja die einzige Testamentsvollstreckerin, und vorläufig habt Ihr ausschließlich über Alles, was hier ist zu gebieten. Es steht Euch deshalb zu, hier Besitz zu ergreifen, bis der Erbe erscheint und das Testament geprüft ist.«

»Ihr habt den Helden vor Euch, Mr. Selwyn. Erlaubt mir, Euch den Mr. Lionel Dempster, den Neffen der Lady R– vorzustellen.«

Mr. Selwyn verbeugte sich gegen Lionel und wünschte ihm Glück zum Antritt seines Eigenthums.

Lionel dankte für diese Begrüßung und fuhr sodann fort:

»Mademoiselle de Chatenœuf, ich bin überzeugt, daß in dem vorliegenden Falle Mr. Selwyn von Allem, was vorgegangen ist, unterrichtet werden sollte. Das Lesen dieser Papiere hat mich etwas verstört, und es könnte nur peinlich auf mich wirken, wenn ich den Inhalt derselben wieder mit anhören müßte. Mit Eurer Erlaubniß will ich auf eine Stunde ins Freie gehen und es Euch überlassen, Mr. Selwyn eine ausführliche Mittheilung zu machen, da diese unerläßlich sein wird, wenn er uns mit seinem Rathe soll nutzen können. Hier ist das Bekenntniß des alten Roberts, das ich ihm zur Einsichtnahme zurücklassen will. Und nun – vorderhand guten Morgen.«

Mit diesen Worten griff Lionel nach seinem Hute und verließ das Zimmer.

»Er ist ein sehr einnehmender junger Mann,« bemerkte Mr. Selwyn. »Welche schöne Augen er hat!«

»Ja,« versetzte ich, »und nun ihm ein so großes Vermögen in Aussicht steht, werden auch andere einen einnehmenden jungen Mann mit schönen Augen in ihm finden. Doch laßt Euch nieder, Mr. Selwyn, denn ich habe Euch eine sehr seltsame Geschichte mitzutheilen.«

Nachdem er mit Durchlesung der Papiere fertig war, legte er sie auf den Tisch nieder und sagte:

»Dies ist vielleicht die seltsamste Geschichte, die mir während meiner dreißigjährigen Praxis zur Kunde kam. Sie hat ihn also zu einem Bedienten erzogen? Ja, jetzt erkenne ich in ihm wieder den jungen Menschen, der mir so oft die Thüre öffnete; aber ich gestehe, daß ich nimmermehr diese Entdeckung gemacht haben würde, wenn ich nicht durch Eure Mittheilung darauf geleitet worden wäre.«

»Er stand immer weit über seiner Stellung,« entgegnete ich. »Er hat viel Verstand und ist sehr unterhaltlich; wenigstens fand ich ihn so, als er mir nur in seiner dienstbaren Eigenschaft bekannt war, und ich ging viel vertrauter mit ihm um, als ich dies je einem Bedienten gegenüber für möglich gehalten hätte. Jedenfalls ist seine Erziehung nicht vernachläßigt worden.«

»Sonderbar! Sehr sonderbar!« bemerkte Mr. Selwyn. »Dies ist eine seltsame Welt! Aber ich fürchte, daß diese Geschichte kein Geheimniß bleiben kann. Bedenkt nur, Mademoiselle, daß auch das Eigenthum seines Vaters zurückgefordert werden muß, und ohne Zweifel werden wir da auf Widerstand stoßen. Ich will doch sogleich nach Doctors' Commons gehen und mir das Testament des Obristen Dempster aufsuchen lassen; denn nach dem, was der junge Mann eben gesprochen hat, muß ich doch annehmen, daß er mich mit Besorgung dieser Angelegenheit betrauen will. Und wenn es auch bekannt wird – je nun, so gibt es auf eine Woche ein Geklatsch, das ihm nichts anhaben wird; denn er beweist seine Geburt durch sein Aeußeres, und sein Benehmen ist von Natur aus so ansprechend, daß er damit alle nachtheiligen Einflüsse überwinden kann.«

»So lange ich ihn als eine dienende Person kannte, hielt ich ihn stets für einen verständigen und witzigen Jungen, obschon ich es nicht für möglich gehalten hätte, daß er sich in so kurzer Zeit in einem solchem Grade vervollkommnen würde. Nicht nur sein Benehmen, sondern auch seine Sprache ist ganz anders geworden.«

»Es lag in ihm,« versetzte Mr. Selwyn. »Bei einem Bedienten wäre das Benehmen und die Sprache eines Gentleman am unrechten Platze gewesen, und deshalb versuchte er sich auch nicht darin; nun er aber seine Stellung kennt, sind die in ihm verborgenen Eigenschaften ans Licht getreten. Wir müssen jetzt diese Mrs. Green aufsuchen und sobald als möglich ihr Zeugniß beischaffen. Nach dem Bekenntniß des alten Roberts wird es natürlich Sir Thomas Moystyn nicht überraschen, wenn ich ihm den Inhalt von Lady R–'s Papieren und die Art, wie sie über ihr Eigenthum verfügt hat, mittheile. In der That wird die einzige Schwierigkeit nur in der Wiedererringung seines väterlichen Vermögens liegen, denn Obrist Dempster –«

Ein Klopfen an die Hausthüre kündigte die Rückkehr Lionels an. Als er in das Zimmer trat, sagte Mr. Selwyn zu ihm –

»Mr. Dempster, meiner Ansicht nach ist es zur Genüge bewiesen, daß Ihr der Neffe der Lady R– seid, welchem sie nicht nur ihr eigenes Vermögen, sondern auch das, was vornweg von Rechts wegen Euch gehört, vermacht hat. Mit Eurer Erlaubniß will ich Euch daher das Testament der gnädigen Frau vorlesen.«

Lionel nahm einen Sitz, und das Testament wurde verlesen. Nachdem dies geschehen war, sagte Mr. Selwyn –

»Da ich seit vielen Jahren die Rechtsangelegenheiten der Lady R– besorge, so bin ich in der Lage, bis auf eine Kleinigkeit hin Euch zu sagen, wieviel Euer Erbe betragen wird. Es sind sieben und fünfzig tausend Pfund in dreiprocentigen Staatspapieren vorhanden; dann dieses Haus sammt Möblirung, welches ich für sie erstand und das nur noch mit einer vierzigjährigen Grundrente belastet ist; auch liegen noch zwölfhundert Pfund bei ihrem Bankier. Von dem Eigenthum Eures Vaters, Mr. Dempster, weiß ich natürlich nichts; aber ich will morgen in Doctors' Commons Erkundigung über diesen Punkt einziehen. Ich glaube es verantworten zu können, wenn ich der Testamentsvollstreckerin die Versicherung gebe, sie wage nichts durch die Erlaubniß an Euch, von dem bei dem Bankier noch vorräthigen Geld eine beliebige Summe zu ziehen, sobald das Testament geprüft ist. Dieses soll denn auch schon morgen geschehen, wenn es anders Mademoiselle de Chatenœuf gelegen ist.«

»Gewiß,« entgegnete ich, »denn ich wünsche nichts sehnlicher, als mich des mir zu Theil gewordenen Auftrags in möglichster Bälde zu entledigen und Mr. Dempster in den Besitz seines Eigenthums zu setzen. Es ist noch eine Blechkapsel mit Papieren vorhanden, Mr. Selwyn, denen ich nicht beikommen kann bis zur Rückkehr von Lady R–'s Kammermädchen; denn der Schlüssel befindet sich bei den Effekten der gnädigen Frau, welche erst mit dieser Dienerin eintreffen werden.«

»Ich zweifle nicht daran, daß sie von Wichtigkeit sind,« versetzte Mr. Selwyn. »Und nun, Mr. Dempster, wenn Ihr baaren Geldes benöthigt seid, so mache ich mir ein Vergnügen daraus, Euch als Euer Bankier zu dienen, bis Ihr über Euer Vermögen verfügen könnt.«

»Ich danke Euch Sir, bin aber vorderhand nicht in der Lage, von Eurem gütigen Erbieten Gebrauch zu machen,« erwiederte Lionel. »Gleichwohl wird es mir angenehm sein, wenn ich bald von dem Bankvorrathe etwas ziehen kann, da ich nicht die Absicht habe, in England zu bleiben.«

»Was fällt Euch ein?« rief ich.

»Mein Entschluß ist gefaßt, Mademoiselle Valerie,« sagte Lionel. »Ich kenne meine Mängel, die eine Folge der Lage sind, in welcher ich so lange erhalten wurde, nur zu gut, um nicht wünschen zu müssen, daß denselben in möglichster Bälde abgeholfen werde. Ich bin daher, ehe ich als Erbe der Lady R– öffentlich auftrete, willens, in möglichst naher Frist nach Paris zu gehen und dort zwei Jahre oder vielleicht bis zu meiner Volljährigkeit zu bleiben. Ich denke, diese Zeit wird hinreichen, um mich zu bilden und zu dem zu machen, was ich als der Sohn des Obristen Dempster sein sollte. Ich bin noch jung und wohl einer Ausbildung fähig.«

»Ich kann Euer Vorhaben nur billigen, Mr. Dempster,« bemerkte Mr. Selwyn. »Während Eurer Abwesenheit kann der ganze Proceß ins Reine gebracht werden, und wenn widerliche Dinge dabei in die Oeffentlichkeit kommen, so werden sie bei Eurer Rückkehr bereits wieder vergessen sein. Ich bin überzeugt, daß die Testamentsvollstreckerin mit Vergnügen einen so vernünftigen Plan unterstützen wird. Vorderhand will ich mich verabschieden und Mademoiselle de Chatenœuf ersuchen, morgen Nachmittag um drei Uhr in Doctors' Commons mit mir zusammen zu treffen. Dies gibt mir Zeit, mich nach dem Testamente des Obristen Dempster umzusehen. Guten Tag, Mademoiselle – guten Tag, Mr. Dempster.«

Mr. Selwyn entfernte sich und ließ uns allein.

»Darf ich Euch fragen, Miß Valerie, ob Ihr Lady M– für immer verlassen habt?«

Ich antwortete bejahend, indem ich ihm zugleich erzählte, wie es mir dort gegangen war. »Ich werde eine Nacht oder zwei hier bleiben,« fügte ich bei, »und dann zu Madame Gironac gehen.«

»Warum aber nicht lieber ganz hier bleiben? Ich hoffe, Ihr werdet dies thun. Ich trete ja ohnehin so bald als möglich meine Reise an.«

»Ihr habt hierin vollkommen recht, Lionel,« versetzte ich; »aber Ihr vergeßt, daß der Testamentsvollstreckerin die Pflicht obliegt, bis zu Eurer Volljährigkeit Euer Vermögen aufs Beste zu verwalten, und deshalb muß dieses Haus sammt der Möblirung vermiethet werden. Mr. Selwyn hat mich während Eurer Abwesenheit hierauf aufmerksam gemacht. Zudem bin ich keine reiche junge Dame, sondern in der unglücklichsten Weise abhängig von den Launen Anderer und muß mich in mein Schicksal fügen.«

Lionel schwieg eine Weile und ergriff dann folgendermaßen das Wort:

»Es freut mich von Herzen, daß Lady R– die gute Meinung, die sie von Euch hat, so unverholen bekundete, obschon ich ihr die Behandlung nicht vergeben kann, die sie meiner Mutter zu Theil werden ließ. Es war zu grausam. Doch sprechen wir lieber nicht mehr davon. Ich sehe wohl, Miß Valerie, daß Ihr allein zu sein wünscht; also guten Nachmittag, Miß Valerie.«

»Auf Wiedersehen, Lionel,« versetzte ich. »Beiläufig, hat die Köchin Euch erkannt?«

»Ja, und ich sagte ihr, daß ich das Dienen aufgegeben habe.«

»Ich denke, es ist am besten, Ihr kommt nicht wieder hieher, Lionel, bis ich Lady R–'s Kammermädchen entlassen habe, und dies soll am Tage nach ihrer Ankunft geschehen. Wir wollen lieber im Hause des Mr. Selwyn wieder zusammentreffen.«

Lionel war hiemit einverstanden, und wir trennten uns.

Am nächsten Tage wurde das Testament anerkannt und Mr. Selwyn theilte uns sodann mit, daß er auch den letzten Willen des Obristen Dempster aufgefunden, in welchem der Hingeschiedene, wie vorauszusetzen gewesen, all sein Eigenthum seinem ungebornen Kinde vermacht und der Wittwe nur ein jährliches Leibgeding ausgeworfen habe. Weil man nun von Lionels Vorhandensein nichts wußte, hatte der nächste Verwandte, ein Gentleman von großem Vermögen und anerkannt ehrenwerthem Charakter das Erbe für sich in Anspruch genommen. Mr. Selwyn hatte die Absicht, unverweilt mit demselben sich zu benehmen. Die Testamentssporteln und sonstige Gebühren hatten einen großen Theil der in der Bank liegenden zwölfhundert Pfunden aufgesaugt; indeß blieb immer noch genug übrig, um Lionels Bedürfnisse für ein Jahr zu bestreiten, im Falle er sogleich nach Paris zu reisen gedachte, und da außerdem nach Ablauf eines Monats Capitalzinsen flüssig werden mußten, so erhob sich gegen die Ausführung dieses Planes durchaus keine Schwierigkeit. Mr. Selwyn setzte uns dies auseinander, während wir mit ihm nach seinem Geschäftslokale fuhren, wo ich seiner Aufforderung gemäß einige Papiere unterzeichnete und Lionel eine Anweisung an die Bank erhielt. Auch ließ ich dem Bankier durch Mr. Selwyn den Auftrag zugehen, in Zukunft die Tratten meines Pfleglings zu honoriren.

Nachdem alle diese Angelegenheiten bereinigt waren, erklärte Lionel seine Absicht, unverweilt nach Paris aufzubrechen. Er wollte noch am nämlichen Nachmittag sich seinen Paß ausstellen lassen, da es noch nicht zu spät war, sich anzumelden, und versprach mir, am andern Nachmittag mit mir zusammenzutreffen, um mir Lebewohl zu sagen. Dann verabschiedete er sich und ließ mich bei Mr. Selwyn zurück, mit welchem ich mich noch lange besprach und dabei auch meine eigenen Angelegenheiten berührte, indem ich ihm mittheilte, daß ich außer dem Legate der Lady R– auch einiges eigene Geld besitze, das ich sicher unterzubringen wünsche. Er empfahl mir, meine kleine Habe einem Bankier zu übergeben, und sobald ich die Vermächtnißsumme ausbezahlt erhalten habe, wolle er mir für eine gute Hypothek besorgt sein. Dann hob er mich in eine Kutsche und verabschiedete sich von mir mit dem Versprechen, übermorgen Nachmittag um drei Uhr mich zu besuchen, da mittlerweile Lady R–'s Kammermädchen eingetroffen sein werde; ich solle dann zuerst die Blechkapsel zu Händen nehmen, da ihm sehr viel daran gelegen sei, den Inhalt der darin befindlichen Papiere zu untersuchen.

Bei meiner Rückkehr nach Backerstreet fand ich, daß das Kammermädchen der gnädigen Frau bereits angelangt war, und säumte daher natürlich nicht, von Allem Besitz zu nehmen. Nachdem ich ihr den rückständigen Lohn ausbezahlt, und sie ihrer Dienste entlassen hatte, gab ich ihr die Erlaubniß, daß sie die nächste Nacht noch im Hause bleiben könne, und versprach ihr ein gutes Zeugniß. Dieses Verfahren mochte ihr wohl als ein ziemlich summarisches vorkommen, aber es war mir darum zu thun, daß sie Lionels nicht ansichtig werden sollte, weshalb ich erklärte, daß ich als Testamentsvollstreckerin für allen Aufwand verantwortlich und daher nicht befugt sei, sie auch nur einen Tag länger beizubehalten, als die Noth erfordere. Da ich jetzt die Schlüssel hatte, so konnte ich Alles untersuchen. Zuerst sah ich mich nach der Blechkapsel um, welche verschiedene Papiere, darunter auch ein Paket mit der Ueberschrift enthielt: »Briefschaften, meine Schwester Ellen und ihr Kind betreffend.« Um nicht als neugierig zu erscheinen, legte ich Alles bei Seite, damit Mr. Selwyn bei der Eröffnung zugegen sein könne, und schickte dann die Köchin mit einem Billet an Madame Gironac, welche ich ersuchte, sie möchte ihren Abend bei mir zubringen, da ich ihr viel mitzutheilen habe. Ich fühlte mich in der That sehr einsam in dem großen Hause und verlangte daher nach einer aufrichtigen Freundin, mit welcher ich sprechen konnte.

In Ermangelung eines besseren Geschäfts öffnete ich die verschiedenen Kommoden und Schränke, welche die Garderobe u. s. w. der Lady R– enthielten, und fand bei dieser Gelegenheit eine solche Menge von Sachen, daß ich ganz erstaunt wurde. In ihrer launenhaften Art hatte sie oft Seidenstoffe und Kleinodien gekauft, die sie nie benützte, sondern sogleich wieder auf die Seite warf. Es waren mehr Kleiderzeuge vorhanden, als bereits fertige Kleider, ja, die ersteren überstiegen die letzteren fast um das Doppelte. So fand ich einen Bündel Blonden, darunter welche von großer Schönheit, die wahrscheinlich ihrer Mutter gehört hatten, und außerdem noch Spitzen in Menge. Nach Frankreich hatte sie nicht viele Juwelen, nur diejenigen, welche sie gewöhnlich trug, mitgenommen, dagegen wußte ich, daß sie ihre Diamanten und alle ihre Kostbarkeiten einige Tage vor ihrer Abreise ihrem Bankier zugeschickt hatte, und ich hielt es für räthlich, zuvor Mr. Selwyn's Besuch abzuwarten, eh' ich sie in Anspruch nahm.

Madame Gironac entsprach meiner Einladung, und ich erzählte ihr nun Alles, was vorgefallen war. Sie freute sich sehr über mein gutes Glück und sagte zu mir, sie hoffe, ich werde jetzt kommen und bei ihr wohnen, da ich ja die Mittel besitze, zu leben, ohne mich den Launen anderer Leute auszusetzen. Ich konnte ihr jedoch noch keine Antwort geben, bis ich wußte, wie hoch sich mein Eigenthum belaufen mochte. Indeß versprach ich ihr doch, zu ihr zu kommen, sobald ich in Backerstreet meine Geschäfte zu Ende gebracht hätte, und dann war es ja immer noch Zeit, mich über meine künftigen Schritte zu entscheiden.

Nach einer langen Unterhaltung, bei welcher Madame Gironac ihr ganzes früheres lebhaftes Wesen entfaltete, trennten wir uns unter der Zusage von ihrer Seite, daß sie den ganzen andern Tag bei mir zubringen wolle, um mir in Musterung von Lady R–'s Garderobe an die Hand zu gehen. Schon im Laufe des Nachmittags hatte ich viele Kleider der gnädigen Frau ausgelesen und einige davon, die nicht nach meinem Geschmack oder schon viel getragen waren, bei Seite gelegt, um am andern Morgen dem Kammermädchen vor dessen Abgange ein Geschenk damit zu machen. Sie hatte eine große Freude darüber, weil sie wußte, daß die gnädige Frau ihre ganze Garderobe mir vermacht hatte und sie demnach auf keinen Antheil daran rechnen durfte; indeß waren die Kommoden und Schränke so gut gefüllt, daß ich wohl ein wenig freigebig sein konnte. Madame Gironac stellte sich am andern Morgen zum Frühstück ein. Ihr Gatte, der sehr erfreut war, mich wieder zu sehen, kam mit ihr und stürzte, nachdem sie in ihrer Art eine Weile mit einander gezankt hatten, mit der Erklärung wieder zum Zimmer hinaus, daß ihm das garstige kleine Geschöpf nur nie mehr vor Augen kommen solle.

»Oh, Monsieur Gironac,« rief ich ihm nach, »Ihr vergeßt, daß Ihr mir versprochen habt, hier Euer Mittagmahl einzunehmen.«

»Nun ja, dies ist freilich wahr. Mademoiselle Valerie, dieses Versprechen hat eine Scheidung verhindert.«

»Es ist ein großes Unglück, daß Ihr ihn eingeladen habt, Mademoiselle Valerie,« sagte die kleine Frau, »denn dadurch werden alle meine Hoffnungen zerstört. Gott befohlen, Monsieur Gironac, und dankt dem Himmel, daß er Euch abhielt, eine Thorheit zu begehen. Doch jetzt fort mit Euch – wir haben zu thun und können Euch nicht brauchen.«

»Ich will gehen, Madame – aber hört mich,« entgegnete Monsieur Gironac mit komischer Feierlichkeit, »so wahr ich lebe, auf Nimmerwiedersehen – bis zur Essenszeit.«

Dann stürmte er fort, und wir giengen ans Werk, um meine Erbstücke zu sortiren und zu ordnen. Madame Gironac, die sich auf solche Dinge verstand, schätzte die Blonden zu wenigstens zweihundert Pfund, während sie die übrigen Gegenstände, die Seidenstoffe u. s. w. nebst den Kleidern und Spitzen auf weitere hundert Pfunde anschlug. Sie erbot sich, die nicht verarbeiteten Spitzen und Seidenzeuge für mich zu verkaufen, da sie dafür schon Liebhaber finden werde; die Kleider und Putzgegenstände aber, sagte sie, solle ich an eine Bekannte von ihr verkaufen, die sich durch Restauration solcher Dinge ihren Unterhalt erwerbe.

Wir waren noch in diesem Geschäfte begriffen, als Lionel eintraf. Er hatte seinen Paß erhalten und war gekommen, um mir Lebewohl zu sagen. Als er sich zur Verabschiedung erhob, redete er mich mit den Worten an:

»Miß Valerie, ich vermag kaum meine Gefühle gegen Euch auszusprechen. Eure Güte gegen mich, als ich noch ein geringer Dienstmann war, und Eure Theilnahme an Allem, was mich betraf, haben mir den innigsten Dank eingeflößt; aber ich fühle noch mehr. Ihr seid allerdings viel zu jung, um meine Mutter zu sein, aber doch berge ich in meiner Seele gegen Euch die Verehrung eines Sohnes, und wenn ich es wagen darf, mich dieses Ausdrucks zu bedienen, so fühle ich mich zu Euch hingezogen, wie ein Bruder zu einer theuren Schwester.«

»Eure Worte sind für mich sehr schmeichelhaft, Lionel,« versetzte ich. »Eure Stellung ist jetzt, oder doch schon in Bälde viel höher, als die meinige je sein wird, und daß Ihr um der Freundlichkeit willen, die ich Euch erwies, solche Gefühle gegen mich hegt, macht Eurem Herzen alle Ehre. Habt Ihr auch Empfehlungsbriefe nach Paris? Doch wie mag ich fragen, während ich weiß, daß dies nicht wohl der Fall sein kann!«

»Nein, damit bin ich nicht versehen,« entgegnete er. »Ich hoffe wohl, gelegentlich dazu zu kommen; aber wie wäre dies jetzt möglich?«

Ein Gedanke kam mir.

»Ihr kennt meine Geschichte nicht, Lionel,« sagte ich; »aber ich war einmal sehr vertraut mit einer Dame in Paris, und obgleich wir nicht in der besten Freundschaft von einander kamen, hat sie doch seit dem sehr freundlich an mich geschrieben; auch habe ich allen Grund zu glauben, daß es ihr ernst damit war. Ich will Euch ein Empfehlungsschreiben an sie mitgeben; Ihr müßt es mir aber nicht zum Vorwurf machen, wenn ich mich zum zweitenmal in ihr getäuscht hätte.«

Ich begab mich an den Tisch und schrieb den nachstehenden kurzen Brief –

 

»Meine liebe Madame d'Albret!

»Der Ueberbringer dieses Schreibens ist Mr. Lionel Dempster, ein junger Engländer von Vermögen und ein guter Freund von mir. Er reist zum Zwecke seiner Ausbildung nach Paris und will daselbst bis zu seiner Volljährigkeit bleiben. Ich gebe ihm dieses Empfehlungsschreiben an Euch aus einem doppelten Grunde mit – einmal, weil ich Euch beweisen möchte, daß ich, wenn mir es auch meine Gefühle nicht gestatteten, auf Euer letztes freundliches Anerbieten einzugehen, längst jedes kleine Unrecht, das Ihr mir zugefügt, längst vergeben und vergessen habe; und zweitens, weil ich überzeugt bin, daß er aus Euren Gesellschaften mehr Vortheil ziehen wird, als aus irgend einer anderen in Paris.

Mit Achtung
die Eurige
Valerie de Chatenœuf.«

 

»So, Lionel; dies kann Euch von Nutzen werden. Ist es nicht der Fall, so schreibt mir und laßt mich's wissen. Ihr werdet mir natürlich hin und wieder Nachricht von Euch geben?«

»Möge Euch der Himmel bewahren, Miß Valerie,« versetzte Lionel. »Mit Sehnsucht sehe ich der Zeit entgegen, welche mich in die Lage setzt, Euch meine Dankbarkeit zu beweisen.«

Thränen rollten ihm über die Wangen, während er mir die Hand küßte. Dann verließ er das Zimmer.

»Er ist ein bezaubernder junger Mann,« bemerkte Madame Gironac, sobald sich die Thüre hinter ihm geschlossen hatte.

»In meiner guten Meinung nimmt er jedenfalls eine hohe Stufe ein,« versetzte ich, »und ich wünsche nichts sehnlicher, als daß es ihm gut gehen möge. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß ich es über mich gewinnen könnte, je wieder an Madame d'Albret zu schreiben; aber ihm zu lieb habe ich meinen Widerwillen überwunden. Ich höre Monsieur Gironac klopfen. Nun, was wird es jetzt geben – neuen Zank, oder eine Versöhnung?«

»Oh, die Versöhnung muß vorausgehen – dann kömmt wieder der Zank; dies ist die hergebrachte Regel.«

Monsieur Gironac schloß sich uns bald an, und wir verbrachten einen sehr heitern Abend; auch trafen wir die Verabredung, daß ich nach drei Tagen in ihre Wohnung einziehen sollte.

Am andern Tag besuchte mich Mr. Selwyn zu der anberaumten Zeit, und ich händigte ihm die Blechkapsel mit den darin enthaltenen Papieren ein. Er sagte mir, daß er bei Mrs. Green gewesen sei und von ihr eine völlige Bekräftigung der Angaben erhalten habe, welche bereits von Lady R– und dem alten Roberts vorlägen. Auch an Mr. Armiger Dempster, an den das Eigentum von Lionels Vater gekommen war, hatte er geschrieben.

Ich theilte ihm dann mit, daß ich mit ihm nach der Bank zu gehen wünsche, um daselbst meine kleine Baarschaft nieder zu legen und die mir vermachten Juwelen der Lady R– in Empfang zu nehmen, welche dem Bankier zur Aufbewahrung übergeben worden waren.

»Ihr hättet dieses Ansuchen zu keiner gelegeneren Zeit an mich stellen können,« sagte Mr. Selwyn. »Mein Wagen steht vor der Thüre. Ich werde mir ein Vergnügen daraus machen, Euch hin und wieder her zu bringen. Ich bin jedoch noch anders wohin bestellt und muß deshalb so unhöflich sein, Euch um möglichst schnelle Abfertigung Eurer Toilette zu bitten.«

Dies war bald bereinigt, und eine Stunde später hatte ich nicht nur mein Geld angelegt, sondern auch meine Juwelen in Besitz genommen.

Mr. Selwyn brachte mich wieder zurück, nahm die Blechkapsel in seinen Wagen und verabschiedete sich von mir. Zuvor aber theilte ich ihm noch mit, daß ich meinen Wohnsitz bei den Gironacs aufzuschlagen gedenke, und gab ihm für den Fall, daß er meiner benöthigt war, die Adresse.

Noch am nämlichen Abend öffnete ich das Juwelenkästchen und fand es reichlich ausgestattet. Den Werth des Inhalts wußte ich natürlich nicht zu schätzen; indeß konnte ich mir doch denken, daß so viele Diamanten und Edelsteine einen hohen Preis gekostet haben mußten. Ich legte die übrigen Schmucksachen der Lady R– gleichfalls in das Kästchen und schickte mich an, mein Gepäcke zum Transport nach der Wohnung der Madame Gironac vorzubereiten, eine Aufgabe, die nicht so bald abgethan war, da ich mit meinen neuen Errungenschaften viele Koffer füllen konnte. So lange ich noch in Backerstreet blieb, wurde meine ganze Zeit davon in Anspruch genommen, und als Madame Gironac mit ihrem Gatten der gegebenen Zusage gemäß anlangte, um mich nach ihrer Wohnung zu holen, brauchte ich nur zu Unterbringung meines Gepäcks zwei Kutschen, während eine dritte das Gironac'sche Ehepaar, mich selbst und das Juwelenkästchen aufnahm. In meiner neuen Wohnung war ein heiteres Stübchen für mich zugerüstet, und während wir uns zu dem kleinen Diner niedersetzten, geschah es meinerseits mit dem frohen Gefühl, daß ich eine Heimath habe.

Madame Gironac war unermüdlich für mich besorgt und hatte bald nicht nur die Spitzen, sondern auch denjenigen Theil der Garderobe, welchen ich zu veräußern wünschte, untergebracht. Den Erlös dafür, welcher eine Summe von dreihundertundzehn Pfunden betrug, gab ich in die Hände des Bankiers. Die Verwerthung der Juwelen war eine schwierigere Angelegenheit. Ein Freund des Monsieur Gironac, der in früheren Zeiten mit solchen Gegenständen Geschäfte gemacht, hatte sie zu sechshundertunddreißig Pfunden angeschlagen; aber nach vielen vergeblichen Versuchen, sie höher anzubringen, mußte ich mich endlich mit der Summe von fünfhundertundsiebenzig Pfunden begnügen.

Mr. Selwyn hatte mich einigemale besucht, und der Betrag meines Legats war mir mit den Interessen ausbezahlt worden, so daß mir nach Abzug der Erbschaftssportel vierhundertundachtundvierzig Pfunde zufielen. Ich besaß daher im Ganzen folgende Summen:

 

Ersparnisse 230 Pfunde.
Erlös für die Garderobe und die Spitzen 310 "
Juwelen 570 "
Legat 458 "
  ____  
Gesammtbetrag 1568 Pfunde.

 

Wer hätte sich auch drei Monate früher träumen lassen, daß ich je in den Besitz einer solchen Summe kommen würde? Ich gewiß nicht.

Sobald Mr. Selwyn wußte, über welchen Betrag ich zu verfügen hatte – über fünfzehnhundert Pfund nämlich, da ich die übrigen achtundsechszig zu Bestreitung der laufenden Bedürfnisse für mich behielt – besorgte er mir eine fünfprocentige Obligation mit trefflicher Gütersicherheit; und so besaß die arme verlassene Valerie ein Jahreseinkommen von fünfundsiebenzig Pfunden.

Nachdem alles dies bereinigt war, fühlte ich eine Ruhe, wie ich sie früher nie gekannt hatte, denn ich war jetzt unabhängig. Allerdings konnte ich arbeiten, wenn ich Lust und Gelegenheit dazu hatte; aber auch ohne dies war mein Unterhalt gesichert. Da ich darauf bestand, für meinen Tisch und meine Wohnung Zahlung zu leisten, und die Gironacs wohl wußten, daß ich es erschwingen konnte, so vereinigten wir uns über ein Kostgeld von jährlichen vierzig Pfunden – von mehr wollten sie nichts hören. Oh, welch ein Balsam für das Herz ist das Bewußtsein der Unabhängigkeit, namentlich wenn man vorher eine Behandlung erfahren mußte, wie es bei mir der Fall war! Vor zwei Stellungen hatte ich nun einen unüberwindlichen Abscheu – vor der einer Gouvernante und vor der einer Putzmacherin, und ich dankte dem Himmel, daß ich nicht länger der Furcht anheimgegeben war, zu einer von diesen unseligen Beschäftigungen meine Zuflucht nehmen zu müssen. In dem ersten Monat meines Aufenthalts bei den Gironacs that ich gar nichts, denn ich wollte mich recht nach Herzenslust meiner Emancipation erfreuen; dann aber begann ich meine Angelegenheiten mit Monsieur Gironac zu besprechen, da mich dieser darauf aufmerksam machte, daß es, obschon ich jetzt die Mittel zu meinem Unterhalt besitze, doch gut sein dürfte, wenn ich sie zu vergrößern suchte, um noch gemächlicher leben zu können.

»So macht mir einen Vorschlag über das, was ich anfangen soll, Monsieur,« versetzte ich.

»Ich dächte, Ihr könntet den Beruf einer Musiklehrerin wählen und im Klavier und im Singen Unterricht ertheilen. Euer Geschäftskreis wird sich allmählig erweitern, und Ihr bleibt dabei doch stets Eure eigene Herrin.«

»Und wenn Ihr sonst nichts zu thun habt, Mademoiselle, so müßt Ihr Wachsblumen machen,« sagte Madame Gironac. »Ihr seid darin so geschickt, daß ich die Eurigen stets verkaufen kann, wenn mir die meinigen liegen bleiben.«

»Ich darf Euch nicht Euren Erwerb schmälern, Elise,« versetzte ich. »Dies wäre sehr undankbar von mir.«

»Pah – Possen – es gibt Liebhaber genug, um uns beide zu beschäftigen.«

Der Rath schien mir sehr gut zu sein, und ich beschloß, ihm Folge zu leisten. Da ich für den Augenblick nicht hinreichend Geld vorräthig hatte, um mir ein Klavier zu kaufen, und die Interessen meines Kapitals erst nach fünf Monaten flüssig wurden, so miethete ich von einem Instrumentenhändler, der ein guter Freund von Monsieur Gironac war, ein Pianoforte und übte mich jeden Tag einige Stunden. Das Glück war mir günstig, da mir aus vier verschiedenen Kanälen Beschäftigung zufloß.

Der erste und wichtigste war folgender. Ich besuchte jeden Sonntag mit Madame Gironac die katholische Kapelle In England dürfen nur die Gotteshäuser des bischöfflichen Kultes den Namen Kirchen führen; die aller übrigen Confessionsschattirungen heißen Kapellen. und schloß mich natürlich dem Gesang an. Am dritten Sonntage berührte mich einer der Geistlichen am Arm und ersuchte mich, ihm nach der Sacristei zu folgen, da er mich zu sprechen wünsche. Madame Gironac begleitete mich dahin, und der Priester hieß uns beide Platz nehmen.

»Mit wem habe ich das Vergnügen zu sprechen?« redete er mich an.

»Ich bin Mademoiselle de Chatenœuf, Sir,« lautete meine Antwort.

»Ich kenne Eure Verhältnisse nicht, Mademoiselle,« sagte er, »obschon Ihr einen in Frankreich wohlbekannten Namen führt. Aber auch Personen von der besten französischen Abkunft befinden sich hier zu Lande sehr oft nicht in den wünschenswerthesten Umständen. Mag dem nun sein, wie ihm will, so hoffe ich, daß Ihr an meinen Worten keinen Anstoß nehmt. Euer Gesang hat uns sehr wohl gefallen, und wir wünschten deshalb Eure Dienste für unsern Chor – ohne Belohnung, wenn Ihr bei Mittel seid, im entgegengesetzten Falle aber gegen gute Bezahlung.«

»Mademoiselle de Chatenœuf kann leider nicht zu den bemittelten Damen gerechnet werden, Monsieur,« nahm Madame Gironac statt meiner das Wort.

»Dann verspreche ich, daß sie für ihre Mitwirkung in unserer Kapelle eine gute Belohnung erhalten soll. Ihr willigt doch ein, uns Eure Dienste zu widmen?«

»Ich nehme keinen Anstand, Sir,« versetzte ich.

»So gestattet mir, den Chorregenten herbei zu rufen,« entgegnete der Geistliche, indem er die Sacristei verließ.

»Sagt immerhin zu, Mademoiselle Valerie,« rieth mir Madame Gironac. »Ihr gewinnt dadurch jedenfalls für Eure Musikstunden eine werthvolle Empfehlung.«

»Ich bin um so mehr mit Euch einverstanden,« versetzte ich, »da ich stets eine große Freundin von Kirchenmusik war.«

Der Geistliche kehrte mit einem Gentleman zurück, welcher mir sagte, daß er meinem Gesang mit großem Vergnügen zugehört habe; zugleich bat er mich um die Gefälligkeit, ihm eine Solopartie vorzusingen, die er mitgebracht hatte.

Da ich vom Blatt weg singen konnte, so entsprach ich seiner Aufforderung. Er war zufrieden, und es wurde nun die Uebereinkunft getroffen, daß ich mich am nächsten Sonnabend um zwölf Uhr bei einer Chorprobe einfinden solle. Am darauf folgenden Sonntag sang ich mit und hatte dabei einige Solopartieen vorzutragen. Nach dem Gottesdienst erhielt ich für meine Mitwirkung drei Guineen mit dem Bedeuten, daß ich jedesmal die gleiche Summe beziehen solle, so oft ich bei dem sonntäglichen Gottesdienst mich bei dem Chorgesang betheilige. Meine Stimme fand großen Beifall, und als es bekannt wurde, daß ich Unterricht gebe, vertrauten mir bald viele katholische Familien ihre Kinder an. Ich hielt meine Ansprüche mäßig, indem ich mir für die Unterrichtsstunde nur fünf Schillinge bezahlen ließ.

Der nächste Kanal ging durch Monsieur und Madame Gironac. Ersterer empfahl mich einem Gentleman, der selbst Unterricht bei ihm gehabt hatte, als Musiklehrerin für seine Schwestern und Töchter, während Madame Gironac mir bei all ihren verschiedenen Kunden das Wort redete. Durch ihre Bemühungen erhielt ich bald viele Zöglinge. Den dritten Weg, der mir Beschäftigung verschaffte, verdankte ich einer durch Madame Gironac herbeigeführten Bekanntschaft mit einer Mademoiselle Adèle Chabot, die von einer guten französischen Familie abstammte, aber ihren Unterhalt als Lehrerin der französischen Sprache an einer der fashionabelsten Schulen von Kensington erwerben mußte.

In Folge ihrer Empfehlung wurde mir der Musikunterricht für die jungen Damen dieser Anstalt übertragen. Ich komme später wieder auf dieses Frauenzimmer zu sprechen. Der vierte Kanal wurde mir durch die Güte des Advocaten Mr. Selwyn aufgeschlossen, zu dem ich jetzt zurückkehren muß. Nachdem ich Backerstreet verlassen, hatte mich Mr. Selwyn mehreremale besucht und bei einer dieser Gelegenheiten mir mitgetheilt, daß die Beweise über Lionel Dempsters Identität durch die Rechtsfreunde des Mr. Dempster in Yorkshire geprüft worden seien; diese Gentlemen hätten die Dokumente als so zwingend erfunden, daß der Inhaber von Obrist Dempsters Hinterlassenschaft sich ohne Weiteres zu einem Vergleich bereit erklärt habe und das Eigenthum zurückgeben wolle unter der Bedingung, daß man ihm um der vielen Kosten willen, die er auf Verbesserung der Güter verwendet, den Ersatz für die Nutznießung erlasse. Mr. Selwyn rieth, dieses Erbieten anzunehmen, da dadurch jeder Blosstellung der Lady R– begegnet und auch einer Veröffentlichung der Verhältnisse vorgebeugt werde, unter denen Lionel erzogen wurde. Auf meine Anfrage hatte mir Lionel die Rückantwort gegeben, er wolle gerne jedes Opfer bringen, damit nur seine Geschichte nicht ins Publicum komme, und so wurde denn auf Mr. Armigers Bedingung eingegangen. Lionel kam dadurch in den Besitz eines weiteren Vermögens, das ihm eine Jahresrente von neunhundert Pfunden abwarf. Da ich im Laufe dieser Verhandlungen mit Mr. Selwyn sehr vertraut geworden war, so befragte er mich auch über meine eigenen Angelegenheiten und entlockte mir bald durch die Kreuz- und Querfragen, an die er durch den Gerichtshof gewöhnt war, den besten Theil meiner Geschichte. Nur einen Punkt behielt ich für mich – den nämlich, daß meine Familie mich todt wähnte.


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