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Eines Tages, kurz nach dem am Schlusse des vorigen Kapitels berührten Vorfälle, gieng ich wie gewöhnlich mit meinem kleinen Bruder Pierre aus. Ich war in tiefen Gedanken, und meine Einbildungskraft hatte mich nach Luneville zu meiner theuren Großmutter versetzt, als mein Fuß ausglitt und ich zu Boden stürzte. In dem Versuche, meinen Bruder zu schützen, hatte ich selbst bedeutenden Schaden genommen, während unglücklicher Weise der arme Kleine eben so verletzt wurde, wie ich. Er schrie aufs kläglichste, und ich bot allem auf, ihn zu beschwichtigen; aber seine Beschädigung schmerzte ihn zu sehr, als daß er von mir Trost angenommen hätte. Ich blieb einige Stunden aus, da ich es nicht wagte, nach Hause zu gehen; aber als es Abend wurde, mußte ich endlich doch zurück. Das Kind, welches noch nicht sprechen konnte, machte in seinem Schreien und Stöhnen fort, und ich erzählte den ganzen Hergang der Sache. Meine Mutter fuhr nun auf mich los wie ein Drache und züchtigte mich so schwer, daß ich es nimmer geduldig ertragen konnte. Ich schob sie zurück, sie aber versetzte mir einen Schlag, daß ich blutend am Boden liegen blieb.
Nach einer Weile raffte ich mich auf und kroch in mein Bette. Dort stellte ich Betrachtungen an über alles, was ich erlitten hatte, und faßte den festen Entschluß, nicht länger unter dem Dache meines Vaters zu bleiben. Mit Tagesanbruch kleidete ich mich an, eilte aus der Kaserne und machte mich auf den Weg nach dem sechs Stunden entlegenen Luneville. Nachdem ich etwa die Hälfte meiner Reise zurückgelegt hatte, traf ich einen Soldaten von dem Regiment meines Vaters, der in unserem Hause Bedienter gewesen war. Ich versuchte, ihn zu vermeiden; aber er erkannte mich. Ich bat ihn nun, daß er mich nicht hindern solle, und erzählte ihm, wie ich von Hause weggelaufen sei, um zu meiner Großmutter zu gehen. Jacques – denn dies war sein Name – billigte mein Vorhaben und versprach mir, davon zu schweigen.
»Aber, Madmoiselle,« fügte er bei, »Ihr werdet müde werden, ehe ihr nach Luneville kommt, und trefft vielleicht auf eine Fahrgelegenheit, wenn Ihr Geld habt, dafür zu zahlen.«
Mit diesen Worten drückte er mir ein Fünffrankenstück in die Hand und ließ mich meines Weges ziehen. Ich setzte meine Reise fort und erreichte endlich das Gut, welches meinem Großvater gehörte und, wie bereits bemerkt wurde, anderthalb Stunden von der Stadt ablag. Wegen meines Großvaters scheute ich mich, sogleich nach Luneville zu gehen, da ich wußte, er werde mich aus Rücksichten der Sparsamkeit nur ungerne aufnehmen. Nachdem ich der Pächtersfrau meine Geschichte mitgetheilt und ihr mein mit Beulen und Schrammen bedecktes Gesicht gezeigt hatte, bat ich sie, zu meiner Großmutter zu gehen und ihr zu sagen, wo ich sei. Sie besorgte für mich ein Bett und brach am andern Tag nach Luneville auf, wo sie meine Großmutter von dem Stand der Dinge unterrichtete. Die alte Dame ließ sogleich ihre char-à-banc vorfahren, um mich abzuholen. Es lag jetzt für die Grausamkeit meiner Mutter ein entschiedener Beweis vor, und die treffliche alte Frau vergoß Thränen, als sie mir das schlechte blaue Kattunkleidchen, das ich trug, auszog, um meine Wunden und Quetschungen zu untersuchen. Zu Luneville angelangt, erfuhren wir viel Widerspruch von Seiten des Großvaters; aber meine Großmutter blieb entschlossen.
»Wenn Du sie nicht ins Haus aufgenommen wissen willst,« sagte sie, »so kannst Du mich jedenfalls nicht hindern, daß ich meine Pflicht gegen sie erfülle und nach Belieben über mein eigenes Geld verfüge. Ich will ihr daher für ein Unterkommen in einer Pension besorgt sein und den Aufwand dafür aus meinen Mitteln bestreiten.«
Sobald für mich neue Kleider angefertigt waren, wurde ich in der besten Pension von Luneville untergebracht. Kurze Zeit nachher langte mein Vater an. Seine Gattin hatte ihn abgeschickt, mich zurückzufordern und mich wieder nach Nance zu bringen; aber er fand kräftigen Widerspruch, und meine Großmutter drohte, ihn durch eine Berufung an die Behörden bloßzustellen. Er wußte, daß eine solche Behandlung der Sache kein ehrenvolles Ende für ihn nehmen konnte, und fügte sich deshalb in die Nothwendigkeit, ohne mich zurückzukehren. Ich blieb anderthalb Jahre in der Pension, verlebte daselbst eine glückliche Zeit und machte gute Fortschritte in den Schulkenntnissen, während sich zugleich mein Aeußeres vortheilhaft entwickelte.
Dieses Glück sollte jedoch nicht allzulang währen. Zwar hatten sich im Laufe dieser anderthalb Jahre die Gefühle, welche durch die Mißhandlungen meiner Mutter hervorgerufen worden waren, gemildert, und ich hegte keinen Haß mehr gegen meine frühere Quälerin; aber gleichwohl fühlte ich mich zu behaglich, als daß ich dem Wunsche einer Rückkehr hätte Raum geben können. Nach Verfluß dieser Zeit der Ruhe erhielt das Regiment meines Vaters wieder Befehl, seine Garnison zu wechseln, und wurde nach einer kleinen Stadt beordert, deren Namen ich vergessen habe. Der Weg dahin führte über Luneville. Meine Mutter hatte schon geraume Zeit aufgehört, meinen Vater wegen meiner Rückkehr zu quälen, da die übrigen Frauen von Nance sie wegen ihres Benehmens gegen mich sehr kalt behandelten und ihr deshalb mein Fernebleiben räthlicher schien. Bei Gelegenheit dieses Umzuges aber bestand sie darauf, daß mein Vater mich mitnehmen müsse, indem sie ihm versprach, mich gut zu behandeln und ebenso unterrichten zu lassen, wie meine Schwestern. Mit einem Worte, sie versprach alles Gute, gab gegen meine Großmutter zu, daß sie sich gegen mich übereilt habe und drückte ihre Reue darüber aus. Sogar mein Bruder August war der Ansicht, daß sie es jetzt ehrlich meine, und so gelang es endlich den Zureden meines Vaters und meines Bruders, denen sich auch die Großmutter anschloß, mich zu bewegen, daß ich einwilligte. Die Mutter benahm sich sehr freundlich und liebevoll gegen mich, und da ich wirklich danach verlangte, sie zu lieben, so verließ ich die Pension, um meine Familie nach ihrem neuen Wohnplatz zu begleiten.
Das Verhalten meiner Mutter war jedoch eitel Heuchelei gewesen. Ohne Rücksicht auf mein Wohl, wie sie sich bei jeder Gelegenheit benommen, hatte sie nur eine Rolle gespielt, um mich in eine Lage zu bringen, in welcher sie für die Geringschätzung, die sie um meinetwillen von anderen erfahren, in reichlichem Maße an mir Rache nehmen konnte. Kaum waren wir an unserem neuen Wohnplatz angelangt, als ihr Gift mit einem Ungestüm gegen mich losbrach, das alle ihre frühere Grausamkeit noch überbot. Freilich war ich jetzt nicht mehr das scheue Kind, das sich alles gefallen ließ, und ich beschwerte mich gegen meinen Vater, von dem ich Gerechtigkeit forderte; aber vergeblich. Bruder August trat, meinem Vater zum Trotz, auf meine Seite, und es folgten nun in steter Wiederholung bittere Auftritte von Familienzwietracht. Ich hatte mir viele Freundinnen gewonnen und blieb oft den ganzen Tag über bei ihnen. Namentlich sträubte ich mich, trotz aller Schläge, mit Entschiedenheit dagegen, fernere Magddienste zu verrichten. Eines Morgens hatte mir meine Mutter eben eine schwere Züchtigung zu Theil werden lassen, als Bruder August, der in seine Husarenuniform gekleidet war, eintrat und mir zu Hilfe eilte. Die Wuth meiner Mutter kannte jetzt keine Gränzen mehr.
»Elender,« rief sie; »willst Du die Hand erheben gegen Deine Mutter?«
»Nein,« versetzte er, »wohl aber meine Schwester schützen. Unmenschliches Weib! Warum schlagt Ihr sie nicht lieber auf einmal todt? Es wäre ein Werk der Barmherzigkeit!«
Nach diesem Auftritt beschloß ich, wieder nach Luneville zurück zu kehren, ein Vorhaben, welches ich in aller Heimlichkeit ausführen wollte, so daß ich nicht einmal meinen Bruder August davon in Kenntniß setzte. Es hielt schwer, unbemerkt durch die Vorderthüre hinaus zu kommen, und jedenfalls würde mein Bündel Verdacht erregt haben. Auf der Hinterseite war der Ausgang nur durch ein vergittertes Fenster möglich. Ich zahlte damals vierzehn Jahre und war sehr schmächtig; so versuchte ich es denn, meinen Kopf durch das Gitter zu stecken, und nachdem ich hierin kein Hinderniß gefunden, gelang es mir auch, den Körper nach zu bringen. Nun griff ich mein Bündel auf und eilte aus Leibeskräften nach dem Bureau der Landkutsche. Diese war eben im Begriff, nach Luneville abzufahren, das etwa eine halbe Tagreise entfernt lag. Ich stieg hurtig ein; der Conducteur, welcher mich kannte, meinte, es sei alles in Ordnung, und die Diligence fuhr ab.
In dem Coupé saßen mit mir zwei Personen, ein Officier und seine Gattin. Wir waren noch nicht weit gekommen, als sie mich fragten, wohin ich reise, und ich antwortete ihnen: »nach Luneville zu meiner Großmutter.« Da ihnen meine schutzlose Wanderung befremdlich vorkam, so erkundigten sie sich weiter, bis sie die ganze Geschichte von mir heraus hatten. Die Frau wünschte, daß ich sie auf einige Zeit besuche; aber der klügere Gatte war der Ansicht, ich sei bei meiner Großmutter am besten aufgehoben.
Gegen Mittag wurde eine Viertelstunde von Luneville zum Zweck des Pferdewechsels vor einem Wirthshaus, der Louis d'Or genannt, Halt gemacht. Hier stieg ich aus, ohne dem Conducteur eine weitere Aufklärung zu geben, obschon dieser nichts Verfängliches darin fand, da er mich und meine Großmutter gut kannte. Der Grund meines Aussteigens lag darin, daß die Diligence mich gerade vor der Front des Schlosses abgesetzt haben würde, und ich hätte da meinem Großvater begegnen müssen, der den größeren Theil des Tages vor dem Palaste in der Sonne zu sitzen pflegte. Ein solches Zusammentreffen wünschte ich zu vermeiden, eh' ich mich mit meiner Großmutter benommen hatte. In derselben Stadt wohnte ein Bruder meines Vaters, mit dessen Tochter Marie, einem hübschen gutherzigen Mädchen, ich auf sehr vertrautem Fuße gestanden hatte. Diese wollte ich zuerst aufsuchen und sie bitten, daß sie zu meiner Großmutter gehe und sie von meiner Anwesenheit unterrichte. Nun hatte es aber seine Schwierigkeit, nach ihrer Wohnung zu gelangen, ohne daß ich an der Vorderseite des Schlosses vorüber oder auch nur über die Brücke kam. Endlich entschied ich mich dafür, am Flusse hinunter zu gehen, bis ich eine Stelle des Ufers erreicht hatte, welcher gegenüber ein an den Schloßgarten stoßendes Gebüsch lag. Dort wollte ich den niedrigen Wasserstand abwarten und hinüber waten, wie ich oft andere hatte thun sehen.
Nachdem ich den Punkt diesseits des Gebüsches erreicht hatte, setzte ich mich auf mein Bündel nieder und blieb in dieser Haltung zwei bis drei Stunden, wobei ich stets die langen federartigen Kräuter auf dem Boden beobachtete, welche sich in der Strömung bald dahin, bald dorthin drehten. Sobald der Tiefwasserstand eingetreten war, zog ich Schuhe und Strümpfe aus, steckte sie in mein Bündel, hob meine Kleider in die Höhe und erreichte so ohne Schwierigkeit das andere Ufer. Dann zog ich Schuhe und Strümpfe wieder an, gieng durch das Gebüsch und gelangte nach der Wohnung meines Onkels. Letzterer war nicht zu Hause, weshalb ich Marie meine Geschichte erzählte und ihr meine Striemen zeigte. Das gute Mädchen griff sogleich nach ihrem Hut und begab sich zu meiner Großmutter. Noch am nämlichen Abend wurde ich wieder in mein kleines Schlafstübchen eingeführt, wo ich mich unter Gebeten des Dankes zur Ruhe niederlegte.
Diesmal schlug meine Großmutter entschiedene Schritte ein. Sie begab sich zu dem Commandanten der Stadt, nahm mich mit, zeigte ihm die Spuren der von mir erlittenen Behandlung und nahm seinen Schutz in Anspruch, indem sie ihm mittheilte, daß sie ein Recht auf mich besitze, weil sie mich erzogen habe. Meiner Mutter herzloses Benehmen war nachgerade so allgemein bekannt geworden, daß der Commandant meiner Großmutter sogleich die Befugniß zusprach, mich bei sich zu behalten, und als mein Vater ein Paar Tage später kam, um mich zu holen, wurde er von dem gedachten Officier mit einem derben Verweis und mit der Erklärung wieder zurückgeschickt, daß ich nicht nöthig habe, einem Vater zu folgen, der eine so grausame und ungerechte Behandlung nicht zu hindern wisse.
Ich fühlte mich aufs Neue glücklich; aber da ich jetzt im Hause blieb, gab es unter meinen Großeltern stets Anlaß zu Mißhelligkeiten um meinetwillen. Gleichwohl durfte ich mehr als ein Jahr bleiben, während welcher Zeit ich sehr viel lernte und namentlich im Sticken und sonstigen weiblichen Arbeiten eine große Geschicklichkeit erlangte. Nun erhob sich aber auch von einer andern Seite her Einspruch, indem sich mein Onkel mit meinem Großvater verband, um die alte Dame zu quälen. So lang ich nämlich von Luneville fern war, hatte sich meine Großmutter sehr liebevoll und freigebig gegen mein Bäschen Marie benommen, während jetzt alle Geschenke und jeder Aufwand mir zu gute kam und die arme Marie bei all' ihrer Verdienstlichkeit hintangesetzt wurde.
Dies wollte meinem Onkel gar nicht gefallen. Er machte mit meinem Großvater gemeinschaftliche Sache, und sie vereinigten sich dahin, meiner Großmutter vorzustellen, ich sei jetzt mehr als fünfzehn Jahre, so daß meine Mutter es nicht mehr wagen könne mich zu schlagen, und da mein Vater fortwährend meine Rückkehr verlange, so sei es ihre Pflicht, endlich nachzugeben. Zwischen diesen beiden Drängern gerieth meine arme Großmutter in so viel Verlegenheit und Verdruß, daß sie nicht wußte, was sie thun sollte. Sie fühlte sich ganz unglücklich und ließ sich am Ende durch die ewigen Plackereien ihre Zustimmung abzwingen, daß ich zu meiner Familie zurückkehren sollte, welche sich jetzt in Colmar aufhielt. Von alle dem erfuhr ich nichts bis zu dem Geburtstag meiner Großmutter. Ich brachte ihr als Festgeschenk einen von mir selbst gestickten und mit Spitzen ausgenähten Arbeitsbeutel nebst einem großen Blumenstrauß. Die alte Frau schlang mich in ihre Arme und brach in Thränen aus. Dann theilte sie mir mit, daß uns eine Trennung bevorstehe und ich zu meinem Vater zurückkehren müsse. Wäre mir ein Dolch ins Herz gestoßen worden, er hätte mich nicht schmerzlicher treffen können, als diese Nachricht.
»Ja, meine liebe Valerie.« fuhr sie fort, »du mußt mich morgen verlassen. Ich kann es nicht länger hindern. Ich bin nicht mehr so gesund und rüstig, wie früher. Ich werde alt – sehr alt.«
Ich machte keine Gegenvorstellungen und versuchte es nicht, ihren Entschluß zu ändern. Wußte ich ja doch, wie viel sie schon um meinetwillen gelitten hatte, und ich fühlte, daß ich alles würde ertragen können, wenn es galt, ihr ein ruhigeres Alter zu verschaffen. Freilich vergoß ich bitterliche Thränen bei dem Hinblick auf den Abschied. Am andern Morgen langte mein Vater an und umarmte mich mit großer Zärtlichkeit. Mein Aeußeres gefiel ihm wohl, denn ich reifte jetzt zur Jungfrau heran, obschon ich der Gesinnung nach noch ein bloßes Kind war. Ich sagte meiner Großmutter Lebewohl und nahm auch von dem Großvater Abschied, den ich nie wieder sah, da er drei Monate nach meiner Abreise von Luneville das Zeitliche segnete.
Ich hoffe, der Leser wird es mir nicht mißdeuten, daß ich so lange bei diesem Abschnitt meines Lebens verweile. Es geschieht deshalb, weil ich es für nöthig halte, ihn über die Art, wie ich erzogen wurde, ins Klare zu setzen, da hierin der Grund liegt, warum ich später meine Familie verließ. Hätte ich bloß angegeben, daß ich mich mit meiner Mutter, die mich grausam behandelte, nicht vertragen konnte, so dürfte sich wohl die Ansicht geltend machen, ich sei durchaus nicht berechtigt gewesen, in einem Augenblick der Aufregung einen so entschiedenen Schritt zu thun; wenn man aber weiß, daß die Verfolgungen in dem nämlichen Moment, welcher mich abermals in die Gewalt meiner Mutter brachte, wieder ihren Anfang nahmen, und daß weder Zeit noch Abwesenheit, weder Unterwerfung von meiner Seite noch Vorstellungen von anderen, ja, nicht einmal die Achtung vor ihrem eigenen Ruf und der Verlust aller ihrer Freunde und Bekannten im Stande waren, ihren eingefleischten Haß gegen mich zu beschwichtigen, so wird man zugeben müssen, daß ich nicht anders handeln konnte, wofern ich nicht täglich mein Leben in Gefahr setzen wollte. Als ich in Colmar anlangte, nahm mich meine Mutter sehr gnädig auf: aber ihre Huld war von kurzer Dauer. Es gab nun einen neuen Grund des Anstoßes – einen, welchen eine Frau, die stolz auf ihre Schönheit ist und nicht gerne sich an das Hinschwinden derselben erinnern läßt, nicht leicht vergibt. Die jungen Officiere zollten mir Aufmerksamkeit, weit mehr Aufmerksamkeit sogar, als ihr selbst zu Theil wurde.
»Madame Chatenœuf,« pflegten die Officiere zu sagen, »Ihr habt die Welt mit einer Tochter beschenkt, die es Euch noch an Schönheit zuvorthut.«
Meine Mutter betrachtete dies als eine höfliche Art, ihr bemerklich zu machen, daß ich viel schöner sei, als sie je gewesen, obschon sie damit sich selbst sehr Unrecht that, denn mein Aeußeres hielt mit dem ihrigen aus der Zeit, als sie in meinem Alter stand, gar keine Vergleichung aus. Ja, sie war selbst jetzt noch eine sehr schöne Frau. Freilich sprach zu meinen Gunsten die Jugend, in welcher schon vornweg mehr als die Hälfte des Sieges liegt. Aber jedenfalls erregten die Bemerkungen und Aufmerksamkeiten der Officiere die Galle meiner Mutter, und ihre Sprache wurde härter gegen mich, obschon ich zugeben muß, daß sie jetzt selten mehr zu Schlägen ihre Zuflucht nahm.
Ich erinnere mich, daß eines Tages, als Niemand mich in der Nähe ahnete, ein Officier zu dem andern sagte: »Ma foi, elle est jolie – elle a besoin de deux ans, et elle sera parfaite.« Ich war damals noch so kindlich und unschuldig, daß ich mir nicht denken konnte, was sie damit sagen wollten.
»Warum sollte ich wohl um zwei Jahre älter sein?« dachte ich und brütete verwirrt darüber nach, bis ich einschlief. Auf meinen Vater schienen die Aufmerksamkeiten, welche mir die Officiere erwiesen, und die Schmeicheleien, die ihm um meinetwillen zu Theil wurden, einen tieferen Eindruck gemacht zu haben, als ich mir denken konnte. Vielleicht fühlte er, daß ich eine Person sei, auf die man stolz sein könne, und seine Eitelkeit verlieh ihm den Muth, den die väterliche Liebe nicht zu wecken vermocht hatte – meiner Mutter entgegenzutreten. Ich entsinne mich namentlich eines Beispiels, das als Beleg dienen mag. In der Kirche sollte eine große Feierlichkeit stattfinden: sie betraf nichts Geringeres als die Taufe zweier neuer Glocken, ehe dieselben im Kirchthurm aufgehangen wurden. Die Officiere bedeuteten meinem Vater, daß ich dabei nicht fehlen dürfe, und als er nach Hause zurückkam, erklärte er gegen seine Gattin, er beabsichtige, mich am andern Tage in die Kirche zu nehmen, damit ich die Feierlichkeit mitansehe.
»Sie kann nicht gehen – sie hat keine passenden Kleider dazu,« rief meine Mutter.
»Warum hat sie dies nicht, Madame?« versetzte mein Vater. »Sorgt dafür, daß es ihr morgen nicht daran fehle.«
Meine Mutter bemerkte, daß mein Vater in einer Stimmung war, mit welcher sich nicht spielen ließ, und hielt es daher für gerathen, sich zu fügen. Schade, daß er von seinem Ansehen nicht öfter Gebrauch machte, nachdem ihn so die Erfahrung belehrte, daß er sich Gehorsam sichern konnte, wenn er nur wollte.
Am folgenden Tage begleitete ich meinen Vater, der zum Dienst im Innern der Kirche commandirt worden war. Er mußte vor seinen Leuten stehen, und da ich an seiner Seite blieb, so konnte ich natürlich die ganze Festlichkeit gut mitansehen. Ich war sehr hübsch gekleidet, und mein Vater erndtete viele Complimente über mein gutes Aussehen. Endlich begann die Ceremonie. Die Soldaten bildeten Spaliere in der Kirche, um das Gedränge zurückzuhalten; die Procession nahm ihren Anfang, der Bischoff schritt, von Priestern begleitet, unter dem Baldachin einher, dann kamen die Fahnen, und hübsche Kinder, als Engel gekleidet, schwenkten silberne Weihrauchfässer. Die beiden Glocken befanden sich in der Mitte der Kirche; weiße Ueberwürfe mit Bändern bedeckten sie vollständig, während die Knäufe mit Blumengewinden verziert waren. Die weiblichen Pathen standen wie bei einem sonstigen Taufact in weißen Kleidern, die männlichen in Gala zu beiden Seiten und waren aus der élite der Stadteinwohnerschaft gewählt worden. Militärmusik und Orgel spielten abwechselnd, bis der Gottesdienst begann. Der Bischoff las das Formulare und die Pathen gaben die gewöhnlichen Zusagen; dann wurden die Glocken mit Weihwasser besprengt und so regelmäßig getauft. Die eine erhielt den Namen Eulalie, die andere Lucile. Es war eine recht hübsche Ceremonie, und ich hätte wohl auch bei ihrer »première communion« anwesend sein mögen, wenn je eine solche stattfand.
Der protestantische Leser lacht vielleicht über diese Mummerei; ich aber sah durchaus nichts Ungereimtes darin. Als gute Katholikin und hübsche Französin hielt ich eine décoration des belles für ganz in der Ordnung. Ich glaube, daß es stets üblich war, den Glocken Namen beizulegen – jedenfalls sie einzuweihen; und wenn man dabei bedenkt, welche wichtige Dienste ihnen in unserer Religion zugewiesen sind, so wird man sich auch nicht darüber wundern. Durch die Weihe erhalten sie den Segen der Kirche – warum also diesen nicht gerade so halten, wie beim Taufact? Aber warum sie taufen? Weil sie in vielerlei Weise zu uns sprechen, mit ihrer lauten Zunge Gefühle ausdrücken und uns an die uns obliegenden Pflichten erinnern. Ist für ein Volk Grund zur Freude vorhanden, so verkündigen sie es uns von weitem mit fröhlichem Klang; mit feierlichem Tone entbieten sie uns zum Haus des Gebets und melden uns, wenn die Hostie erhoben oder der priesterliche Segen ertheilt wird. Endlich zeigen sie uns mit trauernden Lauten an, daß ein Mitmensch abgerufen worden ist und seine wandelbare Stätte hienieden verlassen hat. Ihre Obliegenheiten sind Christendienst, und deshalb bereitet ihnen die Kirche einen feierlichen Empfang.