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Ich habe vorliegende Blätter einfach mit meinem Taufnamen überschrieben; denn wenn der Leser hinreichendes Interesse daran nimmt, sie bis zum Ende zu lesen, so wird er finden, welche Stellung ich jetzt, nach einem ereignisreichen Leben, behaupte. Um seine Zeit nicht über Gebühr mit vielen Einleitungsbemerkungen in Anspruch zu nehmen, will ich unverweilt mit meiner Geburt, Herkunft und Erziehung beginnen. Ich finde dies für nöthig; denn obschon vielleicht die beiden ersten Punkte beziehungsweise von geringem Belang sind, gewinnt doch der letztere eine wesentliche Bedeutung, da er den Leser auf viele Ereignisse in meinem spätern Leben vorbereitet. Außerdem möchte ich mir noch die Bemerkung erlauben, daß von Geburt und Abstammung viel abhängt und sie jedenfalls zu Vervollständigung eines Bildes gehören. Beginnen wir also mit dem Anfang.
Ich wurde in Frankreich geboren. Mein Vater, der durch den jüngern Zweig einer Familie vom besten Blut zu der ancienne noblesse von Frankreich gehörte, war ein sehr schöner Mann, der Sohn eines alten Officiers und selbst Officier in Napoleons Armee. Bei der Eroberung Italiens hatte er in Reihe und Glied mitgefochten und allmälig sich zu dem Rang eines Rittmeisters aufgeschwungen, da er fortfuhr, den Napoleonischen Feldzügen zu folgen. Der Art, wie er sich bei verschiedenen Gelegenheiten auszeichnete, verdankte er die Gunst des Kaisers und das Kreutz der Ehrenlegion; mit einem Worte, er war auf dem schönsten Wege zu einer schnellen Beförderung, als er durch einen großen Fehler selbst seinem weiteren Fortkommen Hindernisse in den Weg legte. Während seine Schwadron eine kleine deutsche Stadt an dem Fluß Erbach, Zweibrücken genannt, besetzt hielt, sah er meine Mutter und verliebte sich in sie über Hals und Kopf. Ein Ehebündniß war die Folge davon. Zur Entschuldigung mag ihm dienen, daß ich nie eine schönere Frau sah, als meine Mutter; dabei war sie sehr talentvoll und namentlich in der Musik ungemein ausgebildet, von guter Familie und mit einer keineswegs verächtlichen Mitgift versehen.
Der Leser meint vielleicht, in einem derartigen Ehebunde könne er keinen so gar großen Fehler bemerken. Nun ja, der Fehler lag nicht gerade im Heirathen, wohl aber darin, daß er seiner Gattin einen Einfluß über sich gestattete, welcher seinem ferneren Aufschwung im Wege stand. Er wollte sie bis nach Beendigung des Feldzugs bei ihren Eltern lassen; aber sie erhob Einsprache gegen diese Trennung, und er fügte sich in ihre Wünsche. Napoleon hatte allerdings nichts gegen die Verheirathung seiner Officiere einzuwenden, konnte es aber nicht leiden, wenn sie ihre Frauen in dem Heere nachschleppten, und dies war der von meinem Vater begangene Fehler, welcher ihn die Gunst seines Generals kostete. Meine Mutter war eine zu schöne Frau, um unbeachtet zu bleiben; man erkundigte sich nach ihr, und sobald die Nachricht Napoleons Ohr erreichte, war es um die Aussichten meines Vaters auf Beförderung geschehen.
Während des ersten Jahres der Ehe wurde mein ältester Bruder, August, geboren, und bald darauf stellte meine Mutter eine weitere Vermehrung der Familie in Aussicht. Mein Vater war darüber sehr erfreut; denn da er jetzt schon mehr als ein Jahr verheirathet war, mochte sich ihm bei aller Schönheit seiner Lebensgefährtin doch hin und wieder die Frage aufdrängen, ob wohl ihr Besitz auch eine hinreichende Entschädigung sei für den Verlust der durch sie verscherzten Brigade.
Um meines Vaters Freude zu erklären, muß ich den Leser von Verhältnissen unterrichten, die weniger allgemein bekannt sind. Wie schon bemerkt wurde, machte sich Napoleon nichts daraus, wenn seine Officiere heiratheten. Er brauchte Leute für seine Heere; aber weil hiezu nur Männer taugten, so hatte er eine sehr geringe Meinung von einem Ehepaar, dessen Erzeugnisse in der Mehrzahl aus Mädchen bestanden. Wenn dagegen eine Officiersfrau ihren Gatten mit sechs oder sieben Knaben beschenkte, so durfte derselbe mit Zuverlässigkeit auf eine lebenslängliche Pension zählen. Da nun meine Mutter mit dem männlichen Geschlecht den Anfang gemacht hatte und man unter solchen Umständen allgemein annimmt, es sei Aussicht vorhanden, daß es in derselben Weise fortgehen werde, so wünschten ihr die Officiere zu einer so baldigen Kundgebung weiterer Familienvergrößerung Glück und prophezeiten ihr, sie werde durch ihre Fruchtbarkeit schon nach einigen Jahren für ihren Gatten eine Pension errungen haben. Mein Vater gab der nämlichen Hoffnung Raum und meinte, wenn er auch die Brigade verloren habe, sei doch ein lebenslänglicher Jahresgehalt keine üble Entschädigung. Meine Mutter war über alle Zweifel erhaben und erklärte zuversichtlich ihre Frucht für eine männliche.
Aber Prophezeien, Hoffen und Erklären erwies sich als eine schlimme Täuschung bei meinem unglückseligen Betreten des Schauplatzes. Mein Vater wurde sehr ärgerlich, trug aber sein Leid wie ein Mann, während der Verdruß meiner Mutter sich bis zur Entrüstung steigerte. Unmuth verzehrte ihr Herz, weil ich erschienen war, um alle ihre Versicherungen Lügen zu strafen. Sie besaß eine sehr heftige Gemüthsart – eine Entdeckung, die mein Vater leider zu spät gemacht hatte. Gegen mich, als die Ursache ihrer Demüthigung und ihrer getäuschten Erwartungen, faßte sie eine Abneigung, welche sich mit meinem Heranwachsen mehr und mehr steigerte und, wie man seiner Zeit sehen wird, die Hauptveranlassung zu all den Wechselfällen meines späteren Lebens bildete.
Es ist sicherlich ein Irrthum, wenn man behauptet, kein Gefühl sei so stark, als das der Mutterliebe. Wie oft treffen wir nicht auf Beispiele, dem meinigen ähnlich, in welchen getäuschte Eitelkeit, nicht befriedigter Ehrgeiz oder eine sonstige Art von Selbstsucht diese Liebe in tödtlichen Haß umwandelten!
Mein Vater fühlte, wie unbequem es war, wenn seine Gattin ihn auf allen Eilmärschen begleiten wollte, und da hiezu vielleicht noch das Fehlschlagen seiner Hoffnungen auf die Pension kam, so rechnete er bei sich, daß es doch möglich sein dürfte, die Geneigtheit des Kaisers wieder zu gewinnen. Er machte ihr deshalb den Vorschlag, sie solle mit den beiden Kindern zu ihren Eltern zurückkehren – ein Ansinnen, dem sie, welche stets die Oberhand zu behaupten wußte, mit Entschiedenheit entgegentrat, obschon sie sich dazu verstand, mich und meinen Bruder August der Sorgfalt ihrer Eltern zu überantworten. So kamen wir nach Zweibrücken, wo wir blieben, während mein Vater dem Glückssterne des Kaisers und meine Mutter dem ihres Gatten folgte. Ich kann mich meiner mütterlichen Großeltern wenig mehr erinnern und weiß nur noch so viel, daß ich mit meinem Bruder bei ihnen blieb, bis ich sieben Jahre alt war. Um diese Zeit erbot sich die Mutter meines Vaters, für uns und unsere Erziehung zu sorgen, ein Vorschlag, welcher bereitwillig angenommen wurde, und in dessen Folge wir unseren Wohnsitz nach dem ihrigen in Lunéville verlegen mußten.
Ich sagte, die Mutter meines Vaters habe sich erboten, uns aufzunehmen; der Antrag ging nicht zugleich auch von meinem väterlichen Großvater aus, obschon derselbe noch am Leben war. Die Sache verhielt sich nämlich so, daß wir, wenn es nach seinem Willen gegangen wäre, Luneville wohl nicht zu Gesicht bekommen hätten, da ihm Kinder ganz und gar zuwider waren. Meine Großmutter hatte jedoch eigenes Vermögen, das nicht unter der Verfügung ihres Gatten stand, und setzte ihren Plan, uns kommen zu lassen, durch. Nachdem wir längst in ihrem Hause Aufnahme gefunden hatten, hörten wir den Großvater oft Vorstellungen über den Aufwand unseres Unterhalts machen, worauf sie in der Regel zu erwiedern pflegte: » Eh bien, Monsieur Chatenœuf, c'est mon argent que je dépense.«
Ich muß jetzt von Monsieur Chatenœuf eine Schilderung geben. Er war, wie bereits oben bemerkt wurde, Officier in der französischen Armee gewesen, hatte sich den Orden der Ehrenlegion errungen und bezog als verabschiedeter Major einen Ruhegehalt. Um die Zeit, als ich ihn zum erstenmal sah, war er ein großer, eleganter alter Mann mit silberweißen Haaren, und ich hörte von ihm erzählen, in seiner Jugend sei er einer der tapfersten und schönsten Officiere im Heer gewesen. Er besaß ein sehr ruhiges Wesen, sprach wenig und schnupfte viel. Seine Bequemlichkeit liebte er über alles, und eben deshalb war ihm auch der Kinderlärm so sehr verhaßt. Wir sahen ihn selten und kümmerten uns noch weniger um ihn. Da er mir, wenn ich in der Einsamkeit seines Zimmers ihn störte, in der Regel eine Tracht Schläge anbot, so vermied ich ihn wo immer möglich, denn seine Drohungen klangen nichts weniger als angenehm in meiner Erinnerung nach.
Luneville ist eine schöne Stadt im Departement de Meurthe, und das Schloß, oder vielmehr der Palast ein sehr ansehnliches, geräumiges Gebäude, in welchen ehemals die Herzoge von Lothringen ihren Hof hielten. Später wohnte hier der König Stanislaus, welcher an seinem Wohnplatze eine Kriegsschule, eine Bibliothek und ein Hospital gründete. Der Palast war ein viereckiges Gebäude mit einer schönen Front gegen die Stadt und einem Springbrunnen an der Vorderseite. Im Innern befand sich ein großer viereckiger Hof und hintenhinaus ein weiter Garten, der unter sorgfältiger Pflege stand. In dem einen Flügel wohnten die Officiere der in Luneville einquartierten Regimenter, der andere diente als Kaserne und der übrige Raum war für die Aufnahme dienstunfähiger Officiere bestimmt. In diesem schönen Gebäude nun hatten meine Großeltern für den Rest ihrer Tage einen Ruheplatz gefunden – denn in der That, mit Ausnahme der Tuillerien, kenne ich keinen Palast in Frankreich, welcher mit dem von Luneville zu vergleichen wäre, und hier hatte ich meine Wohnstätte vom siebenten Lebensjahre an, eine Periode, von welcher ich erst mein Dasein zu rechnen anfange.
Nachdem ich von meinem Großvater und meiner Wohnung eine Beschreibung gegeben habe, muß ich dem Leser auch meine Großmutter vorstellen, eine liebe, treffliche Frau, deren Andenken ich stets verehren werde, nachdem der Tod die Bande irdischer Liebe getrennt hat. Sie war etwas klein, aber trotz ihrer sechszig Jahre merkwürdig hübsch und gerade wie ein Pfeil. Nie hatte das Alter weniger Spuren zurückgelassen auf der menschlichen Form, denn so auffallend es auch erscheinen mag, war doch ihr Haar noch rabenschwarz und fiel ihr bis zu den Kniekehlen hinunter. Man betrachtete dies als eine große Merkwürdigkeit, und sie that sich nicht wenig darauf zu gut, daß auch nicht ein einziges graues Haar an ihr zu sehen war. Obgleich sie schon viele ihrer Zähne verloren hatte, war ihre Haut doch nicht runzelig, sondern besaß eine für ein solches Alter wunderbare Frische. Ihr Geist wetteiferte mit der Jugendlichkeit ihres Körpers. Sie war sehr witzig und gefallsüchtig, und die Officiere, welche in dem gleichen Gebäude wohnten, füllten stets die Gemächer der Majorsfrau, deren Gesellschaft ihnen weit lieber war, als die von jüngeren Damen. Da sie eine große Zuneigung zu Kindern hatte, so machte sie in der Regel unsere Spiele mit und setzte sich nicht selten mit unseren jungen Gefährten zum Pantoffelsuchen auf den Boden. Aber bei all' ihrer Lebhaftigkeit war sie doch eine streng sittliche und religiöse Frau, die recht wohl Nachsicht haben konnte mit Unbedachtsamkeit und Leichtsinn, eine Abweichung von der Wahrheit und Ehrlichkeit jedoch an mir und meinem Bruder aufs strengste ahndete. Ihrer Ansicht nach konnte keine Tugend bestehen neben dem Trug, den sie als ein Treibhaus betrachtete, in welchem jedes Laster üppig aufwucherte. Wahrheitsliebe erschien ihr als die Grundlage alles Edeln und Guten und jeder andere Erziehungszweig beziehungsweise als unwichtig, ja sogar als werthlos, wenn der Sinn für das Wahre fehlte. Sie hatte Recht.
Wir beide, mein Bruder und ich, wurden in die Werktagschule geschickt. Das Dienstmädchen Catharine führte mich stets nach dem Frühstück in die Schule und holte mich Nachmittags vier Uhr wieder ab. Das waren glückliche Zeiten. Mit welcher Freude kehrte ich nicht nach dem Palaste zurück, sprang in das Parterrezimmer der Großmutter, ja, um sie zu erschrecken, bisweilen sogar durch das Fenster hinein, und die alte Frau pflegte dann zu gleicher Zeit über den jungen Unband zu schmälen und zu lachen. Wie ich schon bemerkte, war meine Großmutter religiös, aber keine Frömmlerin und hatte sich zur Hauptaufgabe gemacht, in der sie unermüdlich war, mir die Liebe zur Wahrheit einzuflößen. That ich etwas Unrechtes, so machte ihr nicht so fast das begangene Vergehen, sondern vielmehr die Furcht Sorge, ich möchte es abläugnen wollen. Um dies zu verhindern, ersann sie eine seltsame Methode – sie träumte zu meinem Besten. Hatte sie mich wegen einer Verfehlung im Verdacht, so beschuldigte sie mich nicht früher, bis sie durch Nachforschungen die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß ich wirklich die Verbrecherin sei, und dann konnte sie vielleicht am andern Tage, wenn ich an ihrer Seite stand, zu mir sagen: »Valerie, ich habe in der vergangenen Nacht einen Traum gehabt, der mir nicht aus dem Kopf will. Es träumte mir, mein kleines Mädchen habe das mir gegebene Versprechen vergessen und sei in die Speisekammer gegangen, um dort ein großes Stück Kuchen zu mausen.«
Während sie nun die Einzelnheiten ihres Traumes ausspann, verwandte sie kein Auge von mir; dabei übergoß das Roth des Schuldbewußtseins mein Gesicht und meine Blicke suchten verwirrt den Boden. Ich wagte es nicht, zu ihr aufzuschauen, und wenn sie zu Ende kam, lag ich auf meinen Knieen, das Antlitz in ihrem Schooß begraben. War die Verfehlung groß, so mußte ich mein Gebet sprechen und Gott um Verzeihung anflehen, worauf ich für einige Stunden in meinem Schlafzimmer eingesperrt wurde. Catharine, das Dienstmädchen, das schon viele Jahre in der Familie war und sich deshalb viele Vorrechte herausnahm, sprach, namentlich bei solchen Anlässen, die Befugniß aus, ihre eigene Meinung kund zu thun und nach Belieben zu murren, indem sie meinte: » Toujours en prison, cette pauvre petite. Es ist zu arg, Madame; Ihr müßt sie wieder herauslassen.« Aber die Großmutter pflegte dann ruhig zu entgegnen: »Catharine, Ihr seid eine gute Person; aber Ihr versteht nichts von der Kindererziehung.« Bisweilen gelang es ihr übrigens, ihrer Gebieterin den Schlüssel abzuschwatzen, und ich wurde früher erlöst, als ursprünglich beabsichtigt war.
Diese Einsperrung war in der That für mich eine sehr schwere Strafe, da sie stets in die Abendstunden nach meiner Rückkehr aus der Schule fiel und ich dadurch um meine Spielzeit kam. In dem Schlosse wohnten viele Officiere mit ihren Gattinnen und es fehlte mir deshalb natürlich nicht an Spielgefährten. Die Mädchen pflegten sich in dem Garten hinter dem Schloße zu belustigen, wo sie Blumen sammelten und Guirlanden wanden, um dieselben an einem Seil über den Schloßhof zu ziehen. Wenn es nun dunkel wurde, so kamen die Kinder aus den verschiedenen Wohnungen mit Laternen, schufen den Hof zu einem beleuchteten Ballsaal um und tanzten bis zur Schlafengehenszeit die » ronde« oder unterhielten sich mit anderen Spielen. Das Fenster meines Schlafgemachs gieng nach dem Hofe hinaus, und wenn ich mich in Prison befand, so mußte ich zu meinem größten Herzeleid die Belustigungen mit ansehen, ohne mich dabei betheiligen zu dürfen.
Als Beispiel, welche Wirkung das Traumsystem meiner Großmutter auf mich übte, will ich einen Vorfall hier anführen. Mein Großvater besaß ungefähr anderthalb Stunden von Luneville ein Landgut, das theilweise an einen Meier verpachtet war, im Uebrigen aber für seine eigene Rechnung angebaut wurde und mit dem Ertrag unsere Hauswirthschaft versorgte. Von diesem Gut erhielten wir Milch, Butter, Käse, Früchte aller Art – kurz, jegliches Product der Landwirthschaft. Man hat in diesem Theile von Frankreich eine eigenthümliche Methode, statt des Einsalzens die Butter für den Wintergebrauch zu schmelzen und zu klären. Sie wird dadurch nicht nur erhalten, sondern viele Personen finden sie sogar schmackhafter als frische Butter; wenigstens gehörte ich unter diese, da ich eine sehr ungeordnete Vorliebe dafür besaß. In der Speisekammer befanden sich achtzehn damit angefüllte Töpfe, die der Reihe nach zur Verwendung kommen sollten. Ich wagte mich nicht an den bereits angegriffenen Topf, damit man meine Nascherei nicht merke, sondern befaßte mich mit dem letzten, welchen ich durch meinen wiederholten Zuspruch endlich fast ganz geleert hatte, als meine Großmutter hinter meine Schliche kam. Wie gewöhnlich hatte sie einen Traum. Sie begann mit Abzählung der verschiedenen Buttertöpfe, wie sie den einen öffnete und ihn voll fand, dann den andern, welcher gleichfalls gefüllt war; aber ehe sie ihren Traum bis zur Hälfte gebracht hatte, folglich noch viel im Hinterhalt lag, bis sie bei dem von mir bemauseten Topfe anlangte, lag ich vor ihr auf den Knieen und erzählte ihr aus eigenem Antrieb den Schluß ihres Traumes, da ich die Spannung bis zur beendigten Visitation aller Töpfe nicht ertragen konnte. Von dieser Zeit an legte ich in der Regel mein volles Bekenntniß ab, noch ehe die Traumerzählung zum Abschluß kam.
Als ich etwa neun Jahre zählte, ließ ich mir eine sehr schwere Vergehung zu Schulden kommen, die ich um der eigentümlichen Bestrafung willen und als eine Behandlung des Falls erzählen will, welche auch heutigen Tags noch unter ähnlichen Umständen mit Vortheil von Eltern angewendet werden könnte, denen zufällig diese Memoiren zu Gesicht kommen. Es war unter den Kindern der Officiere, welche in dem Schloß wohnten, üblich, daß die Mädchen gelegentlich zusammenstanden, um in dem Garten eine kleine fête zu veranstalten – eine Art Picnic, wozu jedes seinen Beitrag lieferte. Die Einen brachten Kuchen, die Andern Obst, und wieder andere steuerten Geld (einige Sous) bei, um damit Bonbons oder sonst etwas, worüber man sich vereinigt hatte, anzukaufen.
Für solche Anläße versah mich meine Großmutter regelmäßig mit Obst, indem sie den Aepfel- und Birnvorrath der Speisekammer in sehr freigebiger Weise zu meiner Verfügung stellte, da die Baumgärten des Guts einen reichen Ertrag abwarfen. Eines Tags erklärte mir jedoch eines der ältern Mädchen, daß sie bereits überflüssig Obst hätten und ich deshalb etwas Geld beisteuern müsse. Ich bat meine Großmutter darum, wurde aber von ihr abgewiesen, weshalb mir das erwähnte Mädchen das Ansinnen machte, das Erforderliche meinem Großvater zu entwenden. Ich erhob Einwendungen, wurde aber mit meinen Gegenvorstellungen von ihr verlacht, bis es endlich ihrem Drängen gelang, meine Zustimmung zu gewinnen. Nachdem ich sie jedoch verlassen hatte, versetzte mich die ihr gegebene Zusage in einen traurigen Zustand, da ich das Verbrecherische eines Diebstahls wohl erkannte, meine Spielgefährtin aber Sorge dafür getragen hatte, mir ans Herz zu legen, wie schlecht es sei, wenn man ein Versprechen nicht halte. Ich wußte nicht, was ich thun sollte, und verbrachte den ganzen Abend in einer so fieberischen Aufregung, daß meine Großmutter nicht wenig darüber erstaunte. Ich schämte mich, meine Zusage zu brechen, und zitterte doch vor der That, die ich begehen sollte. In dieser Unruhe zog ich mich bald nach meinem Schlafgemach zurück und legte mich zu Bette, ohne schlafen zu können. Um Mitternacht stand ich auf, schlich leise in das Zimmer meines Großvaters, machte mich an seine auf einem Stuhl liegenden Kleider und holte aus der Tasche – zwei Sous!
Nachdem ich meinen Zweck erreicht hatte, zog ich mich verstohlen wieder zurück und gelangte nach meinem Gemach. Die Gefühle, welche mich jetzt auf meinem Lager überwältigten, vermag ich nicht zu beschreiben. Sie waren schrecklich. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge schließen, und als ich mich Morgens blicken ließ, war mein Aussehen bleich, hager, und alle meine Glieder zitterten. Es zeigte sich übrigens bald, daß mein Großvater nicht geschlafen, sondern schweigend den Diebstahl mit angesehen und die Großmutter davon in Kenntniß gesetzt hatte. Ehe ich den Weg nach der Schule antrat, rief mich letztere, da ich bisher ihren Anblick vermieden hatte, zu sich hinein.
»Komm her, Valerie,« sagte sie. »Ich habe einen Traum gehabt – einen schrecklichen Traum – von einem kleinen Mädchen, das mitten in der Nacht auf das Zimmer seines Großvaters schlich –«
Mehr konnte ich nicht ertragen. Ich warf mich auf den Boden und kreischte in der Bitterkeit meines Schmerzes –
»Ja, Großmutter, und zwei Sous stahl.«
Eine Fluth von Thränen folgte diesem Bekenntniß, und länger als eine Stunde blieb ich schluchzend und das Gesicht verhüllend auf dem Boden liegen. Meine Großmutter ließ mich liegen. Sie war sehr aufgebracht, da ich ein Verbrechen erster Größe begangen hatte, und meine Züchtigung sollte strenge sein. Ich wurde zehn Tage lang auf mein Zimmer gesperrt. Aber dies war der geringste Theil der Strafe; denn so oft ein Besuch kam, schickte man nach mir, und wenn ich eintrat, nahm die Großmutter mich bei der Hand und stellte mich förmlich den Gästen mit den Worten vor:
» Permettez, Madame (ou Monsieur), que je vous présente Mademoiselle Valerie, qui est enfermé dans sa chambre, pour avoir volé deux sous de son grand-père.«
Oh, welche Scham, welche bittere Zerknirschung fühlte ich nicht! Dies kam wenigstens zehnmal des Tages vor, und auf jede solche Vorstellung folgte ein Thränenguß, sobald ich wieder nach meinem Gemache zurückgebracht war. Diese strenge Züchtigung übte eine vortreffliche Wirkung. Nach dem was ich durchgemacht, würde ich mich lieber der Folter unterzogen als wieder etwas an mich gebracht haben, was nicht mir gehörte. Es war eine schmerzliche, zugleich aber auch eine weise und gründliche Kur.
Fünf Jahre blieb ich unter der Obhut dieser vortrefflichen Frau, deren Leitung mich zu einem wahrheitliebenden, religiösen Mädchen machte. Ich darf mit gutem Gewissen beifügen, daß ich damals so unschuldig war wie ein Lamm – aber bald sollte ein Wechsel eintreten. Der Kaiser war von seinem Throne gestürzt und nach einem kahlen Felsen verwiesen worden, und auch in der französischen Armee fanden große Veränderungen statt. Das Husarenregiment meines Vaters wurde aufgelöst, er selbst aber einem Dragonerregiment zugetheilt, welches in Luneville garnisoniren sollte. Er traf mit meiner Mutter und einer zahlreichen Familie ein, da August und mir noch sieben weitere Kinder nachgefolgt waren. Ich muß hier bemerken, daß meine Mutter fortfuhr, jährlich den Hausstand zu vergrößern, bis der Nachwuchs aus vierzehn Köpfen bestand, unter welchen sich sieben Knaben befanden. Wäre also der Kaiser auf dem französischen Throne geblieben, so hätte meinem Vater die Pension nicht entgehen können.
Die Ankunft meiner Familie war für mich zugleich eine Quelle der Freude und des Schmerzes. Mit Begier hatte ich der Zeit entgegen gesehen, wann ich vereint sein würde mit allen meinen Brüdern und Schwestern, und mein Herz sehnte sich nach den Eltern, obschon ich mich derselben nicht mehr erinnern konnte. Dabei fürchtete ich aber, ich würde der Pflege meiner Großmutter entnommen werden, und sie wurde in gleicher Weise beunruhigt durch die Aussicht auf die Möglichkeit einer Trennung. Leider gieng es so, wie wir beide besorgt hatten. Meine Mutter benahm sich nichts weniger als kindlich gegen die Großmutter, obschon sie große Dankesverpflichtungen gegen dieselbe hatte, und fand sehr bald Gelegenheit, Streit mit ihr anzufangen. Der Anlaß dazu war sehr abgeschmackt und lieferte den Beweis, daß meine Mutter absichtlich einen Bruch hatte herbeiführen wollen. Meine liebevolle Erzieherin besaß einiges Möbelwerk von alter Schnitzarbeit, auf das meine Mutter ihr Auge gerichtet hatte, und sie verlangte, daß man es ihr abtrete. Die Großmutter wollte sich nicht davon trennen, und die Schwiegertochter nahm die Verweigerung empfindlich. Mein Bruder und ich, wir beide wurden sogleich zurückgefordert, und meine Mutter erklärte, daß wir sehr schlecht erzogen worden seien. Dies war der ganze Dank, welcher der gütigen Frau für einen fünfjährigen Erziehungsaufwand und für die viele Liebe, die sie uns geschenkt hatte, zu Theil wurde.
Ich hatte mich kaum eine Woche im elterlichen Hause befunden, als das Regiment meines Vaters einen Marschbefehl nach Nance erhielt, aber schon in dieser kurzen Zeit hatte ich die Ueberzeugung gewonnen, welch ein schlimmer Wechsel über mich gekommen war. Die früher berührte Abneigung meiner Mutter gegen mich hatte sich in entschiedenen Haß umgewandelt, und ich erlitt eine sehr üble Behandlung. Ich mußte das Amt einer Magd versehen, den übrigen Kindern abwarten, und es vergieng kaum ein Tag, ohne daß ich das Gewicht ihrer Hand zu fühlen bekam. Wir reisten nach Nance ab, und das Herz wollte mir brechen, als ich mich den Armen meiner Großmutter entriß, welche bitterlich über mein Scheiden weinte. Mein Vater hätte mich gerne bei ihr zurückgelassen, um so mehr, da sie versprach, ihre Habe auf mich zu vererben; aber dieses Erbieten zu meinen Gunsten brachte meine Mutter noch mehr auf. Sie erklärte, daß ich unter keinen Umständen zurückbleiben dürfe, und mein Vater, der längst daran gewöhnt war, sich in ihre herrschsüchtigen Launen zu fügen, mußte auch in diesem Falle ihrem Machtgebot nachgeben. Es war kläglich mit anzusehen, wie ein so schöner kriegerischer Mann sogar Scheu trug, vor seiner Frau nur zu sprechen; aber er stand vollkommen unter dem Pantoffel und wagte nie eine Gegenrede.
Sobald wir in der Kaserne von Nance unsere Wohnung bezogen hatten, begann meine Mutter ihr Verfolgungssystem in vollem Ernste. Ich mußte alle Betten machen, die Kinder waschen, den Säugling austragen und meinen Geschwistern gegenüber, die sich ungehindert bald das Recht des Befehlens herausnahmen, die geringsten Magddienste verrichten. Von der Großmutter her hatte ich noch sehr gute Kleider; sie wurden mir genommen und für meine jüngeren Schwestern zurecht gemacht. Was aber das Kränkendste war, alle meine Schwestern erhielten bei verschiedenen Lehrern Unterricht in der Musik, im Tanzen und in andern weiblichen Künsten, ohne daß ich daran theilnehmen durfte, obschon dadurch der Aufwand um nichts erhöht worden wäre.
»O mein Vater,« rief ich: »warum dies? – Was habe ich gethan? – Bin ich nicht Eure Tochter – Eure älteste Tochter?«
»Ich will mit deiner Mutter darüber sprechen,« lautete die Erwiederung.
Und er nahm sich ein Herz heraus, es zu thun, erregte aber dadurch ein solches Unwetter, daß er gerne davon abstand und wegen dieses Aktes der Gerechtigkeit sich sogar noch entschuldigte. Der arme Mann! er konnte nicht mehr thun, als mich bemitleiden.
Ich erinnere mich noch wohl meiner Empfindungen aus jener Zeit. Ich fühlte, daß ich meine Mutter lieben – zärtlich lieben konnte, wofern sie es mir nur gestattet hätte; aber wenn ich mir auch alle Mühe gab, ihre Geneigtheit zu erringen, so erhielt ich als Lohn nur Schläge, bis ich am Ende so verschüchtert wurde, daß ich in ihrer Gegenwart fast nicht mehr wußte, was ich that. Ich erhielt so viele Ohrfeigen, daß ich am Ende mich nicht mehr besinnen konnte, wo ich war, und die stete Angst machte mich halb blödsinnig. Mein einziges Dichten und Trachten gieng darauf hin, aus dem Zimmer zu kommen, in welchem sich meine Mutter befand. Schon ihre Stimme machte mich zittern, und bei ihrem Anblick vergieng mir der Athem. Mein Bruder August war ihr fast eben so zuwider, als ich, weil auch er von der Großmutter erzogen worden war; außerdem ärgerte sie's, daß er sich's herausnahm, gelegentlich meine Partei zu ergreifen.
Der Liebling meiner Mutter war mein zweiter Bruder Nicolas, der in der Musik gute Fortschritte machte, jedes Instrument zu behandeln wußte und sogar die schwierigsten Partieen vom Blatt weg spielen konnte. Dieses Talent machte ihn der Mutter besonders werth, da sie selbst in der Musik eine Künstlerin war. Er durfte mir befehlen, wie er nur wollte, und mich, wenn ich nicht nach seinem Wunsche that, aufs schonungsloseste mißhandeln, worin ihm die Mutter sogar noch Beistand leistete. Bei solchen Gelegenheiten schlug sich August auf meine Seite und bedachte wohl auch Nicolas mit einer scharfen Züchtigung; aber dies nützte mich nichts, denn wenn sich August zu meinen Gunsten ins Mittel legte, so fuhr die Mutter auf mich los und betäubte im eigentlichen Sinne des Worts mich mit ihren Schlägen. Mochte sich August dann auch an den Vater wenden, so blieben doch solche Berufungen fruchtlos, weil dieser sich nicht einzumengen wagte, ja, in seiner Furchtsamkeit oft mit aller Ruhe zusah, wie seine Tochter mißhandelt wurde. Mit einem Worte, ich war nahe daran, das zu werden, wofür mich meine Mutter erklärte – eine Blödsinnige.
Ich hoffe, mein eigenes Geschlecht wird mich nicht für eine Verrätherin halten, wenn ich sage, der trifftigste Beweis für die Absicht Gottes, daß das Weib dem Manne unterworfen sein solle, liege darin, daß unter hundert Frauen, falls in ihre Hände Macht gelegt ist, nicht eine sich befindet, welche sie nicht mißbrauchen würde. Wir hören so viel von den Rechten des Weibes und dem Unrecht, das ihm geschieht; aber so viel ist richtig, daß in der Familie eben so wenig, als im Staate ein getheiltes Regiment, eine Gleichheit bestehen kann. Der eine Theil muß herrschen, und kein Haushalt wird so schlimm geleitet, keine Familie so schlecht erzogen, als wo das Gesetz der Natur sich verkehrt, wie denn auch unter allen Naturspielen uns nichts so verächtlich erscheint, als der Pantoffelheld.
Fahren wir fort. Die Behandlung meiner Mutter hatte die Folge, alle die guten Lehren meiner würdigen Großmutter zu untergraben. Ich war eine Sklavin, und der Sklave, welcher unter dem steten Einfluß der Furcht lebt, kann nicht ehrlich sein. Die Furcht vor der Züchtigung hat in ihrem Gefolge den Trug, durch welchen man einer Strafe zu entgehen hofft. Sogar mein Bruder August verfiel aus Liebe und Mitleid für mich in denselben Irrthum. »Valerie,« konnte er sagen, wenn ich, den kleinen Bruder in den Armen, von einem Spaziergang zurückkehrte und er mir entgegeneilte, »die Mutter will dich schlagen, sobald du nach Hause kömmst. Du mußt so und so dich ausreden.« Dieses So und so war natürlich eine Unwahrheit, und in Folge davon wurden meine Vorwände so linkisch und mit so viel Stocken und Erröthen vorgebracht, daß die Lüge stets an's Licht kam und ich dann für das bestraft wurde, was ich so ganz gegen meinen Willen gethan hatte. War es nun meiner Mutter gelungen, einen so triumphirenden Beweis gegen mich zu gewinnen, so machte sie ein gewaltiges Wesen davon gegen meinen Vater, der dadurch allmählig für die Ansicht gewonnen wurde, daß ich ein schlimmes, hinterlistiges Kind sei und die mir widerfahrene Behandlung vollkommen verdiene.
Am glücklichsten fühlte ich mich, wenn ich ferne vom Antlitz der Mutter mich im Freien ergehen konnte, obschon mir diese Wohlthat nur dann zu Theil wurde, wenn ich nach abgefertigtem Haushaltungsgeschäft Befehl erhielt, meinen kleinen Bruder Pierre spazieren zu tragen. Dies geschah in der Regel, wenn Pierre widerspenstisch war, denn dann mußte ich augenblicklich mit ihm aus dem Hause. Da ich dies wußte, so pflegte ich das arme Kind zu kneipen, bis es schrie, um dadurch zu meinem Zwecke zu kommen. Zu der Doppelzüngigkeit kam also noch die Grausamkeit. Hätte mir Jemand sechs Monate früher gesagt, daß ich mir ein solches Benehmen zu Schulden kommen lassen könnte, so würde ich die Behauptung mit Entrüstung zurückgewiesen haben.
Obgleich meine Mutter sich einredete, ihr unnatürliches Benehmen gegen mich sei nur in ihrem häuslichen Kreise bekannt, so war dies doch keineswegs der Fall, und die Art, wie sie mich behandelte, gewann mir das Mitleid sämmtlicher Officiere und ihrer Frauen, die in der Kaserne wohnten. Einige wagten es sogar, meinem Vater einen Vorhalt darüber zu machen, daß er es dulde; aber obgleich er sich von einem Weibe einschüchtern ließ, so hatte er doch keine Furcht vor den Männern, und er erklärte den ungebetenen Rathgebern unverholen, daß er jede weitere Einmengung in seine häuslichen Angelegenheiten mit dem Degen beantworten werde. So wurde denn nichts mehr über den Gegenstand gesprochen. Seltsam, daß ein Mann lieber mit solcher Gleichgültigkeit sein Leben aufs Spiel setzen, als einem Uebelstand abhelfen mochte – und noch dazu unter der Knechtschaft einer solchen Frau; daß ein Krieger, der im Schlachtgetümmel stets der Vorderste gewesen, als zitternder Feigling dastehen konnte einem gewaltthätigen Weibe gegenüber! Doch die Welt ist voll trauriger Widersprüche.
In der Kaserne wohnte eine Dame, die Gattin eines höheren Officiers, die mir sehr zugethan war. Sie hatte eine Tochter, ein sehr liebenswürdiges Mädchen, das gleichfalls Valerie hieß. So oft ich von Haus entwischen konnte, suchte ich diese Familie auf, und wenn ich dann auf meinem Schemel sitzend Zeuge war, wie meine Namensschwester von ihrer Mutter gehätschelt und geliebkost wurde, rannen mir oft die Thränen über die Wangen bei dem Gedanken, daß mir ein solches Glück versagt war.
»Warum weinst du, Valerie?«
»Ach, Madame, warum habe ich nicht auch eine solche Mutter, wie Eure Valerie? Warum treffen mich statt Liebkosungen immer nur Schläge und Mißhandlungen? Was habe ich gethan? – Aber sie ist nicht meine Mutter – gewiß, es ist nicht möglich – ich kann es nicht glauben!«
Und dies war denn wirklich meine volle Ueberzeugung geworden, so daß ich sie nicht mehr mit dem Titel »Mutter« anreden mochte. Sie bemerkte dies und wurde mir nur um so abgeneigter. Laßt bloß einem einzigen Gefühl, einer einzigen Leidenschaft den Zügel – gestattet ihr, ungehemmt zu wachsen, und es ist schrecklich, zu welchem Uebermaß sie euch führen wird. Meine Mutter bewies mir um diese Zeit die Wahrheit der vorstehenden Bemerkung, indem sie, nachdem sie mich zu Boden geschlagen hatte, in voller Wuth mir zurief:
»Ich schlage dich noch todt.« Dann verschnaubte sie sich und fügte in verhaltenem, entschiedenem Tone bei: »Oh, ich wollte nur, daß ich dürfte!«