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IV.

An einem der ersten Julitage saß Thédenat am offenen Fenster, durch das die volle Nachmittagssonne hereinflutete und durchblätterte die Zeitungen, die zu lesen er seit einer Woche nicht imstande gewesen und die nun zerknittert, zu Boden geworfen sich um ihn anhäuften, ohne daß er den Mut fand, die gewohnten Ausschnitte daraus abzutrennen. Er berührte sie nur mit Widerwillen, als strömten auch sie wie alle Dinge einen Hauch von Blut und Verwesung aus.

Das Blatt, das er hielt, entfiel seinen Händen. Er hatte darin die Ansprache gelesen, die der Bischof von Versailles den 28. Mai – an demselben Sonntag, da Mac-Mahon den Einwohnern die Befreiung von Paris und die Wiederherstellung der Ordnung verkündete und die Soldaten wegen ihrer patriotischen Anstrengungen belobte, – in seiner Kathedrale gehalten hatte. Unter dem Gewölbe, in dem zwischen Lichterglanz und Orgelklang gleich Siegesfeuern die frommen Düfte des Weihrauchs aufstiegen, angesichts der Nationalversammlung und der Regierung, die zu diesen durch den Zufall der Stunde gleichsam zu einem Tedeum umgewandelten öffentlichen Gebeten erschienen waren, tönte in stolzen Worten die Stimme des Geistlichen. Er kündete Gott den Triumph der demütig auf den Knien liegenden Sieger:

»Ihr erklärt, daß es ein höheres Licht gibt und daß ihr dessen bedürfet, um die gewaltigen Fragen, die die Ereignisse euch stellen, zu lösen?... Ihr erkläret, daß über euch eine höhere Macht steht, die die Quelle ist und die Richtschnur sein soll aller Macht, mit welcher ihr bekleidet seid!... Ihr gebet laut und öffentlich zu, daß es demütiger und glühender Gebete bedarf, um die göttliche Gerechtigkeit zu versöhnen, den Arm, der euch züchtigt, zu entwaffnen! ... Es liegt in diesen eueren Bekenntnissen etwas Schönes, etwas Großes, etwas für das Volk unendlich Belehrendes. Seid gesegnet! ... Euer mutiges Eintreten für die gute Sache wird inmitten all der traurigen Schwächen und Verirrungen unserer Epoche eine vortreffliche Wirkung erzielen...«

Nachdem er dann noch dies nützliche Beispiel gepriesen, das tiefe Spuren in dieser Gesetzgebung hinterlassen würde und dem der Lohn reichsten, himmlischen Segens nicht fehlen könne, erhob er in »einem selben Gefühl des Glaubens, der Reue und des Vertrauens« aller Herzen zu dem Ewigen, Allmächtigen.

Also gestanden die Sieger selbst – so sann Thédenat, – daß, sie für den Erfolg einer egoistischen, fanatischen Politik, für die alten Idole der Vergangenheit, einen gefräßigen Moloch, einen Jehovah als Herrn der Heerscharen gehandelt hatten und täglich noch mit unersättlicher Unterdrückungsgier handelten. In welch ungeheuerlicher Verirrung brachten sie dem Gott, dessen erbarmungsvolles, mildgütiges Antlitz sie verschleierten, die Huldigung ihrer provokatorischen Fehler, ihres mitleidslosen Eigensinns, der namenlosen Grausamkeit, mit der sie ihr Werk vollendeten, dar?

Er erhob sich mit heißer Stirn und stieß den Haufen von Zeitungen von sich. Die schwindelnde Aufeinanderfolge von Greueln, mit denen sie angefüllt waren, alles, was er selbst gesehen und erlebt, zog in einem wahren Totentanz an seinen Augen vorüber. Und eine der Hauptstädte der Welt war es, dasselbe Paris, das trotz seines Anfalls hitzigen Fiebers und trotz seiner unmenschlichen Konvulsionen einer der bedeutendsten Herde der Zivilisation blieb; dieses Paris, das, obgleich irregeführt und verbrecherisch, doch durch seine Leiden und seinen Heldenmut während bei Belagerung besseres verdiente, – dieses Paris war es, das die Härte, eines Strafgerichtes traf, wie die Geschichte seinesgleichen noch nicht verzeichnet hatte, ein so systematisches und so umfassendes Blutbad, daß es selbst die Bartholomäusnacht und die Schreckensherrschaft weit hinter sich ließ.

Man konnte nicht ohne Schauder an die Zahl der Toten, der täglich wachsenden Verwesungsstätten denken; denn auch jetzt noch, da die Feuersbrunst erloschen, die Wut des Kampfes sich gelegt, unter blauem Himmel, in der Pracht des leuchtenden Sonnenscheins, trotz aller Reden von Frieden und Vergebung wurde ohne Unterlaß getötet und gemordet.

Die blutige Woche brach an: jene Stunden, da man aus Instinkt, aus Zufall, wegen einer Ähnlichkeit, eines Namens, des ungewissesten Indiviums, wegen eines Nichts tötete; man mordete überall, auf dem Trottoir, in den Laufgräben, an den Barrikaden, in den Höfen, unter den Brücken ... Diejenigen, die sich verteidigt ebenso wie diejenigen, welche die Waffen weggeworfen, die Fliehenden wie jene, die man in Kellern oder Speichern versteckt fand; die sich falsch meldeten oder auf die ein Vorübergehender mit dem Finger deutete, den einen, weil er stotterte, den anderen, weil er ein Pole war ... mehrere falsche Vallés, Courbets, einige Billiorays.

Die blutige Woche mit ihren Kriegsgerichten, bei denen Offiziere der Gendarmerie, der Nationalgarde, ja sogar der Armee, sowie Polizeikommissäre als Richter fungierten, eine ganze im voraus bestimmte Gerichtsbehörde, die man noch verstärken mußte. Fast alle hart und mitleidslos, nur allzuwenige menschlich denkend und fühlend. Die Verhöre waren in drei Worten abgetan, der Urteilsspruch ungemein einfach: der gewöhnliche für die nach Satory Bestimmten, der klassifizierte für die zum Tode Verdammten. Die Militärschule und der Park Monceau funktionierten weiter trotz der in den Mairien errichteten Sukkursalen, das Collège de France, der Luxembourg dröhnten von dumpfen Salven; der Châtelet verschickte nach Lobau seine Frachten Menschenfleisch, Männer, Frauen, Kinder, die im Hof der Kaserne wie das Wild auf der Treibjagd durch die Pelotonfeuer niedergestreckt wurden. Des Abends verließ ein Geistlicher den Schreckensort, bleich vor Erregung, erschöpft von den massenhaft erteilten Absolutionen.

Die blutige Woche mit ihren Massenhinrichtungen, der an den hundertvierzig aus Mazas herbeigeschleppten Föderierten an der Mauer des Père-Lachaise ausgeführten Exekution; mehr als vierhundert blieben erschossen im Gefängnis; in der Roquette häuften sich die Leichen.

Die blutige Woche mit ihren überfüllten Friedhöfen, mit ihren zu Beinhäusern umgewandelten Parks, Plätzen, Avenuen, den ungeheuren Massengräbern, in denen in buntem, grausigem Durcheinander eine zahllose Menge faulte und die eilig und so schlecht ausgeschaufelt waren, daß aus der dünnen Erdschicht hier ein Arm, dort ein Bein herausragte. Ganz Paris war mit einer pestilentialischen Atmosphäre erfüllt.

Und um dieses Schlachthausgetriebe, um dieses organisierte, wie auf geheimnisvolle Befehle hin fortdauernde Blutbad bewegte sich eine Schar fürchterlicher Operateure, der ganze Auswurf einer in ihren Rechten bedrohten und für die ausgestanden Angst sich rächenden Gesellschaft. Das wütende Geheul der beutegierigen Menge: Schmähungen, Geschrei, Denunziationen und, neben der Entfesselung der oberen Klassen der Aristokratie und des Bürgertums die noch in ihren Tiefen aufgewühlten unteren Klassen. Unter der wieder hergestellten Ordnung wie früher unter der Anarchie dieselben am Blut sich ergötzenden Harpyriengesichter. Und inmitten dieses brüllenden und wie besessen sich gebärdenden Haufens der Mann, der aus der Rue Lafayette nach Montmartre geführt wird, – Varlin, der die letzte Barrikade verlassen hat und am Kaffeehaustische von einem bürgerlich gekleideten Geistlichen erkannt und verraten wurde. Die Hände mit einem Riemen hinter dem Rücken gefesselt, barhaupt – ein Gassenjunge hatte ihm mit einem Balkenhieb den Hut vom Kopfe geschlagen, – in fester, würdiger Haltung, so wird er von der kleinen Eskorte von Liniensoldaten zum Chateau-Rouge geführt. Das Urteil wird gesprochen: er soll in der Rue des Rosiers, an derselben Mauer, wo Lecomte und Clément gefallen waren, erschossen werden. Doch sein mit Steinen, Kot und Schimpfworten ihn bewerfendes Gefolge findet, daß seine Qualen noch nicht lange genug gedauert haben: »Führt ihn noch umher! Es ist noch zu bald! Laßt ihn die Runde um die Buttes machen!« Als man ihn in die Rue des Rosiers zurückbringt, ist sein Gesicht nur eine einzige Wunde; er ist so schwach, daß man ihn tragen muß. Auf einem Schemel sitzend wird er erschossen.


Die Verfolgungen griffen über die Grenzen des Landes hinaus und erstreckten ihre Fänge bis in die fremden Länder. Jede Regung des Mitleids wurde als Wahnwitz gebrandmarkt, so sehr, daß Victor Hugo, der in Brüssel seine Tür den Geächteten öffnete, deren Verbrechen er doch in wundervollen Versen verurteilt hatte, sein Haus mit Steinen beworfen, seinen Namen in Frankreich verhöhnt und verachtet sah.

Mit einem Gefühl des Ekels zertrat Thédenat den Haufen entfalteter Blätter, dieser Zeitungen, die fast ausnahmslos in kalten, dürren Worten das abstoßende Schauspiel schilderten, und warf ihn mit der Fußspitze in den danebenstehenden Korb. Die Gemäßigten bewahrten eine zustimmend schweigende Haltung; die Reaktionäre äußerten offen ihre unaussprechliche Freude, die sich bei vielen in Hohngelächter, Verleumdungen, in dem wüsten Feldgeschrei an ihrem eigenen Wahnsinn sich berauschender Indianer äußerte. Nur wenige große, liberale Organe wagten es, leise und schüchtern zum Mitleid zu mahnen; andere beschränkten sich darauf, um das Aufhören der schlimmsten Grausamkeiten zu bewirken, auf Rücksichten öffentlicher Gesundheitspflege hinzuweisen. Bei der herrschenden Hitze und der mangelhaften Beerdigung all der zahllosen Leichen konnte leicht eine Epidemie entstehen ...


Indessen spann sich ungestört das Pariser Leben fort, nicht nur das der verödeten, ausgesogenen Vorstädte, auch das der hellerleuchteten Boulevards; die Welt der Stutzer und der Dirnen in kurzen Röcken und gelben Chignons erfüllte mit fröhlichem Treiben die Kaffeehäuser, die Spielhöllen und die luxuriösen Restaurants. Auf den Trottoirs tummelten sich alle die Unnützen von Versailles, alle die Mutigen, nach überstandener Gefahr, viele mit der Armbinde geschmückte Nationalgardisten, alle lachend, scherzend, prahlend, grausam, von dem lähmenden Schweigen der militärischen Herrschaft in Zaum gehalten.

Während dieser Tage, trostloser Verzweiflung führte Thédenat ein beinahe mechanisches Dasein, zwischen heißer Empörung und unendlicher Niedergeschlagenheit schwankend.

Der Tag ging zur Neige, der Abend kam, die Nacht brach herein. In düsteres Brüten versunken saß der Gelehrte an seinem Tische, als eine Hand sich auf seine Schulter legte. Es war seine Frau, die, eine Schürze über den schwarzen Rock gebunden, ihn liebevollen Tones mahnte: »Das Abendbrot ist fertig ...« Es war schon spät, doch die beiden spürten keinen Hunger. Sie besorgte jetzt allein die Wirtschaft, seitdem die Villoir ... Alles, jeder Augenblick des täglichen Lebens erinnerte an einen Verlust, einen Tod ...

»Weißt du schon?« fragte sie, das Speisezimmer betretend, in dem die Kanarienvögel in ihrem Käfig, den Schnabel unter den Flügeln versteckt, ruhig schliefen ... »Der Besitzer des früher Simonschen Ladens hat die Warenvorräte verkauft, um sich für ihre Schulden bezahlt zu machen! ... Das Herz tat mir weh, als ich über der Tür nicht mehr den uns vertraut gewordenen Namen las, sondern an dessen Stelle: ›Rougeard‹ ...«

Sie dachten an Therese, stellten sich sie vor, durch die Straßen irrend, ihre Toten suchend ... Vergebens hatte sie versucht für sie zu sorgen, ihre Existenz zu sichern ... Einmal noch war sie in die verödete Wohnung zurückgekehrt, hatte zwei Stunden darin verweilt und war dann fortgegangen auf Nimmerwiedersehen. Einige hatten sie die Schauplätze der Hinrichtungen umkreisen gesehen. Kein Zweifel, sie suchte Anatole ... Wie war es möglich, daß sie nicht zwanzigmal schon ergriffen und in eine Gefangenenkolonne gesteckt worden war? Endlich war sie, als alle Hoffnung erloschen, den Tod suchen gegangen, der sie zu meiden schien. Man hatte sie am Rande des Kais gesehen; lange war sie dort gesessen und hatte ins Wasser gestarrt, dann hatte sie langsam und leise, wie von einer unwiderstehlichen Macht angelockt, sich hinabgleiten lassen.

Plötzlich weckte ein leises Kratzen an der Tür die beiden alten Leute aus ihrem traurigen Sinnen.

»Das scheint an der Entreetür zu sein«, sagte Frau Thédenat.

Das Geräusch wiederholte sich; besorgt blickten sie einander an; wer konnte heimlich zu dieser Stunde zu ihnen kommen? Thédenat nahm die Lampe und öffnete. Vor ihm stand ein Gespenst: Jacquenne. Er war erschreckend gealtert, das Aussehen verwildert, das Haar weiß, die Haut gelb und runzlig. Er sah aus wie ein abgehetzter, alter Wolf.

»Jawohl, ich bin's!« sprach er, die Verblüffung der beiden erratend, die ihn wie so viele andere tot geglaubt.

Mit instinktiver Vorsicht zog Thédenat ihn herein, während seine Frau geräuschlos die Tür wieder schloß. Stumm, im lastenden Schweigen des sie trennenden Nichtwiedergutzumachenden, standen sie im Vorzimmer einander gegenüber. Endlich sagte Jacquenne mit leiser Stimme:

»Können Sie mich verstecken? Wenn nicht, so gehe ich wieder.«

Von tiefem Mitleid erfaßt, brauchten Thédenat und seine Frau sich nur anzusehen, um sich auch schon zu verstehen. Trotz allem, was sie fühlen mochten, sahen sie in dem, der vor ihnen stand, doch nur einen alten Freund, einen Besiegten, der Zuflucht suchend zu ihnen kam. Frau Thédenat stieß den Riegel vor: »Wenn nur Louchard Sie nicht gesehen hat, ist alles gut.« Und während sie ans Büfett ging, ein Glas, einen Teller herausnahm, sagte Thédenat einfach:

»Treten Sie ein. Essen Sie mit uns.«

Diese Nacht, nach der schweigend verzehrten Mahlzeit, – was sich sagen und wozu? Die Thédenats waren zu zartfühlend, einen Tadel auch nur ahnen zu lassen, Jacquenne zu stolz, sich zu einem Wort herbeizulassen, das als Rechtfertigung hätte ausgelegt werben können – schlief man schlecht in der gastlichen, kleinen Wohnung. Thédenat und seine Frau erwogen die Möglichkeit der Flucht; sie fürchteten alles von Louchard, der der Schrecken des ganzen Viertels war und, je nach seinem Vorteil offen oder versteckt, die Rolle des öffentlichen Anklägers spielte. Verdächtig aussehende Individuen belagerten seine Loge und faßten jeden Vorübergehenden fest ins Auge ... Es galt, um jeden Preis ein Mittel zu finden, um Jacquenne unter irgendeiner Verkleidung in die Schweiz zu bringen. Was sie selbst in dieser gefahrvollen Zeit dabei riskierten, daran dachten sie nicht.

Jenseits der Wand, auf dein Divan des Arbeitszimmers, suchte Jacquenne vergeblich den Schlaf. Das Fieber dieser, letzten Tage, die unvergeßlichen Bilder des Zusammensturzes verfolgten ihn wie ein Chor von Furien. Er versuchte sich zu besinnen in der kurzen Rast dieses flüchtigen Asyls, wo er trotz des edelmütige Empfangs sich doch nicht behaglich fühlte. Er war noch ganz gebrochen von dem langen Marsch, von den Weigerungen, auf die er an anderen Türen gestoßen ... Gesichter, die er lächelnd gekannt, und die bei seinem Anblick sich kalt angewandt ... Zufällige Nachtlager, ziellose Wege. Es war eine völlige Erschöpfung der Nerven nach der allzu langen Spannung.

Jetzt schämte er sich ... Und doch war es nicht Furcht gewesen, was ihn hergetrieben. Wenn er nicht im Hagel der Kugeln gefallen war, denen er bei der Bastille, bei den Buttes-Chaumont, in der Rue Haxo mit wütender Beharrlichkeit sich ausgesetzt, seine Schuld war es nicht ... Der erlösende Pistolenschuß? auch daran hatte er gedacht. Doch vielleicht hätte der Selbstmord den Dummköpfen, den Verleumdern Anlaß gegeben, wie über eine Schwäche, ein Geständnis der Reue darüber zu hohnlachen.

Und doch, wie weiterleben? ... Die Sache, die er gestützt, auf lange Jahre vernichtet! ... Vernichtet ohne Hoffnung, sie noch schlagen zu hören, die so langerwartete, so langersehnte Stunde der sozialen Revolution ... Die Probe war gemacht. Die Nachfolger der Verderbten, Verfaulten, die es knechteten, zu werden, dazu war das Volk noch nicht reif, würde es noch lange nicht sein. Dazu hätte die Bewegung von oben der von unten entsprechen müssen; dazu hätte das aufgeklärte Bürgertum die Arbeit in die Hand nehmen und teilen müssen.

Alle Leitenden und Führenden hatten ihre Mission verfehlt, diese unfähigen Arbeiter, die es drängte, wie die Herren zu genießen, und seine Standesgenossen ebenso wie die Revolutionäre, die servilen Nachahmer der Vergangenheit, wie die ungeheure Menge der Gemäßigten, der Furchtsamen, der Konservativen, der Mitglieder der Versöhnungsliga ...

Jetzt war alles zu Ende ... Das Blutbad bewies zur Genüge, unter welchem furchtbaren Druck die Zukunft vegetieren, ersticken müsse ... Die Herrschaft des Säbels, die servile Presse, die fast gewisse Monarchie ... Er war zu alt, er würde sterben, ohne die Verwirklichung seines Traumes gesehen zu haben! ... Sein einst ertragenes Leben des Geächteten wieder aufnehmen; wieder Bücher schreiben wie damals, als er noch hoffte? ... Nein, wahrhaftig! Lieber fallen und im Fallen noch seinen Ideen nützen. Im Gegensatz zu der Flucht fast aller seiner Kollegen wollte er zeigen, daß einige trotz alledem noch Mut besaßen. Hocherhobenen Hauptes wollte er ins Luxembourg gehen und sagen: »Ergreift mich, ich bin Jacquenne...« Was auch kommen möge, die erlösende Kugel oder das Martyrium des Kerkers, es war gut. Er würde gegenüber der verhaßten Gesellschaft die Unterschrift quittieren, die er als Feind unter seine Dekrete gesetzt.

Bei Tagesgrauen, ohne seine endlich eingeschlafenen Wirte zu wecken, war Jacquenne gegangen, heimlich, wie er gekommen. Die Luft war frisch, schon begann der Tag zu dämmern, am klaren Himmel kündete ein immer bleicher werdendes Azur das Nahen der Sonne. Gierig sog er die Luft ein wie frisches Wasser, trank noch einmal den Tag, das Leben. Dann ging er entschlossen seinem Schicksal entgegen.

Als Frau Thédenat ihr Zimmer verließ, das Lager zerwühlt, das Zimmer leer fand, gedachte sie des Ausdrucks düsterer Überlegung, mit dem Jacquenne ihnen Gute Nacht gesagt hatte. Was war aus ihm geworden? Hatte er gefürchtet, sie zu kompromittieren? Oder war es irgend ein verzweifelter Entschluß? ... Doch was immer er beschlossen, es war die Tat eines Tapferen, dessen war sie sicher ... Doch nun galt es, sich zu dem traurigen Gang bereit zu machen, mit dem sie den heutigen Tag beginnen sollten; zu dem Trauergottesdienste für Major Du Breuil, der vor Überführung der Leiche in die Creuse im Kloster von Picpus stattfinden sollte.

Und nun stand Thédenat entblößten Hauptes neben Poncet und Martial in seiner Bank hinter Offizieren in großer Uniform, hinter Generälen, die ihr goldgesticktes Käppi unterm Arme hielten, und gewahrte in der ersten Reihe die trauernde Familie. Links, zwischen Frau Bersheim und Claire von Grandpré ein junges Mädchen, von dem man nur das schmerzliche Profil sah, die in Trauerschleier gehüllte knieende Gestalt. Rechts zwei Männer, der ehemalige Deputierte von Metz und, hochaufgerichtet und in Uniform, einen Ärmel über der Brust festgesteckt, sein alter Freund, der Oberst Du Breuil.

Vorne, vor dem Altar, zwischen den Totenkerzen steht der Sarg, mit schwarzem Tuch bedeckt. Thédenat betrachtet das auf seinem Kissen befestigte Kreuz, den Säbel mit dem goldenen Portepee; ein wahrhaftiges, edles, der lautersten Ehre geweihtes Leben. Armer Mann! Er sieht den Du Beuil vor sich, den er am 19. März voll Rührung verlassen, den er in Versailles vor dem Gefangenenzug wiedergesehen. ... Er kennt ja nicht die ganze innere Tragödie dieser Seele, er errät sie nur mit tiefer Sympathie in Erinnerung an den Schrei der Empörung, an das edelmütige Dazwischentreten angesichts jener wahnwitzig fanatisierten Menge ... Armer Mann, arme Menschen!

Steinerne Ruhe im Antlitz, an dem nur der Schnurrbart zittert, blickt der Vater mit starren Augen auf diesen Sarg, der ihm alles umschließt, was ihm an Hoffnung auf Erden geblieben. In diesem furchtbaren Zusammenbruch, in dem Frankreich zu versinken drohte, war Pierres Zukunft und sein Glück das einzige Band gewesen, das ihn noch ans Leben knüpfte. Nun diese Stütze fehlte, nun dieser letzte teure Sohn, in dem all sein Stolz und all seine Liebe sich verkörperten, zwischen diesen vier Brettern ruhte, – nun versank er in tiefe Nacht, und nur ein Wunder an Willenskraft hielt ihn noch aufrecht, erstarrt und gebrochen.

Aninas Gestalt bebte in krampfhaftem Schluchzen, ihr leidenschaftlicher Schmerz steigerte sich noch bei der Berührung des Geliebten. – Die erste Nachricht hatte sie mit zerschmetternder Wucht getroffen, und mit namenloser Qual stellte sie sich das Unfaßbare vor – der Geliebte, den sie lebensvoll verlassen, tot, verschwunden, ihr Leben fortan trostlos, geknickt, verzweifelt. Sie hatte geglaubt, es sei unmöglich, noch schwerer zu leiden, hatte den Kelch des Schmerzes bis auf die Neige zu leeren geglaubt ... Und nun sie ihn so nahe vor sich sah, vor ihren Augen leblos ausgestreckt, ihn, der ihre Seele, ihr alles war, nun brach sie in einer mit jeder Sekunde wachsenden Verzweiflung zusammen. Sie preßte ihr Taschentuch an die Lippen, um nicht laut aufzuschreien; wahnsinnige Empörung wallte in ihr auf gegen den sinnlosen Tod, gegen die Ungerechtigkeit Gottes und der Menschen, gegen ihre eigene Ohnmacht. Sie sah alles, die flackernden Lichter, den Priester mit den rituellen Gesten, wie in einem schrecklichen Traume; in einem Traum, aus dem sie nie, niemals mehr erwachen würde. Still und unaufhaltsam flossen ihre Tränen; ihr war's, als wäre es ihr Herzblut, das da floß.

Bersheim wandte, von Schmerz erstickt, kein Auge von Frau und Tochter. Unendliches Mitleid zerriß sein Herz bei dem zermalmenden Schlag, der Anina getroffen. Daß, die Alten, wie er und seine Frau, die den größeren Teil ihres Lebensweges schon zurückgelegt hatten, von so viel Familie und Vaterland verheerenden Schicksalsschlägen getroffen wurden, schon das war ein grausames Los; doch sie, der ein weiter Horizont des Glückes sich geöffnet, dem voll Hoffnung und Vertrauen entgegenzublicken sie das Recht und alle Ursache hatte ... nein, das war zu entsetzlich! ...

Woran sich klammern? Was beginnen? ... Nach Metz zurückkehren? ... Bei dem bloßen Gedanken daran krampfte sich ihm das Herz zusammen ... Bei den Du Breuils, in der Creuse, bleiben? ... Das hieße, Anina täglich sich erneuernde Qualen auferlegen ... Unmöglich! Wohin also sich wenden? Für ihre jammervolle Heimatslosigkeit wollte sich kein gastliches Fleckchen französischer Erde finden; überall die kalte Fühllosigkeit der Fremde, gleichgültige Gesichter... Vor allem aber flößten Versailles und Paris ihm Abscheu ein.

Das von der Arroganz der Sieger wimmelnde Versailles, das unter Trümmern verstummte Paris. Diese Städte in ihrem tollen Wahnsinn, ihrem albernen Hochmut, ihrer tierischen Wut waren es, die Du Breuil getötet! Die Nationalversammlung, die Kommune, gegenseitige Mörder! Besessene, die, nur ihre Parteiinteressen im Auge, Frankreich vollends in Blut und Asche begruben! Barbaren, die auf dem Boden ihres Vaterlandes mehr Verwüstungen gehäuft, als die Barbaren selbst, Franzosen, die tausendmal grausamer waren, als die, Deutschen gewesen ... Soviel Blutgier, so rohe Gewalttätigkeit vergiftete auch hier die Luft! Nein, hier könnte er nicht leben; sie wollten Frankreich verlassen, um in weite Ferne ihr entwurzeltes Dasein zu schleppen ... Sie wollten Großmutter Sophia, die zu alt war, um eine solche Verpflanzung in die Fremde, einen solchen Bruch all ihrer Gewohnheiten überleben zu können, verlassen, wollten jenseits des Meeres, in jenem anderen, sonnedurchglühten Frankreich, bei ihrem Sohne Maurice sich niederlassen. Dort, in Algier, wo wenigstens der Himmel barmherzig ist und eine ewig leuchtende Sonne die Gedanken, das Leid betäubt, dort wollten sie einen neuen Herd sich zu gründen, allmählich wieder sich ans Leben zu gewöhnen versuchen ...

Die Zeremonie ging zu Ende, man erhob sich; langsam schritten, von ihren schwarzen Schleiern umwogt, die Frauen vorüber. Als Thédenat Anina vorübergehen sah, in übermenschlichem Schmerz erstarrt; als er sie in ihren langen Trauergewändern schwankenden Schrittes und doch in stolzer Haltung am Sarge vorbeischreiten sah, da erschien ihm die junge Lothringerin in ihrer rührenden Jugend und Schönheit als die Verkörperung des ganzen tödlich verwundeten Frankreich. Er identifizierte ihre Schmerzen; das hoheitsvolle Bild der verwitweten Braut verschmolz in seiner Vorstellung mit dem Bilde der großen Verwundeten, die ihre verlorenen Provinzen, ihre Toten, ihre innere untröstliche Wunde beweinte ...

Einen Monat später saßen Thédenat, Poncet und Martial, wie so oft schon, in dem, von der vertrauten Lampe erhellten Arbeitszimmer des Gelehrten, während Frau Poncet der Hausfrau beim Abräumen des Speisetisches half. Es war das Abschiedsdiner vor der Abreise der Poncets nach Charmont, wo sie in der milden Pracht der Sommer der Tourraine einige friedliche Wochen zubringen und ein wenig Vergessen suchen wollten ... Sie hatten sich seit dem 29., dem Tag der auf Longchamp abgehaltenen, großen Revue nicht wiedergesehen. Poncet trieb, wie soviele Pariser, doch aus ganz anderen Gefühlen heraus, die Neugier, dem Schauspiel beizuwohnen.

Er sprach davon mit bitterer Ironie. Niemals würde er Thiers' strahlende Miene vergessen. Durch seinen Sieg gewachsen, stand er inmitten dieser, dank seinem Genie neugebildeten, im Blute – in welchem Blut! – gestählten Armee. Fürwahr, in dieser Stunde mochte er sich als Napoleon fühlen ... Poncet erriet die geheimen Gedanken des kleinen Mannes in ihrer ganzen Eitelkeit, ihrer erschreckenden Gefühlstrockenheit; und doch setzte auch ihn der Ton in Verwunderung, mit dem der allmächtige Staatsmann einige Zeit später in seinen intimen Aufzeichnungen diese Revue schilderte, »diese Versammlung von Soldaten, »die, obgleich noch nicht neu equipiert, doch eine wahrhaft kriegerische »Haltung zeigten, in den Zügen den Ausdruck des Vertrauens und des Stolzes »darüber, diese Mauern von Paris, die den Preußen widerstanden hatten, bezwungen »zu haben.

»Noch nie hatte man hundertzwanzigtausend Mann zu einer militärischen »Feier vereinigt gesehen. Sie nahmen im Hippodrom von Longchamp, im Bois »de Boulogne Aufstellung, stufenweise auf der weiten Böschung gruppiert, die »sich am Saum des Bois, gegenüber den Renntribünen, erhebt. In der Mitte »war die Infanterie massiert, eine zahlreiche Artillerie und etwa fünfzehntausend »Pferde besetzten die Front und stützten die Flügel ... Ich nahm mit den »Ministern im Mittelpavillon der Rennbahn Platz, zu meiner Rechten den »Präsidenten der Nationalversammlung; die Tribüne rechts war von den Deputierten, »die linke vom diplomatischen Korps und den Staatswürdenträgern besetzt. »Alle Gesichter strahlten in hoher Befriedigung. Es war die Freude der »glücklichen Genesung, und ich selbst empfand in diesem Moment die Bürde, die »ich trug, weniger schwer.

»Marschall Mac-Mahon ritt im Galopp die Front der Truppen ab. Dann »nahm er, von einem zahlreichen Offiziersstab in Kampagneuniform umgeben, »vor dem Mittelpavillon Aufstellung; das Défilé begann. Diese Armee, die »man für undiszipliniert und jeden ernsten Manövers unfähig gehalten, defilierte »mit bewundernswerter Präzision und Gleichmäßigkeit. Jeden Augenblick »brachen die Zuschauer in begeisterte Beifallsrufe aus, besonders wenn die Korps, »die während des Krieges von sich hatten reden gemacht, vorüberzogen.

»Die Zeit verging, denn das Defilieren von hundertzwanzigtausend Mann ist »eine lange Operation, und es hieß, sich beeilen. Nun setzte die Artillerie in »dichtgedrängten Reihen sich in raschem Tempo in Bewegung, die Kavallerie mit »General Du Barail an der Spitze fiel in Galopp, und alle diese schnellen, »in musterhafter Ordnung ausgeführten Bewegungen boten ein Schauspiel voll »stolzer Größe. Nun leistete der Marschall vor den Tribünen der Nationalversammlung »und des Präsidiums den Ehrengruß; ich stieg herab, um ihm »die Hand zu drücken, und das schöne Fest war zu Ende.

»Nach Versailles zurückgekehrt, vereinigte ich sämtliche Armeechefs zu einem »großen Diner; am darauffolgenden Abend ergab sich der größte Teil der »Nationalversammlung, die Rechte und die Linke ohne Unterschied. So verlief »denn dieser Tag, der sich für Frankreich zu einem Tag der Freude und des Stolzes gestaltet, zu allgemeiner Zufriedenheit ...«

Thédenat, der an seinem Tische im Lichtkreis der Lampe saß, seufzte, aus seinem Sinnen erwachend:

»Ja das Unerträgliche, das, was in diesen verwünschten letzten Maitagen mir das Herz zerriß, wenn ich diese schönen Regimenter mit solcher Kühnheit, solch verwegenem Mut ins Feuer rücken sah, das war, mir sagen zu müssen, daß man sie gezwungen, die Rache für ihre Niederlagen an ihren Brüdern zu nehmen ... Und ebenso blutenden Heizens dachte ich beim Anblick dieser wütenden Föderierten, eines Simon und so vieler anderer, die so tapfer hinter den Barrikaden gekämpft, an all diesen vergeudeten Mut, und mit tiefem Schmerz mußte ich nur gestehen, daß diese Gewehre nur deshalb dem Bürgerkriege dienten, weil man sie nicht im Krieg gegen den fremden Feind verwenden wollte! Wenn man an die herrliche Schwungkraft der französischen Seele, an diese so schnell wieder aufgerichteten, geeigneten, disziplinierten Truppen, an die so viel geschmähte und verachtete Nationalgarde denkt, die doch, als der Augenblick des Handelns, wenn auch zu spät, gekommen, sich mit solchem Heldenmut geschlagen! ... Hätte man früher zu einem nutzbringenderen Zeitpunkt diese ganze Summe von Energie gegen die Deutschen geschickt ...«

»Gewiß« sprach Poncet, »Blut für Blut, es wäre besser gewesen, die Nationalgarde hätte das ihre aus vollen Adern bei Champigny, bei Buzenval, in all den Schlachten, die Trochu nicht geliefert, vergossen, statt es sich von Franzosen, in Paris, stromweise abzapfen zu lassen ...«

»Ist die Zahl der Toten bekannt?« fragte Martial.

»Man wird sie nie erfahren«, entgegnete Thédenat. »General Appert hat gestern unserem ehemaligen Bürgermeister, Bacherot, anvertraut, daß die Zahl der während des Kampfes und nachher getöteten Föderierten sich auf siebzehntausend belief. Dazu kommen die sechs bis siebentausend außerhalb der Mauern Gefallenen; und da sind die zehn bis zwölftausend Verwundeten, mit denen die Hospitäler angefüllt waren und noch sind, gar nicht mitgerechnet ...«

Es herrschte gedankenschweres Schweigen. Nach einer Weile fuhr Thédenat fort:

»Die Reaktion von 71 hat in einer Woche mehr arme Leute getötet, als die große Revolution deren in zwei Jahren niederschlug.«

»Oh!« sagte Martial.

»Ganz gewiß!« versicherte Thédenat.

Und mit der sicheren Belesenheit, die in seinem Geiste das tiefe Verständnis der Geschichte unterstützte, erklärte er:

»Laut den gedruckten, mit Namen, Datum und Angabe des Berufes versehenen Listen wurden in Paris vom 26. August 1792 bis zum 19. Juli 1794 nur 2849 Köpfe abgeschnitten, und diese gehörten zum geringen Teil nur den Vornehmen, der größten Mehrzahl nach armen Teufeln an ... Dazu kommen die Septembermassakres; in der Provinz die Opfer der Massenertränkungen von Nantes, die Opfer von Lyon, Toulon, Orange, Arras ... Damit erreichen wir die schon enorme Ziffer von zehn bis zwölftausend. Nun vergleichen Sie.«

»Und kennt man die Verlustziffer der Armee?« fragte Martial weiter.

»Sie beläuft sich«, erwiderte Thédenat, »es sind dies die in Mac-Mahons Bericht genannten Ziffern, ich habe sie von sehr gut unterrichteter Seite, – auf 83 Offiziere und 794 Mann während der ganzen Dauer der Operationen.«

»Ist das möglich?« rief Poncet, von der Größe des Unterschiedes überrascht.

»Ich sage: im Ganzen 877. Die Zahl der Verwundeten ist leider bedeutend größer, sie erreicht beinahe 6500 ... Daß die Zahl der Opfer eine verhältnismäßig so geringe ist, hat die Armee der Langsamkeit der Bewegungen zu verdanken ... Und wäre man, die Überraschung des Überfalls benutzend, schneller vorgegangen, so wäre der Verlust dieses kostbaren Blutes noch unendlich geringer gewesen. Die Föderierten hätten nicht Zeit gefunden, ihre Barrikaden zu errichten, ihre Feuersbrünste anzuzünden, die Geiseln zu erschießen. Der Haß hätte sich nicht zu solch brutaler Erbitterung gesteigert, der Boden von Paris wäre nicht, wie Thiers sagte, mit Leichen besäet, und Versailles nicht mit solchen Massen von Gefangenen bevölkert.«

»Man spricht von fabelhaften Ziffern«, bemerkte Poncet.

»Jawohl! Mehr als fünfundvierzigtausend! ... Fünfundvierzigtausend Menschen harren zu dieser Stunde ihrer Verurteilung oder ihrer Freisprechung, werden vielleicht jahrelang noch darauf warten. Schon sind ungefähr tausend, irrtümlich Denunzierte, auf Reklamation der Reaktionäre, freigelassen worden ... Aber die anderen! Wissen Sie, wieviel Denunziationen vom 24. Mai bis zum 13. Juni stattgefunden haben? 379828! Offizielle Ziffer der Polizeipräfektur. Kaum der zwanzigste Teil davon ist unterzeichnet. Mancher wurde siebzehnmal angezeigt ... Auch ich war es mehrmals!«

»Das ist entsetzlich!« rief Martial. »Wieviel Unschuldige werden für die wirklich Schuldigen büßen müssen. Wie vielen von den Rädelsführern, den großen, wie den kleinen, mag es gelungen sein, ihre kostbare Person in Sicherheit zu bringen! ... Auf dem Weg zu Ihnen begegnete ich auf der Treppe dem Mieter von Tinets Wohnung ... Unser Mann weilt, glaube ich, in London und genießt im Kreise der Emigranten bedeutendes Ansehen ... Weder er, noch Melie werden sich sobald über die schöne Wäsche und das kostbare Silberzeug trösten, das sie hier zurücklassen mußten ... Dank der Wachsamkeit Louchards wurde all das, zugleich mit den der Legion d'honneur gestohlenen Medaillen den betreffenden rechtmäßigen Besitzern zurückgestellt.«

Allmählich lenkte das Leben wieder in seine gewohnten Geleise ein, im Hause wie in der Stadt. Die Noyers, hochmütiger und strenger denn je, hatten die geräumigere Wohnung Blacourts gemietet. Frau Delourmel lebte nach fruchtlosen Nachforschungen in Versailles, nach langem Harren vor den Türen der Gefängnisse inmitten der Menge der Bittenden und Flehenden einsam in ihren vier Wänden und ließ sich niemals blicken.

Paris, in vier militärische Kommandobezirke geteilt, begann eben erst die dumpfe Trunkenheit des Blutbades abzuschütteln. Während unablässig ganze Reihen von Leichenwagen durch die Straßen zogen, um die Toten regelrecht zu bestatten und gegen Süden zu dichte Rauchwolken, zuweilen von Flammen und einem durchdringenden Geruch von Teer und Karbolsäure gemischt, zum Himmel aufstiegen, in denen die in einem zu weit vorgeschrittenen Stadium der Verwesung befindlichen Leichen verbrannt wurden, indessen begann sich leise und schüchtern in den von Patrouillen durchzogenen Straßen das gewohnte Leben wieder zu regen.

Die Presse blieb geknebelt, die Bürgschaftsübernahme wurde wiederhergestellt, die Theater auf Befehl wieder geöffnet, alle öffentlichen Orte um elf Uhr abends geschlossen, der Petroleumhandel untersagt, das Handwerk der Zeitungsausrufer in den Straßen verboten, jedermann verdächtig – es war ein drückendes Regime, das die Hauptstadt unter beständiger Drohung hielt und sie immer noch für ihre Vergehen strafen zu wollen schien. Anfangs als Befreierin begrüßt und mit Freuden empfangen, wurde die Armee bald zum Gegenstand ängstlicher Furcht. Viele, die die Exzesse der Kommune blind gemacht hatten, erinnerten sich ehemaliger Sorgen und Leiden öffneten ihre Augen wieder der Vernunft und dem Mitleid.

Dieses Mitleid fand einen kräftigen Ausdruck in der ganzen liberalen Presse von Europa, und hätte die Härte jedes anderen gemildert als dieser unerbittlichen Herren und Gebieter, die nach vollbrachtem Aderlaß die Hände der Überlebenden mit roher Gewalt bis zur Bewußtlosigkeit fesselten.

Außer den zum Zerspringen überfüllten Kerkern, in denen die Gefangenen vor Durst verdorrten, von Schmutz und Ungeziefer verzehrt wurden; außer diesen wimmelnden Schweineställen, die nicht einen Gefangenen mehr hätten fassen können und deren Gestank Versailles derart belästigte, daß es sich beklagte, durch die Lebenden ebenso verpestet zu werden, wie Paris von den Toten, wurden täglich Tausende von Unglücklichen auf die Pontons, in die Küsten- und die Inselfestungen verfrachtet. In Lastzügen, in Viehwaggons, in nur mit Platten gedeckten Wagen rollten sie viele Stunden lang dahin, so zusammengepfercht in die stinkenden Kästen, daß sie zwischen ihren Exkrementen auch den ihnen in einen Winkel hingeworfenen Zwieback zertraten. Unmöglich, sich zu rühren oder auszusteigen. Bei der Ankunft am Ziel zeigte es sich, daß mehrere wahnsinnig geworden waren. Auf einem Bahnhof, wo aus einem dieser rollenden Gefängnisse jammerndes Geschrei vernehmbar wurde, feuerten die Zugführer, um dieses Geschrei zum Schweigen zu bringen, ihre Revolver auf den Haufen ab; dann gings wieder weiter.

Infolge der Entvölkerung der Arbeiterklasse – ein Unterschied von hunderttausend Stimmen zwischen den Februar- und den Juliwahlen bewies in trockenen Zahlen das Defizit: Tote, Verschwundene, Gefangene – lag die Industrie der Hauptstadt ganz danieder. Von den dezimierten Professionen verloren die einen die Hälfte, die anderen das Drittel der Arbeiter.

Angesichts dieses Zustroms von Gefangenen fragten sich die Nationalversammlung und Thiers selbst ratlos, welche Maßregeln zu ergreifen wären. Es waren ihrer so viele, daß man nicht wußte, was mit ihnen beginnen. Der Traum der Rechten war, sie in großen Massen in entlegene Kolonien zu deportieren; sie überschüttete Thiers mit leidenschaftlichem Tadel. Oder sollte man sie einzeln durch das Sieb der militärischen Gesetzgebung passieren? Wie viele Freisprechungen wegen Mangels an Beweisen wären dann aber die Folge! Man warf damit gefährlichere, erbitterte Männer auf das Pflaster von Paris zurück. Da Thiers vor einem Ausnahmegesetz zurückschreckte, welches gestattet hätte, sich mit einem Schlage aller dieser Lästigen zu entledigen, ergab sich Thiers in den zweiten Beschluß, der den Vorteil besaß, das allgemeine Recht zu sein: »Da man die Achtung vor dem Gesetz fordert«, sagte er, »müssen wir selbst damit anfangen, sie zu üben.« Thédenat fuhr fort:

»Wie doch die Geschichte sich wiederholt! Und wie schwer ist es, in dem ungeheueren Haufen von Dokumenten zu entscheiden, was Fabel und was Wahrheit ist ... Wir selbst, die wir die gegenwärtige Stunde miterleben und, zwischen den beiden Lagern stehend, vielleicht besser urteilen können, wie vieles ist auch uns fremd und wird uns immer unbekannt bleiben! Ach, die Geschichten, die man erzählt, und jene, die man schreiben müßte! ... Die betäubten Gehirne gebären ungeheuerliche Hirngespinste. Schon übertreibt 1871, wie 1848 übertrieben hat. Damals sprach man von Mobilgardisten, die zwischen zwei Brettern zersägt worden sind, von Soldaten, denen man die Faust abschnitt, und die Presse war eifrig am Werk, diese Legenden noch weiter auszuführen und auszuschmücken ... Heute sind es die Petroleusen; die gummierten Etiketten mit einem Bacchantenkopf und den Buchstaben B. P. B. ( Bon pour brûler) usw. versehen ... Und alle diese ungereimten Gerüchte wird man sich in den Städten und den Dörfern noch jahrelang mit schauderndem Entsetzen wiederholen ... Hat nicht Thiers selbst in seinen Depeschen an die Provinz das Gerücht von den vergifteten Spirituosen, mit denen man die Soldaten töten wollte, bestätigt? ... Sie werden sehen, Poncet, was aus diesen unfähigen Individuen des Rathauses, aus diesen am Ende Verzweifelnden, aus der Kommune, deren ursprüngliche Wirrungen und deren Krankheitsprozeß wir kennen, unter der Feder jener wird, die für lange Zeit die Führung der öffentlichen Meinung in Händen halten dürften ... Wehe den Besiegten, deren Geschichte von den Siegern geschrieben wird!«

Gemeinsam erwogen sie, was im Guten wie im Bösen diese Regierung des Zufalls erträumt und vollbracht hatte, von der die einen sich ihre Berufung zunutze gemacht, die anderen dafür hatten büßen müssen: dieses doppelsinnige Wort der Kommune, gleichzeitig die Flagge der in rechtmäßiger Weise beanspruchten munizipalen Freiheiten und der Popanz des Kollektivismus ... Die wenigen edlen Ideen, das Embryo des Fortschritts im formlosen Chaos der Epoche, dessen Verwirklichung sie versucht; so die notwendige Trennung von Kirche und Staat, die Rückgabe der unveräußerlichen Güter an die Nation, die Verweltlichung; so die Abschaffung der künstlichen Lasten, das Prinzip der Wahl der Richter und jener Entwurf der wichtigsten sozialen Gesetze: Einschränkung der Monopole, Gründung von Genossenschaftswerkstätten und professionellen Schulen ... All diese gerechten Forderungen, die die Zukunft stellen würde, schienen ertränkt im Blut der Geiseln, im verbrecherischen Wirbel der Flammen ... Und doch mußte all das aus der Asche wieder auferstehen, und zugleich die ersten, die wahren Verantwortlichkeiten sich wieder Geltung verschaffen ...

»Je mehr ich darüber nachdenke«, schloß Thédenat, »je mehr sehe ich ein, daß Sie, Poncet, auf dem rechten Wege waren; vielleicht tat ich unrecht daran, meine Bestrebungen nicht mit den Ihrigen zu vereinigen ... Nicht als ob das hätte etwas nützen können! denn ach! ich hatte nur zu viel Ursache, an der Sache zu verzweifeln ... Doch gleichviel, ich hatte unrecht ... Man muß bis ans Ende seine Pflicht tun, auch wenn man nichts zu hoffen hat ... Und diese Pflicht lag klar zu Tage ... Wir sahen sie nur allzu deutlich ... Wir alle hätten gegen diese wahnwitzigen Ketzer aufstehen sollen, sie zurückstoßen und um Gnade und Erbarmen fürs Vaterland rufen ...«

Wie oft nahmen sie in der Folge dieses Gespräch, in dem sie ehrlich versuchten, die in ihnen selbst und um sie her fliehende Wahrheit zu erfassen, wieder auf! Der Sommer verging, ein Winter kam, nicht mehr der Winter der Belagerung; ein anderer Frühling als der der blutigen Woche hielt seinen Einzug in die Alleen des Luxembourg, in denen das fröhliche Völkchen der Vögel sich wieder ungestört tummelte. Ihre im Wechsel der Jahreszeiten unverändert gebliebene Freundschaft umschlang die beiden Männer bei ihrem Wiedersehen wieder mit demselben Band verständnisvoller Harmonie; gemeinsam entdeckten sie in der Flucht der Tage, im Spiel der Ereignisse und der Menschen neue, unerwartete Gesichtspunkte, die die Vergangenheit bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel erhellten und die Zukunft beleuchteten.

Mit müdem und doch nie sich abstumpfendem Interesse betrachteten sie die gehässige Befriedigung der Rachgier, die systematische Vollendung des Werkes. Jahre dauerte die erbarmungslose Arbeit, die, wie es hieß, soziale Assanierung der Gesetze und durch die Gesetze. Im August war der Prozeß gegen die bedeutendsten Angeklagten eröffnet worden, – fünfzehn Mitglieder der Kommune standen vor den Schranken, darunter Assi, Jourde, Ferré, Grousset, Courbet; ferner zwei Mitglieder des Zentralkomitees, darunter Lullier, die einzigen Chefs, deren man habhaft geworden, um sie für die Handlungen aller büßen zu lassen. Sie leugneten ihre Schuld. Nur Jourde vermochte mit Feuer und Genauigkeit seine Verwaltung zu rechtfertigen, und der Schuhmachermeister Trinquet, der Sektierer Ferré konnten die Stirn erheben, während fast alle die Blicke senkten ... Und Jacquenne? In einer der Kolonnen des Elends und Jammers im Juli an galoppierender Schwindsucht gestorben.

Bald erwies sich die Verurteilungsmaschine als unzureichend, und zweiundzwanzig ergänzende Kriegsgerichte begannen mit kalter Grausamkeit ihres Amtes zu walten. Die Begnadigungskommission, die ein Deputierter in öffentlicher Sitzung »Mörderkommission!« nannte, ließ neben Ferré auch Rossel erschießen. Alle Bitten, eine allgemeine Bewegung sympathischen Mitgefühls scheiterten an dem eisigen Groll dieser höchsten Richter über so viele Existenzen; der empörte Offizier, der für Gerechtigkeit schwärmende Träumer fand bei ihnen nicht die Nachsicht, deren ein Bazaine sich erfreute. Er ergab sich mit stoischer Ruhe in sein Schicksal und sprach nur zu seinem Rechtsfreund, bevor er das Gefängnis verließ: »Sie sind Republikaner; bedenken Sie wohl: wenn in kurzem sich nicht die Armee einer völligen Umwandlung unterzieht, wird die Armee die Republik vernichten ... ich sterbe für die bürgerlichen Rechte des Soldaten«. Tags darauf fiel in Marseille Gaston Cremieux und büßte mit seinem Haupte den unklugen Sarkasmus, das Wort: »Bauernversammlung!«, mit dem er in Bordeaux die zum Frieden drängenden Unterzeichner verhöhnt hatte.

Am 7. September harrten noch 39 000 Gefangene ihres Urteilsspruches. Drei Jahre arbeiteten die Gerichte. Immer derselbe traurige Satz: »Keine Arbeit, die dreißig Sous, die man zum Leben brauchte.« Zuweilen ein stolzes Wort; der Heldenmut eines Elisée Reclus, der die Verbannung auf die Gefangenenschiffe der Verleugnung seiner Überzeugung vorzog; der Schrei einer Louise Michel oder das angstvolle Stammeln eines einfachen Weibes, die scheue Verständnislosigkeit eines Kindes ...

Im Mai 73, als Thiers fiel, war die größte Arbeit getan: 22 326 Angeklagte waren nach langem, mörderischem Schmachten auf den Pontons freigesprochen; 8525 zu verschiedenen Strafen verurteilt: infolge eines Spezialgesetzes war in Melanesien bei den Papuas eine Insel, Neu-Kaledonien, gewählt worden, welche kolonisiert werden sollte, statt das Beispiel vom Juni 1848 zu befolgen und diese nützlichen Arme, die man in der Ferne lähmte, nach dem nahen Algier zu senden. Unter Mac-Mahon, bis zum Jahre 1875, begann der Druck von neuem und erlosch. Man sah im Bilde Arthur Nancs die ganze Politik der Nationalverteidigung zum Tode verurteilt. Rochefort, bis dahin rücksichtsvoll behandelt, wurde nach der Halbinsel Ducos eingeschifft; 4925 weitere Verurteilungen wurden ausgesprochen.

Zu ihren Studien zurückgekehrt, verfolgten Thédenat und Poncet mit leidenschaftlichem Interesse die politische Schlacht, diese täglichen Kämpfe zwischen der Nationalversammlung und dem Lande.

Ihres Sieges gewiß, hatte die Nationalversammlung schnell die Maske abgeworfen, die Verbannungsgesetze abgeschafft, Heinrich V. gestattet, von Chambord aus im Juli 71 seinen Aufruf an die Franzosen zu erlassen, der das Versprechen enthielt, ihnen in den Falten der weißen Fahne Ordnung und Freiheit zu bringen! Die Orleans kehrten zurück und nahmen trotz Thiers' Versprechen ihre Sitze im rechten Zentrum ein. Ducrot rief: »Die Aufrechterhaltung der Republik ist unmöglich!«, zur selben Stunde, da die Wahlkollegien in vierundvierzig Departements durch ihre republikanischen Wahlen der Majorität das Verlangen nach dem allgemeinen Wahlrecht offenbarten.

Sie aber nahm wütend den Fehdehandschuh auf. Sie entschloß sich, Thiers auf dessen Wunsch mit dem Titel eines Präsidenten der Republik zu schmücken, nur unter dem Vorbehalt, daß man ihr das Recht des Konstituierens zuerkannte. Ihre Hoffnung verriet sich in dem der Linken zugeschleuderten Ausruf: »Ja, wir werden diesem Land eine Verfassung geben trotz euch und, wenn es sein muß, gegen seinen eigenen Willen!«

Und nun hatte sie entschlossen sich zum Kampf gerüstet. Vor allem diesen Störenfried beseitigen, diesen Thiers, der die Kastanien aus dem Feuer geholt in der vergeblichen Hoffnung, sie zu verzehren. Die bleiche Republik, die er verkündigt, – ebensowohl, weil er sich den großen Städten gegenüber mit seiner Ehre verpfändet, um während der Dauer der Kommune sie zur Neutralität zu zwingen, als auch, weil er sich als ihr Chef sehr wohl gefiel, – die Radikalen selbst stützten ihn, – auch diese bleiche Bürgerrepublik war der von ihrer Überzahl berauschten und sie mißbrauchenden Rechten ein Dorn im Auge. Bonapartisten, die endlich aus dem trüben Schatten der Kulissen, – wo sie während der ganzen Kommune gearbeitet hatten – hervortraten, um im Vordergrund der Bühne mit lauter Stimme und hocherhobenem Haupte zu operieren, Orleanisten und Legitimisten, jetzt zu einer einzigen großen Partei verschmolzen: der Partei der gegen die »Geusen« verschworenen Reaktion.

Der merkwürdige Geschäftsmann, der das Verbrechen begangen, nur die Geschäfte des Staates – die sich hier freilich mit den eigenen deckten – zu führen, der große Finanzmann, der mit den Milliarden jongliert, der Befreier des Landes, dem ganz Frankreich, der Ursachen vergessend, um dem Erfolg Beifall zu klatschen, zujubelt, – Thiers sieht sich eines Tages plötzlich wie ein Bedienter, dessen man überdrüssig geworden, verabschiedet.

Nun folgte die plötzliche Wahl des Marschalls Mac-Mahon; die Explosion des monarchischen Klerikalismus, der Bau des als allgemein nützlich erklärten Sacré-Coeur als Sühne für die Verbrechen von Paris auf dem Hügel von Montmartre, wo »die Märtyrer jener Tage für die Verteidigung und Rettung der christlichen Gesellschaft gestorben sind!« Dann die von der Nationalversammlung gebrandmarkten, in Lyon nach Stunden und besonderen Angaben geregelten Begräbnisse, die dem Verscharren von an der Pest Gestorbenen täuschend ähnlich waren.

Dann kamen die Negoziationen Chambords und der Rechten, die Bestellung der Karrossen Seiner Majestät; de Roy, der sich an seine Oriflamme klammerte; das von De Broglie in der Hoffnung auf ein Provisorium, in dem sich im Trüben fischen ließe, beendigte Septennat; der Strom und Gegenstrom der rückschrittlichen Parteien, der neuerliche Aufschwung der Bonapartisten und Legitimisten zur Macht, ihre schließliche Ohnmacht. Endlich, endlich, als man an der Sache verzweifelte, wurde einstimmig, – nach welch tödlichen Kämpfen! – die Republik votiert!

Dieser Tag erfüllte Thédenat und Poncet mit wehmütiger Freude. Unter diesem wütenden Ansturm der Vergangenheit ermaßen sie den trotz alledem sich emporringenden Sieg der Zukunft, die erstaunliche Auferstehung Frankreichs. Mit welch wunderbarer Lebenskraft hatte es sich vor den Augen des staunenden Europa aufgerafft, seine Trümmer hinweggeräumt und mit dem Neubau begonnen! Mit welch begeistertem Eifer hatte man für den Tag der Revanche gearbeitet!

»Ein schönes Beispiel physischer Energie«, sprach Thédenat, »das aber fruchtlos bleibt, wenn wir ihm nicht die völlige moralische Umwandlung zur Seite zu stellen haben ... Die Revanche haben wir nicht am Nachbar zu nehmen, sondern an uns selbst. Wenn wir im Jahre 70 besiegt wurden, wenn dem furchtbaren Krieg mit dem fremden Feind der noch weit furchtbarere Bürgerkrieg folgte, so geschah es, weil bei uns, in diesem großen Lande, das der Feuergeist der Revolution aus dem Aberglauben des Mittelalters aufgerüttelt, in diesem impulsiven, im Grunde edlen und großmütigen Frankreich das Gefühl für Recht und Billigkeit, das Pflichtgefühl geschwächt war! Trotz bewunderungswürdiger Hingebung und Opferfreudigkeit, trotz schöner Waffentaten, trotz Gambettas heldenhafter Bestrebungen – allzuschnell haben wir uns in die Schmach der Zerstückelung gefunden!

Wo wir noch hätten weiterkämpfen, vielleicht den Feind ermüden und das Lösegeld der Provinzen verringern können! ... Das allein schon hätte uns die Greuel der aus verkanntem Patriotismus hervorgegangenen Kommune erspart ... Im Anfang! später freilich ... Überall nur feige, selbstsüchtige Interessen, die Eile des Bauers, zu seinem Pfluge zurückzukehren, die gierigen Hände aller früheren Parteien nach der Herrschaft über Frankreich ausgestreckt! ... Und als diese aus der allgemeinen Schwäche geborene Nationalversammlung, diese Vereinigung von Ohnmächtigen, fünf Jahre lang an die in einer Stunde der Überraschung eroberte Macht sich Klammernden, sich gegen Paris wälzte, auch da noch haben wir unsere Aufgabe als freie Männer nicht erfüllt! Wie stumpfe Sklaven haben wir zugesehen, wie diese durch Zufall zur Macht gelangten Gebieter das gemeinsame Erbe an sich rissen, wie wir selbst uns gegenseitig zerfleischten ... Kaum hier und da ein guter Wille, die Bemühungen der Liga, euere schwachen Stimmen, Poncet ...

Wir haben hart gebüßt! Haben unseren oberflächlichen, von falschem Ruhm übertünchten Chauvinismus, unsere tiefe Erschlaffung, den Sumpf von Genußsucht, gemeinen Freuden und Habgier, in dem wir vor dem Kriege faulten, teuer bezahlt ... Der Peitschenhieb des Unglücks hat uns nichts genutzt, wenn wir nicht zu den tiefsten Ursachen hinabsteigen ... Wenn wir dessen nicht lange noch immer eingedenk bleiben ...

Nein, gewiß, wenn wir unsere Kräfte mit fruchtloser Reue lähmen, bleiben wir ewig im Schatten! Das Leben lehrt uns die notwendige Bewegung aller Dinge zum Licht! ... Wenn wir aber unsere von der empfangenen Lektion geschärften Blicke in die Zukunft richten ...

Ob sie nun sprungweise in jenen blutigen Erschütterungen, von denen Jacquenne sprach, vorwärtsdringt oder ob sie unmerklich, in so langsamer Entwicklung, daß sie unseren kurzsichtigen Blicken unbeweglich stillzustehen scheint, fortschreitet, die Menschheit unterliegt dem allgemeinen Gesetz des ewigen Werdens. Von uns, von der Willenskraft jedes einzelnen, dem solidarischen Zusammenwirken aller hängt es ab, ob in den ganzen sozialen Körper das Gleichgewicht, die Harmonie zurückkehre.

Wagen wir es, in dieses Chaos einzudringen! Was war die tiefste Ursache der Kommune? – Der Kommunismus! Der Traum aller der Unglücklichen, die, da sie in der Gegenwart nicht die Befriedigung der geheiligten Daseinsrechte finden, voll sehnsüchtigen Zorns einer besseren Zukunft entgegendrängen ... Wie ein gefälschter Wein, der den Durst täuscht und steigert ... An uns, die wir fest und energisch die bessere Zukunft herbeiwünschen, doch sie nur in Freude und Frieden kommen sehen wollen, an uns ist es, ihr Kommen zu beschleunigen, da in uns noch Intelligenz und Kraft wohnt, all das, was uns morgen fehlen wird, wenn wir es uns entreißen lassen, anstatt es gern und freigebig zu teilen! ... Seien wir ehrlich: wir alle, wir Privilegierten, können sprechen: Mea culpa! ... Konnten sie lesen, jene, die die Bibliothek des Louvre verbrannt haben? ... Wußten sie, daß sie sich selbst mordeten, diejenigen, die den Erzbischof töteten? Was wußten jene Kinder, die man mit von Petroleum und Pulver geschwärzten Händen von der Gasse auflas? ...«

Thédenat schwieg; dann, nachdem er Victor Hugos Vers:

» Oh! patrie! oh! concorde entre les citoyens!« gemurmelt, hob er die Stirn:

»Oh! Wenn alle Glücklichen Rossels Worte hören könnten: ›Es gibt in der Gesellschaft eine zahlreiche, arbeitsame, durch ihre Organisation mächtige Klasse, auf die weder euere Erbschaftsgesetze, noch euere Familiengesetze, noch auch euere Eigentumsgesetze anwendbar sind. Ändert euere Gesetze, oder diese Klasse wird hartnäckig versuchen, eine eigene Gesellschaft zu gründen, in der es keine Familie, keine Erbschaft, kein Eigentum mehr gibt!‹«

»Ja«, entgegnete Poncet, »unseren elenden Egoismus im Feuer einer neuen Moral ... An der Quelle des Evangeliums eine Religion der Gerechtigkeit schaffen, ohne Paradies und ohne Hülle, eine Religion, die nicht ihrem innersten Wesen durch die beiden gemeinen Triebfedern: Selbstsucht und Furcht, befleckt ist! Einander lieben und, um zu lieben, einander zu verstehen trachten! ... Dann werden wir einmütig an der Wiederaufrichtung des Vaterlandes arbeiten können. Oben wie unten ist die Gesellschaft von Grund auf neu aufzubauen.«

»Wir sind schon alt«, seufzte Thédenat.

Und doch hatte er nie noch so unerschütterlich an die Macht der Anstrengung durch die Anstrengung geglaubt.

»Andere werden kommen«, sprach Poncet.

Durch die geschlossenen Fenster betrachteten sie schweigend die kahlen Bäume, die aus dem entlaubten Luxembourg in den grauen Winterhimmel emporragten. Beide dachten an den unsichtbar schwellenden Saft, an die ewige Arbeit.

Ende.

 


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