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Fünfter Teil.

I.

Zu derselben Stunde, da im reservierten Garten der Tuilerien die letzten Orchesterklänge der Kommune ertönten, rollte über die zum Mont-Valerien führende Straße ein Wagen in leichtem Trab. In die Kissen zurückgelehnt, ließ Thiers seine brillenbewaffneten Augen über den mit jeder Umdrehung der Räder sich erweiternden Horizont schweifen und erfaßte die geringsten Einzelheiten.

Jenseits des großen grünen Fleckes des Bois de Boulogne lag der Gegenstand seiner Träume, dieses ungeheuere Paris, in dem zwei Monate vorher sein mißlungener Gewaltstreich ein durch körperliche und seelische Leiden, durch verwundeten Patriotismus und gerechte Forderungen zu halbem Wahnsinn aufgestacheltes Volk entfesselt hatte; dasselbe Paris, aus dem er entflohen war, um einen zum Krieg gegen die Menge bereiten Rest der Armee zu retten; das Paris, das er so sehr verkannt hatte und in dem er den unter der oberflächlichen Unordnung, unter der augenblicklichen furchtbaren Verwirrung gärenden Geist der Revolution und des Fortschritts, die Königin der Zukunft, die wachsende Demokratie haßte.

Bald würde er sie demütigen, diese aufrührerische Stadt, die ihn verhöhnt, verunglimpft, die seine voreiligen Berechnungen des Friedens mit Deutschland getäuscht und seinen senilen Ehrgeiz erraten hatte. Er konnte es ihr nicht verzeihen, daß sie in der Republik die Machterhöhung der Niederen, eine vollständige Rekonstruktion der alten sozialen Maschine erblickte, die doch mit ihrem harten Räderwerk, ihrem Zentralmotor, so tadellos funktionierte, wenn nur ein kluger Meister wie er, sie leitete. Die Republik, bei Gott, die wollte er ja auch, unter der Bedingung freilich, daß sie eine verkappte Monarchie in seiner Hand blieb.

Darum – das Hindernis brechen, gleichzeitig den Groll und die Wünsche der Nationalversammlung befriedigen, die gestern besiegte, morgen dank seiner Klugheit, siegreiche Armee für sich gewinnen und sein letztes Ziel, sein Regierungsideal, verwirklichen: auf lange Jahre hinaus die Hydra der Anarchie töten und die Zukunft reinigen. Der Augenblick war gekommen. Lange und geduldig hatte er die Waffe geschärft und geschliffen.

Während er sich gegen die Mitglieder der Versöhnungspartei taub stellte oder ihnen nur ausweichende Antworten gab, hatte er sich mit jugendlichem Eifer der militärischen Aufgabe gewidmet; er hatte dazu die Erfahrung seines vierundsiebzigjährigen, im Studium der napoleonischen Kriege gealterten Lebens mitgebracht. Seinen strategischen Kombinationen, seinem kühnen Genie verdankte die neue Belagerung ihren Erfolg: der »Schlüssel« von Montretout sollte die Tore öffnen. Man brauchte nicht zu dem vom Marschall ins Auge gefaßten Mittel zu greifen, das die Deutschen erleichtert hätten: als Herren der Eisenbahn von Saint-Denis bis zum Gürtel hatten sie sich erbötig gemacht, dessen Zugang auszuliefern. Nein, allein dank seiner fieberhaften Tätigkeit, seinem kriegerischen Genie wollte er dieses Paris zurückerobern, das die Deutschen nur durch Hunger zur Übergabe zu zwingen vermocht hatten. Eine ehrenvolle Revanche unter den Augen dieser arroganten Kenner, des gespannten Frankreich, des erstaunten Europa.

Soeben sollte im Kriegsrat über die definitiven Maßregeln verhandelt werden. Mit boshafter Freude betrachtete der Greis das von einem goldigen Schleier übergossene Häusermeer. Hoch oben am azurblauen Himmel stand in blendender Klarheit die Sonne. Fieberhafte Spannung durchzitterte die Luft. Thiers lächelte. Er war im Begriff, nun auf eigene Rechnung das Rettungsmittel anzuwenden, das er einst Louis-Philipp empfohlen hatte. In stolzerem Triumphe als Windischgrätz nach Wien, wollte er nach Paris zurückkehren.

Bald, vielleicht übermorgen schon, sollten hundertfünfzigtausend Mann, unter dem Zügel der Disziplin gezähmt, durch tägliche Kämpfe gestählt und mit kluger Berechnung gegen die Aufständischen aufgereizt, in das bloßgelegte Fleisch, in dem der Eiter des Abszesses sich nach seinem Wunsch gesammelt hatte, eindringen, gleich dem Stahl der Sonde. Schon schwelgte Thiers im Vorgenuß des ersehnten, nun nahe bevorstehenden Augenblicks des Aderlasses.

Die Hufschläge eines galoppierenden Pferdes kamen näher. Mit verhängten Zügeln jagte ein Generalstabsoffizier am Wagen vorbei; als er jedoch die wohlbekannte Gestalt erblickte, brachte er sein Pferd zum Stehen und berichtete in hastigen Worten:

»Herr Präsident, General Douay wird nicht im Kriegsrat erscheinen können. Er hält in diesem Augenblick seinen Einzug in Paris!«

Thiers war von dieser unerwarteten Nachricht so überrascht, daß er seinen Ohren nicht zu trauen wagte und nähere Aufklärung verlangte:

Auf der Bastion 64, nächst dem Tore von Saint-Cloud, war ein Mann erschienen, der ein weißes Taschentuch schwenkte und den Vorposten ein Zeichen machte, näherzukommen: der Point-du-Jour war verlassen, Tor und Wälle leer. Anfangs hatte man einen jener Fälle von Verrat gefürchtet, unter denen man mehrmals schon zu leiden gehabt hatte; ein Hauptmann jedoch hatte sich vorgewagt und die Nachricht bestätigt. Der Mann, ein Straßen- und Brückenaufseher namens Ducatel, war vertrauenswürdig. Man konnte vorrücken. Der General war, sofort benachrichtigt, herbeigeeilt und hatte unverzüglich nach Montretout den Befehl geschickt, das Feuer einzustellen; die Spitzen der Kolonne überschritten den Gürtel.

Thiers neigte sich vor und gab dem Kutscher Befehl, schnell zuzufahren. Schon hatte der Offizier seinem Pferd wieder die Sporen gegeben und verschwand bald in einer dichten Staubwolke. Der Greis zitterte vor Ungeduld und fand erst Ruhe, als der Wagen über die Zugbrücke der Festung rollte. Die versammelten Chefs erwarteten ihn und umringten ihn bei seinem Eintritt. Ladmirault, erregter als er sich merken lassen wollte, verbiß mürrisch seinen Verdruß, nicht als erster haben einziehen zu können. Mac-Mahon hatte sich bereits wieder dem Fernrohr zugewandt und bückte seine trotz seines Alters immer noch elegante Gestalt; mit banger Spannung folgten seine Augen den fernen Bewegungen. Plötzlich richtete er sich auf und rief mit erregter Stimme:

»Wir werden zurückgedrängt!«

Thiers glaubte, die Sonne erlöschen zu sehen. Er stürzte auf eines der Fernrohre zu, um mit eigenen Augen sich zu überzeugen, was an der Sache sei. In der Tat kamen die Soldaten, jedoch ohne sichtliche Hast, aus dem Tor von Point-du-Jour heraus. Gleichzeitig ließ sich die Stimme des Schiffskapitäns Krantz, der ebenfalls durchs Fernrohr blickte, vernehmen:

»Die Leute fliehen nicht ... Wir werden nicht zurückgedrängt! Sie führen ein von hier aus unverständliches Manöver aus ...« Immer neue Soldaten wandten sich in voller Ordnung dem Tore zu. Kein Zweifel ... Der Marschall erholte sich von seinem Schrecken. Die Freude kehrte in Thiers' Herz und das aller anderen, auch Ladmiraults, zurück. In langen, schwarzen Schlangen entrollten sich die Kolonnen durch die Falten des Terrains und zogen langsam in Paris ein.

Thiers besprach mit dem Marschall die letzten Entschließungen; letzterer sollte sich an die Tête der Korps Douay und Ladmirault stellen und vorsichtig vorrücken, während er selbst nach Versailles zurückkehren wollte, um Vinoy und Clinchant zu senden und an Cissey Ordre zu senden, auch seinerseits zu operieren und das linke Ufer zu besetzen. Den Kopf von Schlachtenplänen schwirrend, rollte der Greis seinem Hauptquartier zu, beriet, kaum in Versailles eingetroffen, mit Krantz und dem Intendanten Ranson über die Anhäufung des Proviants, die Absendung von Lagerstroh und ließ an die Präfekten eine Depesche ergehen des Inhalts: »Das Tor von Saint-Cloud ist unter dem Feuer unserer Geschütze gefallen! General Douay hat durch dasselbe Paris betreten.« Nachdem er dann noch mit seiner Familie und einigen Freunden, die seine Freude teilten, diniert, fühlte er das Bedürfnis nach ein wenig Ruhe und legte sich zu kurzem Schlummer auf seinen künftigen Lorbeeren nieder. Um zwei Uhr morgens war er wieder auf, verließ das Haus und zog um drei Uhr, indem er die Züge der Proviantwagen überholt, in finsterer Nacht, als eiliger Sieger in das Paris ein, aus dem er an hellem Tage mit gleicher Eile geflüchtet war.

Auf der Straße von Versailles nach Montrouge, in der sanften Dämmerung desselben Tages, ließ ein junger Oberstleutnant in schwarzem, goldverschnürtem Dolman sein dampfendes Pferd in Schritt fallen. Auf seinem scharfgeschnittenen, energischen Gesicht lag der Ausdruck düsterer Befriedigung.

In den im Pavillon de Monsieur untergebrachten Generalstab hatte die große Neuigkeit wie eine Bombe eingeschlagen. Während ein Teil des großen Hauptquartiers zu Pferd stieg, um sich dem Marschall anzuschließen, hatte d'Avol den Auftrag erhalten, dem telegraphisch benachrichtigten General von Cissey ergänzende Instruktionen zu überbringen. Während er auf der Chaussee dahingaloppierte, genoß er mit überquellender Freude die Schönheit des aus warmem Amethyst in violette Schatten tauchenden Abends. Endlich, endlich sollte dieser alberne Krieg enden! Die Schrecken des Angriffs waren vermieden. Jetzt noch ein frischer Marsch, und man sah diese Horden von Verrätern und Verbrechern vor der disziplinierten Armee, vor Gerechtigkeit und Ordnung sich lösen. Mit einem raschen Besenstrich wurde Paris von dem Schlangengezücht befreit.

Seit einem Monat hatte d'Avol seinen Zorn, seinen mystischen Widerwillen gegen diese Vaterlandsverräter und Gottlosen täglich wachsen gefühlt. Um ihn her, im Kreise seiner Kameraden und Bekannten, wetteiferte man in blutdürstigen Worten und kühnen Drohungen, bei keinem aber war der Haß so mit fanatischer Überzeugung und unbeugsamer Härte gesättigt. Mit Arbeit überhäuft, war er ein seltener Gast im Hause der Grandprés, wo die Gegenwart Aninas trotz ihres herzlichen Entgegenkommens und der Freundschaft Bersheims ihm eine unfreiwillige Quelle des Schmerzes war. Vergebens, daß er sich Vernunft einzureden suchte. Nein, er liebte sie nicht mehr; und doch war es ihm peinlich sie so ganz unter Du Breuils Einfluß, ihm entfremdet und verschieden an Seele und Ideen zu erkennen. Wie fern stand er ihr mit seiner Art, zu denken und zu fühlen! Diese Erkenntnis war ihm schmerzlicher, als wenn Anina allein sich verändert hätte. War es verletzte Liebe? verwundete Eitelkeit? ... Wohl beides zugleich, die angeborene männliche Eifersucht, die unter den Schmerzen des Geistes den Kummer des Herzens verbirgt.

Er hatte nur selten und flüchtig Gelegenheit gehabt, mit Du Breuil zusammenzutreffen, und immer war es mit einer Art befangener Freude, doch ohne Bedauern, ihm nicht häufiger zu begegnen, geschehen. Er liebte in Pierre den ehemaligen Freund und ahnte zugleich in ihm einen geheimen Feind seiner neuen Überzeugungen. Einen Feind, denn in solchen Dingen ist Zweifel gleichbedeutend mit Widerspruch. Wer immer nicht mit ihm, d'Avol, war, der war gegen ihn.

Sein Pferd hatte sich erholt; nun gab er ihm die Sporen und fiel wieder in gestreckten Galopp ... Die Gedanken eilten ihm voraus. Er kannte die Trunkenheit der Rache, die bei Beaune-la-Rolande ihn fortgerissen, bei den ersten Kanonenschüssen, die er nach der langen Stille von Metz gegen die deutschen Massen hatte richten lassen.

Er fand das Hauptquartier in großer Aufregung; der Ausdruck, der sich auf den Gesichtern aller malte, war mehr der der Befriedigung, als der der Überlegung. Nachdem seine vertrauliche Sendung erledigt war, wurde er von Chenot zum Diner zurückbehalten. Während der Mahlzeit kam Du Breuil dazu, nachdem er die detaillierten Ordres expediert hatte. Voll Herzlichkeit drückte er d'Avols Hand und antwortete ruhig auf die Fragen seines Vorgesetzten. Chenot schätzte ihn wegen der eleganten Überlegenheit, der kaltblütigen Besonnenheit, womit er jede Schwierigkeit zu beseitigen und als diskreter Ratgeber, der ihm nur die billige Ehre der Entscheidung überließ, seine Stelle zu vertreten wußte.

Du Breuil teilte das einstimmige Gefühl der Freude nur mit einiger Zurückhaltung. Er freute sich vor allem darüber, daß der Sturm vermieden worden war und der Einzug sich ohne Blutvergießen vollzog. Der am meisten gefürchtete Schritt war getan. Thiers' beruhigende Versprechungen kamen ihm in den Sinn: »Sobald die Tore geöffnet sind, werden die Kanonen ihr Feuer einstellen. Bald wird wieder Ruhe, Ordnung, Überfluß und Frieden herrschen!...« Schon schwieg das dumpfe Getöse von Montretout und dem Mont-Valerien...

Welche Erlösung!

Du Breuil dachte an Anina. Einige Wochen noch, und ihr Glück wurde zur Wirklichkeit. Und doch verfolgte ihn ein dunkles, undefinierbares Gefühl des Unbehagens, das die grausamen Reden um ihn her noch erhöhten. Ein Ordonnanzoffizier erklärte:

»Jeden, der mir in die Hände fällt, schieße ich nieder! Eine Räuberbande!«

Die Mahlzeit war beendet. Während Chenot seine Zigarre anzündete, es sich in seinem Fauteuil bequem machte, mit philosophischer Ruhe den Rauch von sich blies und von Zeit zu Zeit seinen Bart la á d'Aumale glättete, dabei mit dem um ihn versammelten Kreis von Offizieren plauderte – mußten noch drei lange Stunden des Wartens totgeschlagen werden, bevor der General sich hinter seinen Truppen in Bewegung setzte – während dieser Zeit begleitete Du Breuil den Freund nach dem Stall, wo dieser sein Pferd eingestellt hatte.

Unbehagliches Schweigen herrschte zwischen ihnen, erfüllt mit dem, was sie einst einander gesagt, mit dem, was sie in diesem Augenblick verschwiegen. D'Avol war es, der das Schweigen mit jenem Ton aufreizender Schärfe brach, in dem Du Breuil zu seinem Schmerze alle Bitterkeit ihrer früheren Zwistigkeiten wieder erkannte.

»Endlich!« sagte d'Avol, »endlich stehen wir vor dem Ziel und können diese Elenden richten!«

»Elende!« seufzte Du Breuil. »Sage lieber: Unglückliche!«

»Immer noch empfindsam? Du klammerst dich ans Detail und verlierst dabei das Ganze aus dem Auge. Sollten wir um einiger Irregeleiteten wegen, – die, unter uns gesagt, nicht einmal gar so sehr zu bedauern sind, da sie ja nicht hätten dabei sein müssen, – alles Übel vergessen, das diese Meute dem Vaterland angetan hat? Sie ekelt mich an in ihren Ursprüngen: die gemeine Anmaßung der Unwissenheit und des Neides. Sie flößt mir Abscheu ein durch ihre Resultate: dank ihr hat der Deutsche festeren Fuß bei uns gefaßt und lastet auf uns mit der Wucht seiner Gegenwart und seiner Forderungen; dank ihr freut sich der Deutsche unserer Demütigung, die ihm zu statten kommt! ...«

»Mein Gewissen«, sprach Du Breuil, »wäre ebenso ruhig, wie das deine, wenn ich nicht an die Teilung der Verantwortung dächte. Du sagst, ich klammere mich ans Detail? Bist du denn sicher, nicht die Ursachen zu vergessen, indem du die Wirkungen konstatierst? Richtest du nicht durch einen allzu summarischen Urteilsspruch diese Erhebung eines Volkes, die Empörung einer der ersten Städte der Welt? Ist der Grund dazu nicht doch vielleicht tiefer zu suchen?«

»Das leugne ich. Wütende Böllerei, alberne Instinkte der Zerstörung, das ist es, was man am Grunde findet! Am Werk erkennt man den Meister. Und da dies das Volk ist, so behaupte ich, daß seine Stunde noch nicht gekommen ist, und daß, seine Herrschaft über das Unglück und den Ruin Frankreichs anerkennen, das Verderben des Landes bedeuten würde. Ein Offizier, ein Soldat, kann nicht anders denken. Jedes vergebliche Mitleid wäre verdammenswert. In einem Interesse, das höher steht als das einiger Individuen, im Interesse des Landes, muß das Übel mit der Wurzel ausgerottet werden. Die Macht muß beim Gesetz bleiben. Sich mit allen Mitteln gegen solche Feinde schützen, ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht der Gesellschaft.«

»Ja«, versetzte Du Breuil, »weil die Deutschen im Lande sind, weil Frankreich vorerst die offene Wunde, aus der es blutet, verbinden muß, deshalb hast du recht, muß die Macht beim Gesetze bleiben. Und deshalb tue ich auch, so sehr ich darunter leide, meine Soldatenpflicht. Kann aber das Gesetz wenn es siegreich ist, nicht auch milde und barmherzig sein? Das Übel mit der Wurzel ausrotten wollen, hieße das nicht, allzu scharf ins Zeug gehen? Gebietet das die Gerechtigkeit? Und wer hat denn dieses Übel verursacht? wer hat es mit Härte unterstützt? Sind denn die Rechte der Gesellschaft das ewige, ausschließliche Privilegium einiger wenigen? Ist es nicht dafür auch ihre Pflicht, die Erziehung, den Wohlstand, die moralische Persönlichkeit und den materiellen Zustand der großen Menge zu bessern und zu fördern? ... Hat sie das getan? Sind die ersten Gesetze der Nationalversammlung, sind ihre Tendenzen in Übereinstimmung mit der Bewegung, die seit einem Jahrhundert, allen restriktiven Maßregeln zum Trotz, in Frankreich gärt und es erfaßt? Wer weiß, ob diese Krisis, in der das Land sich befindet, weit entfernt, ein Rückfall in die Finsternis zu sein, nicht vielmehr der beginnende Kampf des Lichtes, die bleiche Morgendämmerung eines neuen Tages ist?«

»Mein Kompliment!« spottete d'Avol, von Zorn geschüttelt. »Das verspricht eine stolze Zukunft: die Generäle erschossen, das Eigentum geschändet ... Wie einfach das ist! Du bist Christ, ich nehme dich gefangen und erschieße dich! Du behauptest, ein Bürger zu sein? Vorwärts, in den Kampf gegen deine Brüder! ... Du hast Geld, leere deine Taschen... Ruhm? eine zu schöne Sache, nieder mit der Säule! ... Nichts Heiliges mehr, weder Gott, noch seine Diener! Das Vaterland, haha! es lebe die Internationale! ... Das nennst du die Morgenröte? Dann bewahre uns die Vorsehung vor dem Tage!«

»Gut denn!« entgegnete Du Breuil, »mögen denn die Schuldigen büßen ... Es gibt Gerichte. Daß aber hier jedermann, daß du und die anderen euch, wie eine berechtigte und wünschenswerte Sache, nicht allein das Amt des Richters, sondern selbst die Funktionen des Scharfrichters anmaßt, das begreife ich nicht... Sage, was du willst, das ist nicht die Aufgabe der Armee, kann es nicht sein. Ich kann es nicht vergessen, daß diejenigen, die du als die schlimmsten Feinde betrachtest, in der großen Mehrheit Franzosen sind, daß wir vor drei Monaten noch unter derselben Fahne mit ihnen kämpften, daß dieses Paris, in das wir einzuziehen im Begriffe sind, dasselbe ist, das durch seinen Heldenmut, durch die Ausdauer der Armen und Niederen den Sieger solange aufgehalten, die Verteidigung verlängert hat! – Fühlst du denn in Leib und Seele so gar nichts Gemeinsames mehr mit jenen, die ihr sämtlich gefangen zu nehmen und in Massen niederzuschießen gedenkt? Hast du denn nicht, gleich mir, in den Avenuen von Versailles die Ankunft der Gefangenenkolonnen gesehen, hast dich nicht, gleich mir, der Rohheit geschämt, mit der Schwache, Besiegte, Unschuldige vielleicht, gemartert wurden? Es gibt etwas, was gemeiner ist, als die Rache von unten, die Rache der Unwissenheit und des Neides, wie du es nennst, – das ist die Rache von oben: die der Stärkeren, der Gebildeteren, der Reicheren, wenn sie im Namen des Egoismus und der Furcht geübt wird!«

D'Avol protestierte:

»Ich hasse wie du diese kläffenden Bürger, ich fordere eine unbeugsame, aber würdige Gerechtigkeit. Ich denke an die Zukunft.«

»Die Zukunft!« rief Du Breuil mit größerer Wärme aus, »es ist allerdings leicht, nach dem Anschein der Gegenwart die Zukunft zu beurteilen! ... Wer weiß, ob aus diesen bedauerlichen Kämpfen, für die wir, die Leitenden, vielleicht am meisten verantwortlich sind, da wir, statt sie zu verhindern oder doch zu mildern, sie vielmehr noch gereizt und geschürt haben, nicht eine bessere, gerechtere Zukunft erstehen kann? Eine Ordnung der Dinge folgt der anderen, du magst es wollen oder nicht. Um so schlimmer, wenn du es nicht einsehen willst. Das ist das Gesetz des Lebens. Wirst du es hindern, sich zu vollziehen? Ohne Schmerzen und Blut keine Geburt. Wenigstens hängt es aber von uns ab, ob das Unabwendbare ohne allzugroße Erschütterungen und Brutalitäten geschehe. Weshalb dieses Morgen, das, wenn es auch deinem selbstherrlichen Ideal nicht entspricht, doch seine Schönheit haben kann, durch Groll und Haß erschweren?«

D'Avol fiel ihm ins Wort:

»Frankreich, das älteste Kind der Kirche, kann nur dann seine ehemalige Größe wiedererlangen, wenn es sich vor dem neuen Geiste, vor jenen Sophismen, von denen ich dich zu meinem Schmerze beeinflußt sehe, bewahrt. Möge die Fackel der Vergangenheit uns die Zukunft erleuchten. Die Zukunft, die du träumst, ist so fern, daß das Vaterland Zeit fände, unterwegs zugrunde zu gehen. Laß uns daher nur beachten, was vor unseren Augen liegt, das fürchterliche Chaos und die Verstümmelung der Grenze. Bevor wir an eine Reform denken, müssen wir die Ordnung von Grund aus wiederherstellen, um schnell an der Neubildung der Armee arbeiten zu können... Alles muß neu geschaffen, neu geschmolzen werden, Geist, Reglements, Methoden! Wenn ich daran denke, wieviel Zeit wir verloren haben...«

Schweigend sah Du Breuil zu, wie ein Liniensoldat das Pferd seines Freundes aus dem Stall führte. Welche Kluft trennte ihn, trotz der immer noch gemeinsamen Punkte, von dieser hochmütigen Unversöhnlichkeit, dieser strengen Selbstsicherheit! Wie hatte der Krieg sie beide verwandelt! Mit demselben Stempel geprägt, waren sie ausgezogen; und jetzt – gab es, von ihrem Patriotismus abgesehen, auch nur zwei Punkte, in denen ihre Ansichten über Moral und Religion sich begegneten? Ihre sozialen Anschauungen, die Auffassung ihrer Soldatenpflicht erweiterten den sie trennenden Abgrund. Und mit gleicher Verwunderung fragte sich d'Avol, welche Gedankenverwirrung Du Breuil in solchem Maße hatte verwandeln können. In nervöser Erregung klopfte er sich mit der Peitsche auf die Stiefelspitze.

»Wenn ich daran denke«, versetzte Du Breuil im Ton mit Ironie gemischter Trauer, »daß ich Duval kalten Blutes habe erschießen sehen, und Bazaine, der uns Schlimmeres angetan hat, frei umhergeht! ... Weißt du, daß ich dich bewundere? ... Ich wollte, mein Handwerk möchte in diesen Tagen mir ebenso leicht werden, wie dir! ... In Metz warst du derjenige, der sich gegen die Disziplin auflehnte; warst du es, der sich unter dem Joch aufbäumte, während ich mich darunter beugte! Und jetzt bist du es, der sich auf diese taube, blinde, unbarmherzige Disziplin beruft.«

Mit blitzenden Augen stellte sich d'Avol ihm gegenüber:

»Welcher Vergleich?«

»Allerdings«, bestätigte Du Breuil. »In Metz handelte es sich nur um den militärischen Ehrenpunkt. Hier gilt es unser Gewissen als Mann und Mensch.«

»Du hast es gewollt«, sagte d'Avol. »Ich hätte es lieber vermieden, den Streit so weit zu treiben! ... Gut denn, ich bin es, der sich auf die früher verletzte Disziplin beruft! Der Widerspruch ist nur scheinbar. Ich gehorche derselben Pflicht, der gebieterischesten aller Regeln, dem Heil des Landes! Ich habe gelitten, ich habe mich gedemütigt, ich habe gebetet. Was sind wir? Nichts ohne die göttliche Hilfe. Der des Beistandes von oben beraubte Mensch sinkt zum Tier herab. Ein Beispiel dafür, dein Paris! ... In deinem Skeptizismus, deiner Manie, zu kritisieren, bildest du dir also wirklich ein, daß die Gesetze von ehemals, diejenigen, die unsere Suprematie gegründet haben, veraltet und schlecht sind und die der Zukunft besser sein werden? Als ob die armselige menschliche Kreatur ohne Religion vervollkommnungsfähig wäre! Du täuschest dich mit Hirngespinsten. Die Erfahrung entscheidet. Nur eine vom Glauben beseelte, durch zwingende Gesetze unterstützte Gesellschaft ist lebensfähig. Eine energische Regierung, auf einen tatkräftigen, streitbaren Klerus, auf streng ihres Amtes waltende Behörden und eine gefürchtete Armee gestützt, das sind die Bürgschaften einer Nation. Das allein ist die Wahrheit.« Er setzte den Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Du Breuil verschmähte es, zu antworten; tiefe Schwermut überkam ihn; ein Gefühl der Vereinsamung, – Anina so fern, d'Avol so fremd, – die Drohung des Unbekannten, alles, was er um sich her reden hörte, erfüllte ihn mit Trauer und Bangen. Erforderte denn wirklich im Augenblick des Sieges das Wohl des Landes – von christlicher Barmherzigkeit ganz zu schweigen – einen solchen Rachedurst, eine solche Mordgier? ...

D'Avol drückte ihm flüchtig die Hand:

»Adieu!«

»Adieu!« gab Du Breuil zurück.

Regungslos blickte er seinem alten, durch langjährige Gewohnheit teueren Freunde nach, mit dem er sich doch zu seinem Staunen so gar nicht mehr verstand.

Langsam verstrichen die Stunden. Man wartete, bis die Tete der Angriffskolonnen sich am Fuß der Umwallung massiert hätten. In aller Stille näherten sich die Geniesappeure der Porte de Sevres und errichteten aus Bohlen eine Rampe; Mann für Mann passierte eine Chasseurkompagnie den engen Durchgang, und während sie der Gürteleisenbahn zustürmte und unbemerkt diese zweite Batterie erkletterte, öffnete die Brigade Bocher das Tor von Versailles. Es war halb drei Uhr, als Du Breuil hinter Chenot die Schwelle überschritt. Ohne einen Flintenschuß breitete sich das Korps Cissey aus und besetzte das linke Ufer.

Siebzigtausend Mann befanden sich bereits innerhalb der Mauern von Paris. Den hinter Ducatel eingedrungenen ersten Wachen und Arbeitern der Laufgräben folgend, rückten die Kolonnen Douays nach einigen beim Eintritt gewechselten Flintenschüssen allmählich zwischen dem Viadukt und der Porte ziehen eine Batterie von sechs Geschützen, und weiterhin Assi mit, der eine Division Berthaut, erreichte Auteuil und Passy und brachte nach kurzem Kampfe Sainte-Perine und den Place d'Auteuil in ihre Hände; die andere, Division Bergé, von Vinoys Armee, warf eine starke Barrikade um, raffte im Vorüberziehen eine Batterie von sechs Geschützen, und weiterhin Assi mit, der eine Ronde anführte. Mit vorsichtigen Schritten stieg die Division zum Trocadero hinauf, den man unterminiert glaubte. Von rückwärts angegriffen, fielen die Vorwerke beim ersten Anstoß; achthundert Föderierte wurden zu Gefangenen gemacht und das ungeheure Pulvermagazin Beethoven erobert, ein Labyrinth von unterirdischen Galerien, in denen siebzigtausend Kilogramm Pulver, Millionen von Patronen und Tausende von Granaten aufbewahrt wurden.

Indessen war vorne der Strom in stetem Anschwellen begriffen. Gegen neun Uhr zog das Korps Clinchant ein und öffnete, den Gürtel entlang marschierend, die Tore von Auteuil und Passy. Immer neue Fluten strömten zu. Während Clichant gegen die Muette marschierte und die um Dombrowski gescharten Freiwilligen daraus vertrieb, trafen die Divisionen Ladmirault und Vinoy in tiefer Stille ein, breiteten sich aus und vereinigten sich mit dem Korps Ceissey. Kaum daß hie und da vereinzelte Detonationen krachten, Flintenschüsse, welche fliehende Föderierte, irgend einen überfallenen Verteidiger niederstreckten, das dumpfe Geräusch der Schritte, das dichte Anschwellen dieser Menschenfluten, gleich dem erstickten Murmeln einer steigenden Überschwemmung.

Zur gleichen Zeit schlug Mac-Mahon, sein provisorisches Quartier in Boulogne verlassend, in der Rue Vineuse sein Lager auf, oberhalb des Place du Roi-de-Rome, wo Thiers nach seinem Eintreffen ihn derart mit Ratschlägen und militärischen Weisungen bestürmte, daß der Marschall die Geduld verlor und sich zur Wehr setzte: zwei Kommandos, das war hier zu viel; man möge ihm, als dem Generalissimus der Armee, doch die Sache allein überlassen; er trug allein die Verantwortung, so wolle er sie auch allein ausüben! ... Thiers ließ es sich gesagt sein, überließ seinen Stellvertreter einem Barrikadenkrieg, bei dem er selbst nichts mehr zu tun hatte und fuhr am frühen Morgen wieder ab.

Beim Verlassen von Boulogne – das in einen Trümmerhaufen verwandelt war, – begegnete sein Wagen plötzlich einer von Soldaten geführten und vorwärtsgetriebenen Menge. Männer und Frauen, Kinder und Greise, zerlumpt stumpfe Gleichgültigkeit oder Verzweiflung und Wut in den verstörten Zügen, so schritten die ersten Gefangenen dahin. »Trümmer und Haß! das ist alles, was der Bürgerzwist nach sich zieht!« sagte sich der dürre Greis. Daß er einer der Hauptschuldigen war, kam ihm gar nicht in den Sinn. Sein Herz empfand keine Reue.

Immer noch über den unverhofft schnellen Einzug erstaunt und nicht wagend, an einen so leichten Sieg zu glauben, pflog man im Generalstab endlose Beratungen und entwarf einen methodischen Angriffsplan mit langsamem Vorrücken. Clinchant, der um Erlaubnis bat, vorwärtszustürmen, in den Park Monceau und über die Boulevards in die Tuilerien und den Louvre zu dringen, erhielt gemessenen Befehl, stehen zu bleiben. Montmartre, der Konkordienplatz, der Vendômeplatz, das Rathaus, alle diese Orte galten als fast uneinnehmbare Festungen.

Durch sein Mißgeschick eingeschüchtert, hegte der ehemalige Oberbefehlshaber der Châlons-Armee keine Hoffnung, all dies in einem Tage zu erobern, und begann seine Operationen, ohne auf einen günstigen Zufall zu hoffen. Strenge Weisungen gingen nach allen Seiten ab und hemmten überall die so günstig begonnene Bewegung. Douay und die Division Bergé durften bis zum Abend nicht über den Industriepalast und das Elysée vorgedrungen sein; Clinchant sollte den Bahnhof Saint-Lazare, die Kaserne La Pépiniere und das College Chaptal einzunehmen suchen. Ladmirault hatte den Auftrag, seinen Vormarsch auf die Porte Asnierès zu beschränken, während Cissey auf dem linken Ufer sich der Militärschule, des Invalidenpalastes und, wenn möglich, des Bahnhofes Montparnasse bemächtigen sollte ...

Fast ohne Schwertstreich dehnte die Armee, die bei Tagesgrauen sich in Bewegung gesetzt hatte, das Netz von lebendigen Maschen aus. Während die Division Bergé, geradeaus vordringend, das Proviantmagazin, wo sie dreißigtausend Brotrationen fand, und den Industriepalast okkupierte, wo sie Hunderte von Verwundeten zu Gefangenen machte, erreichte Douay am frühen Morgen den Arc de Triomphe, das Elysée, die Pépiniére; Clinchant nahm zwischen dem Bahnhof Saint-Lazare und der Porte d'Asnières Aufstellung, von Ladmirault unterstützt.

Mit gleicher Leichtigkeit eroberte die Division Bruat auf dem linken Ufer das Ministerium des Äußern und das Palais Legislátif. Das Barackenlager auf dem Marsfeld wurde durch Vinoys Granaten in Brand gesteckt, die Militärschule mit einem ungeheueren Park von zweihundert Geschützen, zahllosen Wagen, riesigen Pulvervorräten, und den mit Effekten, Munition, Lebensmitteln überfüllten Magazinen fiel in die Hände Cisseys, der bald auch Herr des Invalidenpalais und, einige Stunden später, des Bahnhofes Montparnasse wurde. Noch hatte es nicht die Mittagsstunde geschlagen, als man fast auf der ganzen Linie die vorgeschriebenen Grenzen erreicht hatte. Von Straße zu Straße, von Platz zu Platz war unter warmem Sonnenschein und in leuchtender Bläue sich wölbendem Himmel die unbarmherzige Flut gestiegen, alles um sich her verschlingend. Von Zeit zu Zeit dröhnt der Lärm der Schlacht, wälzt sich eine Wolke von Flammen und Rauch durch die Luft, aus der Manege der Kriegsschule, die die Föderierten in die Luft sprengten, aus dem Finanzministerium, das die Versailler Granaten angezündet hatten, aufsteigend.

Kurze Gefechte, von summarischen Exekutionen gefolgt. Auf der Muette lagen am Fuß einer Mauer auf einem Haufen dreißig Föderierte, die sich nicht hatten rühren wollen. Auf dem Bahnhof Montparnasse, wo Oberst Boulanger das Kommando hatte, fanden fortwährende Hinrichtungen statt. Im Park Monceau waren entwaffnete Nationalgardisten, ja sogar Frauen, vor ein Peloton von Stadtsoldaten geführt und erschossen. In der Umgebung der Champs Elysées wurden die in den Häusern versteckten Föderierten herausgeschleppt und unverzüglich hingerichtet. Im Bois de Boulogne war der gedeckte Weg nächst den Laufgräben mit Bächen von Blut überrieselt.

So rückte mit unbeugsamer Langsamkeit, gleich einer blinden Riesenmaschine, die Armee vor, um bald in ihrem Marsch, aber nicht in ihrem Rachewerk, innezuhalte. Ein Anstoß, und diese hunderttausend Mann hätten, durch die bloße Gewalt ihrer Masse, die Kommune und ihre Fesseln sprengen und binnen einiger Stunden die kopflos sich gebärdende Stadt zurückerobern können.

Die erste Nachricht vom Einzug – eine Depesche Dombrowskis, überbracht durch Billioray, den man dabei zum letztenmal sah – war erst Sonntag um sieben Uhr abends im Rathaus bekannt geworden. Farblos und fruchtlos wie die früheren Sitzungen, in denen man über die Abschaffung der Adelstitel und der Ehrenlegion beraten hatte, schleppte auch diese sich hin. Ein Teil der andersdenkenden Minorität ist anwesend; Cluseret wird als indolent und unverschämt verurteilt; die Sozialisten fürchten, man könnte ihnen vorwerfen, die Verantwortlichkeit abzulehnen. Vallès präsidiert. Vermorel spricht: – »Schließen Sie die Sitzung!« sagt eintretend Billioray, dessen Gesicht tiefbleich ist; die Depesche zittert in seiner Hand.

Sofort tritt das Geheimkomitee zusammen. Nachdem die Depesche verlesen, herrscht bleiernes Schweigen. Niedergeschmettert, hört jeder in seinem Innern den Ton der Totenglocke. Die letzte Stunde hat geschlagen. Die Gesichter erstarren in der Verzerrung der Angst oder bedecken sich mit Todesblässe; die Blicke suchen oder meiden sich. Man steht vor dem schicksalsschweren Augenblick, der nie hätte kommen sollen. Der Abgrund tut sich auf und verzweifelt fühlen sie sich hineingezogen; die einen als unglückliche Spieler, nur den einen Wunsch noch kennend: zu verschwinden, ohne zahlen zu müssen; die anderen, Wut im Herzen, sich darein ergebend, in dem allgemeinen Blutbad, das nun bevorsteht, das Leben zu lassen. Paris, die Revolution, diese Wochen unerhörter Macht, alles stürzt zusammen. Nur einige noch hoffen auf den Straßenkampf; noch kann die rote Flagge den Sieg verkünden oder den heldenmütigen Untergang in ein purpurnes Leichentuch von Blut und Feuer hüllen. –


Die Sitzung wird wieder eröffnet. Als ob nichts vorgefallen wäre, werden die Debatten fortgesetzt, mit einem Anschein von Würde, unter der sich die Nichtigkeit der Beschlüsse verbirgt. Man wechselt bedeutungslose Worte, man spricht Cluseret frei und trennt sich. In kleinen Gruppen verläßt man auf Nimmerwiederkehr diesen Saal, der allzuviele Torheiten und allzu wenig gerechte Worte vernommen hatte. Man steigt die Treppe hinab, auf der die weintrunkenen Wachen des Zentralkomitees geschlafen hatten, die Banner der Freimaurer aufgepflanzt gewesen waren, die Stufen, auf denen ein beständiger Bienenschwarm von Boten, Bittstellern, pulvergeschwärzten Soldaten und abgewiesenen Mitgliedern der Versöhnungsliga geschwirrt hatte.

Gleich einem Kapitän, der seinen Posten verläßt, so flüchtet der Pariser Gemeinderat aus seiner großen Wohnung, diesem feierlichen, steingefügten Zeugen, der an seinen Mauern die Jahrhunderte vorüberziehen gesehen hatte.

Die kleinen Schatten verschwinden.

Im Kriegsministerium die gleiche Bestürzung. Anfangs wollte man die Nachricht nicht glauben. Delescluze protestiert: – ein blinder Alarm; das Observatorium des Triumphbogens hat nichts gesehen; Verstärkungsbataillone sind kommandiert; ein Plakat verkündigt dies. Bald aber bestätigt sich das Gerücht. Die noch nicht okkupierten Stadtteile füllen sich mit dem düsteren Lärm der Sturmglocken. An allen Straßenecken ertönt der Generalmarsch. Um fünf Uhr morgens wird das Ministerium schleunigst geräumt.

Der Tag geht auf, in der blendenden Pracht des Frühlingsmorgens dringt die Armee von Versailles vorsichtig vorwärts. Kaum daß hie und da unförmliche Barrikaden den Weg hemmen. Delescluze, der endlich sich der furchtbaren Wirklichkeit nicht verschließen kann, läßt ohne Furcht, die Verwirrung noch zu vermehren, an die Niederen, die Aufrichtigen und Entschlossenen den Aufruf ergehen: »Genug des Militarismus, keine mit goldenen Borten und Schnüren geschmückten Generalstäbler mehr! Platz für die bloßarmigen Kämpfer!«

Während das Gewehrfeuer kracht und vereinzelter Widerstand sich geltend zu machen beginnt, versammeln sich etliche Mitglieder der zersprengten Kommune für einige Augenblicke um das Wohlfahrtskomitee. Pyat schlägt vor, unverzügliche Unterhandlungen einzuleiten. Man beschließt, sich in die Arrondissements zu begeben, wo jeder die Verteidigung leiten und die Errichtung von Barrikaden anordnen sollte; von einem Plane sollte abgesehen werden, hingegen stand es frei, soviel Proklamationen, als man wollte, zu veröffentlichen.

Das Rathaus erdröhnt von wildem Lärm. Was von der Militärkommission, vom Wohlfahrtskomitee noch übrig ist, regt sich in geschäftigem Eifer. Das Zentralkomitee hat in dem Augenblick, da das Schiff sinkt, die Kommandobrücke bestiegen, teilt Befehle aus und wettert und vermehrt dadurch die allgemeine Konfusion. Das überbürdete Artilleriekomitee weiß nicht, auf wen hören. Die Anarchie der Gewalten wehrt sich gegen die Unmöglichkeit der Rettung. Der Tag vergeht. Allerorten herrscht die Kopflosigkeit der Menge, der hartnäckige Traum ersterbender Hoffnungen. Die Delegierten des Lyoner Kongresses, von Thiers abgewiesen, erscheinen, um ihre Vermittlung anzubieten. Auch hier weist man sie ab: die Armee von Versailles soll in Paris ein Grab finden! ... Und der Abend kommt, lind und herrlich. Auf dem Giebel des Prachtgebäudes, über dem Portal, von dem die Reiterstatue Heinrichs IV. verschwunden ist und in dem sich jetzt die staubbedeckten Föderierten zusammenbrauen, rückt unerbittlich der Zeiger der mächtigen Uhr vor.

Durch die Straßen jagen die Estafettenreiter, die Läden sind gesperrt, die Fenster der Häuser geschlossen, allmählich füllt sich die Hauptstadt, von Batignolles bis zu den Tuilerien, vom Gebäude der Oberrechnungskammer bis Montrouge mit improvisierten Barrikaden. Im Marineministerium schlägt Brunel – trotz seiner mutigen Verteidigung der Umgebung von Issy gefangen genommen und gestern wieder freigelassen – sein Lager auf. Hundertfünfzig Föderierte und fünf Kanonen besetzen die Terrassen des Konkordienplatzes, eine Mitrailleuse und drei Geschütze die Schanzen der Rue Saint-Florentin und der Rue Royale. Vom Montmartre, wo seit zwei Monaten etwa hundert Feuerschlünde verstaubt und unbenützt liegen und es an Munition fehlt, werden nur wenige Schüsse abgegeben; keine Vorwerke, keine Brustwehre, keine Plattformen; die Bataillone sind gelichtet oder aufgelöst. Cluseret war für einen Moment erschienen und schnell wieder verschwunden; La Cécilia ereifert sich vergeblich.

Überall das fieberhafte Durcheinander eines aufgestörten Ameisenhaufens, inmitten der stummen Regungslosigkeit der Häuser, in denen eine andere Menge zitternd sich zusammenkauert. Zwischen der unbeugsamen Kälte der Deutschen, der Wut der Franzosen eingezwängt, beginnt Paris in Wahnsinn zu verfallen. Zwei Tage zuvor hatte Mac-Mahon einen Vertrag mit dem Kronprinzen von Sachsen unterzeichnet. Die Preußen verpflichteten sich, keinen entkommen zu lassen. Die Truppen griffen zu den Waffen, ihre Vorposten hielten strenge Wache. Schon lagen im Hospital Saint-Louis mehrere Arbeiterinnen sterbend darnieder, die auf ihrem Weg zu ihrer Fabrik in Saint-Quen von den Kugeln getroffen worden waren.

In Versailles hat die Nationalversammlung sich voll Ungeduld vereinigt. Thiers erscheint auf der Tribüne. Bei seinen ersten Worten bricht ein Sturm des Beifalls los. Er preist in begeisterten Ausdrücken die Armee zu Wasser und zu Lande und weissagt den endgültigen Triumph, die Rückgabe von Paris an dessen wahren Herrn, an Frankreich. Geschmeichelt – denn Frankreich, das ist sie! – klatscht die Nationalversammlung in die Hände, die Begeisterung steigert sich bei dem Versprechen einer strengen Züchtigung. Während schon die ohne Rechtsspruch Erschossenen den Boden bedecken, erklärt Thiers, daß in streng legaler Weise Gerechtigkeit geübt werden solle. Diese Verräter, die das Eigentum geschändet, die Denkmäler gestürzt, das Leben der Geiseln bedroht haben, sollten ihrer Strafe nicht entgehen. Im Namen des Gesetzes und durch die Gesetze! Im Rausch des Erfolges kommt ihm gar nicht der Gedanke, daß er mit solcher Rede, zu dieser Stunde, da die Geiseln sich in größerer Gefahr denn je befanden, den Haß gegen sie schürte und Tausende von Wahnwitzigen zur Tollheit stachelte.

Jules Simon löst ihn ab, einen Gesetzentwurf in der Hand, die Wiederaufrichtung der Vendômesäule betreffend, wobei die Statue Napoleons durch diejenige der Nation ersetzt werden solle. Die Nationalversammlung votiert den Dringlichkeitsantrag und gerät in Extase, als Cochéry erklärt: »Die Armee und der Chef der exekutiven Gewalt haben sich um das Vaterland verdient gemacht.«

Unter tiefer Stille betritt Thiers neuerdings die Tribüne, neigt seine weiße Mähne, sein bewegtes Gesicht: das ist der schönste Lohn, den er in seinem Leben empfangen. Ein Orkan des Beifalls erhebt sich; am Fuß der Tribüne wird der Triumphator mit Händedrücken überschüttet, Jules Simon stürzt auf ihn zu und umarmt ihn.

Unbewußt des Unheils, das sie angerichtet, des Schadens, den sie noch stiften wird, ganz der Freude hingegeben, endlich der Revolution und Paris, und wohl auch damit zugleich der Republik, ein Ende gemacht zu haben, trennt sich die Versammlung. Die Deputierten mischen sich in den Strom von Neugierigen, Journalisten, Beamten, Lebemännern, Frauen und Dirnen, der dem Mont-Valerien, Saint-Cloud, Châtillon, allen jenen Höhen zuflutet, von denen aus man Paris und den Dampf der Schlacht überblickt, von denen aus man sich an dem aufregenden Schauspiel weiden kann.

Allmählich taucht das großartige Panorama in die Schleier der Dämmerung. Die Nacht sinkt hernieder. Wie am blauen Sammet des Himmels, so funkeln in der Stadt die Lichter auf. In dem tiefen, weichen Dunkel stehen die Armee von Versailles und die von Paris sich gegenüber. Eine tragische Waffenwacht, in der man auf der einen Seite in fruchtloser Ruhe unschätzbare Stunden vergeudet und die einzige Gelegenheit, den günstigen Augenblick, versäumt, bis in die äußersten Vororte das ungeheuere Wurfgarn zu schleudern, um in einem gewaltigen Wurf alles an sich zu reißen, – während auf der anderen Seite mit fieberhafter Hast gearbeitet wird, das Pflaster aufzureißen, Geschütze und Munition aufzufahren, die Petroleumminen, die Fässer und Kisten mit brennbaren Stoffen vorzubereiten.

Bei Tagesanbruch des 23. setzten sich Mac-Mahons frischgekräftigte Truppen auf beiden Seiten gleichzeitig in Bewegung. Im Zentrum durch die Terrassen der Tuilerien und die Barrikaden der Rue Royale in ihrem Vormarsch aufgehalten, breiteten sie sich an den Flügeln aus und rückten gleichmäßig vor.

Montmartre zur Linken, mit seinen mit Artillerie besetzten Schießständen, seinen schroffen Abhängen und seinen durch Barrikaden abgesperrten Zugängen war das Hauptziel des Tages: eine Festung, die dem Ansturm zu trotzen schien, der Mont Aventin der Revolution, an dem schon einmal die Kraft sich gebrochen hatte. Heute ist er von zwei ganzen Armeekorps umzingelt. Das 1., Ladmirault, mit zwei seiner Divisionen und dem Korps der Freiwilligen von Seine und Seine-et-Oise, – dem einzigen Kontingents das dem Aufruf der Nationalversammlung an Frankreich Folge geleistet hatte – marschiert außen längs der Wälle bis zur Porte de Clignancourt, nimmt von rückwärts die Höhe, schwingt sich schnell auf die ungedeckten Terrains zwischen Häuschen und Gärten, während die dritte Division, Montaudon, nachdem sie bei Levallois-Perret die fünfhundert Kanonen der äußeren Batterien erobert, im Einverständnis mit den Deutschen die neutrale Zone überschreitet und sich gegen die Barrikaden des Boulevard Ornano und der Rue Myrrha wirft.

Das 5., Clinchant, dringt durch das äußere Boulevard ein. Er ist bereits Herr der Batignolles, wo Malon sich nach Kräften gewehrt hat. Er hat soeben die Maine des XVII. Arrondissements und die große Barrikade der Place Clichy erstürmt; er folgt dem Fuß der Erdhügel und dringt in den Friedhof von Montmartre ein, gleichzeitig mit den Kolonnen des 1. Korps, die ihn von der Nordseite her betreten. Die Höhen sind eingeschlossen. Der gemeinsame Angriff setzt sich in Bewegung. Es ist elf Uhr. Schon stürmen die Infanterietruppen Clinchants in die Rue Lépic.

Im selben Augenblick verließ ein Mann die Mairie, des XVIII. Arrondissements, der sich am Morgen dahin begeben hatte, nicht ahnend, daß Ladmirault bereits Montmartre von rückwärts bedrängte, und trotz des von unten, von Batignolles her krachenden Gewehrfeuers. Der Mann war Catisse.

Gegen neun Uhr war er, wie gewöhnlich, ins Amt gekommen, hatte seine Schreibärmel übergestreift und sich an die Arbeit begeben, die Aktenstücke seines Bureaus zu ordnen, die ebenso zahlreich wie in Tagen der Ruhe, jedoch schmutzig, zerknittert, unorthographisch geschrieben und mit zahllosen blauen, roten, grünen, schwarzen Siegeln gestempelt waren ... Die Nachricht von dem vorgestrigen Einzug der Versailler war ein schwerer Schlag für ihn gewesen.

Als er jedoch nichts um sich her verändert sah und keine Rothose an den Straßenecken auftauchte, war er überzeugt, daß der richtige Krieg erst begann. Wie würde er enden? Daß der Kampf hitzig werden würde, ließ sich schon aus den Rufen der durch die Straßen galoppierenden Ordonnanzen vermuten: »Zieht die Jalousien auf, schließt die Fenster!« und aus den Drohungen und dem Erlaß Delescluzes: »Jedes Haus, aus dem ein Schuß auf die Nationalgarde abgegeben wird, fällt den Flammen zum Opfer!«

Hier, – so überlegte Catisse, – mußte man sicher sein wie in einer uneinnehmbaren Festung! War die Kommune, als die seit zwei Monaten unbestrittene Regierung, jetzt nicht ungleich stärker, als am 18. März, da sie einen so leichten Sieg errungen? Ja, wer weiß, ob nicht heute ihre Proklamation an die Versailler Soldaten: »Kommt zu uns, Brüder, unsere Arme sind euch geöffnet!« wie damals die Waffen ihren zögernden Händen entwinden werde? Auch das Zentralkomitee hatte eine Kundmachung erlassen: »Wir sind Familienväter ...« und: »Wenn die Instruktion ehrlos ist, wird der Ungehorsam zur Pflicht!« Ob aber die Soldaten derlei überhaupt lasen?

Frühmorgens, als die Läden geöffnet wurden, hatte er seine täglichen kleinen Einkäufe gemacht, hatte für einige Sous Brot, Suppe und Wurst gekauft. Man war heute sechs zu Tische, denn Frau Poncet hatte versprochen, Lilli, die dank ihrer liebevollen Pflege genesen war, zurückzuschicken. Der Vater sollte sie auf dem Heimweg aus dem Amt abholen. In solchen Gedanken hatte er den gewohnten Weg zurückgelegt, im Vorübergehen von dem feindseligen Blick eines Krämers verfolgt, dem er eine Hausdurchsuchung nicht hatte ersparen können.

Ruhig, ohne sich scheinbar um das Wüten des mörderischen Orkans zu kümmern, hatte er den ganzen Morgen inmitten eines heillosen Durcheinander seine Pflicht als gewissenhafter Beamter getan. Allmählich war der Lärm des Kampfes näher gekommen.

Bleich war Catisse aufgesprungen, hatte gelauscht und sich aus dem offenen Fenster gebeugt: »Sie kommen!« Das donnernde Getöse, aus dem er inmitten des Krachens der Detonationen, des Zischens der Kugeln jammervolles Geschrei zu vernehmen glaubte, erfüllte ihn mit jähem Entsetzen. Die Kinder! doch gewiß, ihnen geschah nichts, er hatte niemals etwas Unrechtes begangen; und in der städtischen Kommission hatte er in seiner bescheidenen Weise stets möglichst viel Gutes zu tun getrachtet.

Niemals seit dem Ausfall bei Buzenval hatte er ein Gewehr in der Hand gehabt, sein Gewissen hatte ihm nichts vorzuwerfen. Was hatte er anderes getan, als ehrlich, als ehrlicher Mann, für sich und die Kleinen das Brot zu verdienen? Kein Richter, kein Mensch hätte daran etwas aussetzen können. Ja, er empfand sogar eine gewisse Befriedigung bei dem Gedanken, diesen Zustand der Unordnung enden zu sehen. Mit Freuden würde er die Uniform der Liniensoldaten, die Fahne wieder begrüßen ... Eine stärkere Detonation ließ ihn entsetzt zusammenfahren. Das kam von jenseits der Butte ... Er dachte an die kleinen Mädchen, es litt ihn nicht länger, und ohne sich Zeit zu nehmen, die Lüsterärmel abzustreifen und das schwarze Käppchen abzulegen, rannte er davon.

Zur Linken, gegen die Rue Lépic und die Rue Tholozé zu, knatterten die Chassepots so heftig, daß er sich angstvoll nach rechts wandte. Ihn trieb nur ein Instinkt: sein Heim erreichen. Er rannte, so schnell er konnte, stieß sich atemlos an den Ecken. Man schrie ihm zu: »Nicht hierher! die Versailler sind da!« Er hörte nicht, sprang auf dem Trottoir über die Leiche einer alten Frau, die eine verirrte Kugel niedergestreckt hatte, während der Inhalt ihres Korbes in die Blutlache rollte. Er sah sie kaum; er war jetzt auf dem rechten Wege. Dort ist die Krämerei seines Feindes. Ihm ist, als ob der Mann höhnisch lächelte ...

Hätte Catisse den Kopf gewandt, dann hätte er sehen müssen, daß eine Gruppe von vier Freiwilligen der Seine, die Mauer entlang schleichend, in der Straße auftauchte. Den Finger am Hahn, die Waffe zum Schultern bereit, sprangen sie von einem Haustor zum anderen, versteckten sich und sprangen weiter. Der Krämer grüßte sie und deutete auf Catisse: »Dieser fliehende Bandit dort ...«

Sofort schrien harte Stimmen:

»He, Mann! Still stehen!«

Catisse läuft weiter... Ein Schuß, und wie ein getroffenes Wild macht er noch einige Schritte, taumelt plötzlich, von heftigem Schmerz in der Seite übermannt ...

Die Freiwilligen holen ihn ein. Haßverzerrte Gesichter neigen sich über den Verwundeten.

»Warum bist du geflohen? Wer bist du?«

Catisse stammelte unartikulierte Laute: »Meine Kinder ... Die Mairie ...« Und seine Augen vergrößern sich in Todesangst. Der Blick eines harmlosen Tieres, das der Jäger hinschlachtet, ein Blick voll Entsetzen und Vorwurf. Ein Zittern durchläuft seine Gestalt.

»Elender Feigling!« heult der Krämer, der atemlos herbeigeeilt kommt, »da hast du deine Rechnung ... Er gehört zur Clique, Herr Korporal ...«

Catisses beschwörende Blicke wandern von einem zum andern. Will man ihn töten? Und die Kleinen, die nur ihn auf der Welt haben ...

»Steh auf!« befiehlt der Korporal.

Catisse versucht, sich zu erheben, sinkt zurück. Das Blut befleckt seinen Rock und seine Hose.

»Geht nicht? Na, so bleib liegen!«

Der Lauf des Gewehrs hat sich auf seine Schläfe gesenkt. Der Schuß kracht. Was da liegt, ist nur noch ein Stück zerrissenes Menschenfleisch, das Gehirn klebt an der Mauer. Die Freiwilligen entfernen sich. Der Krämer kehrt in seinen Laden zurück.

Mittag ist's. Ladmiraults und Clinchants Kolonnen haben auf der Höhe der Schießstände ihre Vereinigung vollzogen. Die Straßen sind mit Infanteristen angefüllt, die kurze Rast halten. Einige ziehen ein Stück Brot aus dem Tornister und löschen an einem Brunnen ihren Durst. Es ist verboten, den Wein zu trinken, den die Einwohner ihnen anbieten. Er ist vielleicht vergiftet. Andere treten aus einem Haus, in das ein Föderierter sich geflüchtet hat, und schleppen ihn unter Hieben und Stößen heraus. Längs des Gärtchens der Poncets steht wartend eine Kompagnie, Gewehr bei Fuß. Bald wird man wieder hinuntersteigen, um den Tanz von neuem zu beginnen. Gleichgültige oder muntere Reden werden getauscht.

Frau Poncet hört zu, auf die Brüstung gelehnt. Die Zeit verrinnt, in entsetzlicher Angst zuckt ihr Herz. Was ist mit ihrem Mann geschehen, der seit gestern abwesend ist? Sie stellt ihn sich vor, mit der Liga verhaftet, vielleicht auf irgend einer Straße liegend gleich all den Unglücklichen, die blindlings, ohne Gnade und Erbarmen, niedergeschossen werden. Die Magd, die soeben zurückkehrte – sie war nicht weiter als bis zur Straßenecke gekommen, sah den im Hause gegenüber aufgefundenen Nationalgardisten unter einem Flintenschuß fallen. Plötzlich kommt Frau Poncet der Gedanke an Lilli. Das Kind sitzt im Speisezimmer, mit einem Bilderbuch beschäftigt. Wenn nur Catisse wiederkam! Deutlich dringen die Stimmen der Soldaten an ihr Ohr:

»Das Bürgermeisteramt von Montmartre ist in unseren Händen ... Rücklings lag er da, mit gekreuzten Armen ... Sieh hin, die Fahne auf dem Turm Solferino!«

Ein Kommando, die Reihen ordnen sich, die Kompagnie marschiert ab. »Adieu, Mutter! ...« Mit trübem Lächeln betrachtet Frau Poncet diese Männer, die ihre Pflicht ruft. Viele von ihnen sind noch jung, sehen nicht böse aus. Mehr als einer wird vielleicht vor Abend tot sein, viele werden in der Hitze des Kampfes töten und glauben, ein gutes Werk damit zu tun. Sie denkt an das verwegene Gesicht des kleinen, bartlosen Leutnants, an die ernste, nachdenkliche Miene des alten Hauptmanns. Ein Uhr vorüber. Und Catisse kommt noch immer nicht.

Melanie hat dem Kind zu essen gegeben. Endlos schleicht in der Qual der Ungewißheit der Nachmittag hin. Andere Soldaten ziehen vorüber, man durchsucht die Häuser. Sogar das Laboratorium muß geöffnet werden, um zu beweisen, daß keine Chassepots darin versteckt gehalten werden ... Auf dem Kies des Gartens werden trippelnde Schritte vernehmbar. Hinter der ältesten der Catisses erscheinen die drei anderen, sich an der Hand haltend, blaß, verstört, alle einander so gleich in ihren schwarzen Schürzen, ihren dünnen Zöpfchen. Atemlos erklärt Zézée, die älteste: sie warteten immerfort ... In Vaters Amt sind die Soldaten eingedrungen ... Man hat die Wohnung durchsucht, keiner da ... Und nun sind sie hergekommen ...

Sie spricht mit aufgeregter Stimme, aber klar und deutlich, wie eine verständige kleine Person, die ein gutes Beispiel geben muß. Die drei jüngeren schluchzen, und Lilly, die sie erblickt hat, beginnt zu schreien:

»Papa! Wo ist Papa?«

Da alle Trostworte und Liebkosungen erfolglos sind, vertraut Frau Poncet die Kinder der Magd an. Mit Zézée, die sich mit ihr auf die Suche begeben will und die sie denn auch mitzunehmen beschließt – eine Frau und ein Kind liefen wohl keine große Gefahr, – will sie auf die Maine eilen, auf dem Wege, den Poncet und Catisse gewöhnlich zu benutzen pflegen. Vielleicht, daß sie dort etwas erfährt.

Noch waren sie nicht zweihundert Schritte gegangen, von einem verdächtig aussehenden Manne gefolgt, als sie auf einen Leichnam stießen. Frau Poncet wich zur Seite, als Zézée einen Schrei ausstieß:

»Papa!« schrie sie. »Papa!«

Und mit krampfhaftem Schluchzen warf sich das Kind auf die leblose Masse. Sie betastete die wohlbekannten Kleider und versuchte, in dem unkenntlichen Brei von Blut und Fleisch das geliebte Gesicht wiederzufinden.

»Laß nur, Liebling!« stammelte Frau Poncet mit versagender Stimme ... »Wir wollen jemand rufen, der ihn fortträgt ...«

Doch wie betäubt klammerte die Kleine sich an den Toten, angstvoll nach einem Funken von Lebenswärme in diesen kalten, starren Händen suchend ... Sie begriff nichts, als daß das ihr Vater war, dieser schwere Körper, dieser zertrümmerte Schädel ... Warum das? Warum? ... Endlich ließ die Spannung der Nerven nach und sie begann, ihren Schmerz hinauszuheulen in so schrillen Tönen, daß die Nachbarn an der Schwelle der Häuser sich ansammelten. Frau Poncet, bis dahin wie gelähmt, brach in Ausrufe der Empörung aus und nahm die Anwesenden zu Zeugen dieses verruchten Mordes. Auf manche Gesichter trat ein Ausdruck von Mitgefühl. Da erschien der verdächtig aussehende Mann wieder, von aufgeregten Liniensoldaten gefolgt. Die Gesichter verfinsterten sich. Bevor sie noch ein Wort hinzufügen konnte, fühlte sie sich an den Handgelenken gepackt. Ein Soldat stieß die Kleine fort:

»Gänsebrut!«

»Tut dem Kinde kein Leid!« flehte Frau Poncet mit bebender Stimme, aus der all die Empörung ihres mütterlichen, gütigen Herzens schrie.

»Wenn du nicht still bist, wirst du's büßen!«

Ein Stoß in die Seite verlieh der Drohung größeren Nachdruck. Die Zuschauer verhielten sich jetzt feindlich und lachten höhnisch.

»Mit eiserner Willenskraft hatte Frau Poncet sich gefaßt und schritt gehorsam weiter, die Kleine an der Hand führend. Dieses Entsetzliche mußte ein Ende nehmen, mußte sich aufklären. Für den Augenblick war nichts zu tun, als sich fügen und folgen ... Indessen blickte sie sich um. Unvergeßliche Bilder. In der Rue Lepic lag vor einer Barrikade ein Haufe von Leichen, darunter zur Mehrzahl Frauen.

Es war ein langer Dornenweg, von Schmähungen und Spottreden begleitet. Andere Gefangene waren dazugekommen. Zézée drückte verzweifelt, von Schluchzen geschüttelt, ihre Hand. Die Eskorte war verstärkt worden. Man gelangte zu einem ihr wohlbekannten Häuschen in der Rue des Rosiers. Durch das grüne Haustor drängte sich die Menge. War es Zufall oder Berechnung, dieselben Räume, wo Lecomte und Clement Thomas die letzten Minuten ihres Lebens verbracht hatten, waren in ein Gerichtslokal umgewandelt worden.

Während des kurzen Verhörs waren die Gefangenen in den durch das an den Generälen verübte Verbrechen geschändeten Garten getrieben worden. Ein zerstampfter Rasenplatz, eine Lindenallee, auf einer Seite ein Gitter, auf der anderen die von Kugeln durchlöcherte Mauer, an deren zerbrochenem Gitterwerk die grünen Pfirsichbäume sich rankten. Wie vor einem Altar mußten Frau Poncet und Zézée mit den anderen niederknien und lange mit gesenkter Stirn und wunden Knien so bleiben als Sühne für die beleidigten Manen. Jedes Aufrichten wurde mit einem Kolbenhieb bestraft. In ironischer Pracht sandte die Sonne ihre glühenden Strahlen herab. Eine Stimme befahl: »Aufstehen!« Eine andere Herde wurde zu dem Sühnopfer getrieben.

Frau Poncet, die der Gerichtsbeamte, ein Hauptmann der Chasseurs, nicht hatte zu Worte kommen lassen, fühlte sich dem Wahnsinn nahe, von einem Wirbelsturm des Unglücks erfaßt und fortgerissen. Gebärden, Geschrei, Beschwörungen hätten ihr Los nur noch verschlimmert. Sie konnten noch von Glück sagen, daß sie und Zézée, als die Gruppe in zwei Teile getrennt wurde, nicht zu jenen gehörten, die zum Tode geführt wurden, wenige Schritte von da entfernt auf der anderen Seite des Abhangs, wo sich während der Belagerung eine die Straße nach Saint-Denis beherrschende Batterie befand.

In verzweifelte Gedanken versunken, das halb ohnmächtige Kind mit sich ziehend, folgte sie mit starrer Ruhe ihren Leidensgefährten. Es war Abend geworden, als man bei den Wällen anlangte. Man pferchte die Herde auf einer Bastion zusammen. Ohne ein Wort des Widerspruchs mußte sie sich einwühlen lassen, als man ihnen den Befehl zuschrie, sich auf die Erde zu liegen. – Der erste, der sich erheben würde, würde niedergeschossen! Weder Brot noch Wasser gönnte man diesem Haufen von Verurteilten. Zézée wimmerte unaufhörlich, den Kopf auf den Knien ihrer mütterlichen Freundin, die mit weitgeöffneten Augen unverwandt in das Dunkel starrte, bis das Bewußtsein sie verließ.


Poncet, der die Nacht des Montag in Permanenz bei der Liga verbracht hatte, beruhigt über das Schicksal seiner Frau, die er in Sicherheit in ihrem Häuschen auf dem uneinnehmbaren Hügel glaubte, – hatte den ganzen Morgen und Nachmittag gegen die Nutzlosigkeit der Schritte in extremis gekämpft. Die Union der Syndikate vereinigte ihr Bureau mit jenem der Liga. Einige Delegierte versuchten, die Überreste der Kommune und des Zentralkomitees zu treffen.

Hier und dort heillose Verwirrung und wahnsinnige Aufregung.

Die Gewählten der Nationalgarde, die ersten Herren von Paris, warfen sich gegenseitig ihre Schuld vor und sprachen davon, einander niederzuschießen. Die meisten wären zu Friedensunterhandlungen bereit gewesen, jedoch auf welchen Grundlagen? Auflösung der Regierungen von Paris und Versailles, mit gegenseitiger Amnestie, Zurückziehung der sogenannten »regulären« Armee auf fünfundzwanzig Kilometer, Vertagung der Munizipalräte bis zu den allgemeinen Wahlen! ... Im Rathaus fanden Bonvalet und Poncet einen unbeschreiblichen Tumult; unmöglich, eines Mitgliedes des Wohlfahrtsausschusses habhaft zu werden; Delescluze war stimmlos, seine Kräfte total erschöpft, sein Zustand zwischen vollständiger Niedergeschlagenheit und Ausbrüchen der Verzweiflung schwankend.

Wo aber waren die Gewählten von Paris, dessen letzte Herren? Viele entflohen, mehrere in ihren Arrondissements kämpfend, nur wenige noch, die sich von Zeit zu Zeit, mit umgehängtem Gewehr, im Rathause zeigten. Viele bereits verkleidet, rasiert und so eilig, daß Ranvier in seiner Empörung sie mit harten Worten anfuhr und ihnen mit dem Exekutionspeloton drohte. Die Entschlossensten waren die Sozialisten, die zur Zeit der Phrasenherrschaft sich abseits gehalten hatten und nun, in der Stunde der Gefahr, hervortraten.

Das monumentale Gebäude wimmelte von einer treppauf, treppab flutenden Menge, die Höfe dröhnten vom Rollen der Artilleriewagen, der mit Pulver beladenen Omnibusse; die Munitionsvorräte wurden bereits in die Kirche Saint-Ambroise und in die Mairie des XI. Arrondissements überführt, die zu Stützpunkten der Verteidigung gewählt worden waren. Hie und da standen die schweißdampfenden Pferde der Estafettenreiter, Schwärme wie irrsinnig sich gebärdender Frauen, die einen Fahnen schwenkend und Waffen fordernd, die anderen mit fieberhaftem Eifer Säcke nähend. Die Verdächtigen wurden mit Faustschlägen traktiert, sofort herausgeschleppt und auf dem Place de Gréve, vor einer Barrikade, mit Widerspenstigen zugleich erschossen.

In dem blauen Zimmer der Valentine Haußmann lag auf dem Bett eine Leiche, die man soeben auf einer Bahre hergeführt hatte. Es waren die Überreste Dombrowskis. In wachsgelber Blässe hob der Kopf mit den feingeschnittenen Zügen sich von den Kissen ab. Seit dem Eindringen der Versailler war er, gleich einer ruhelosen Seele, vom Rathaus zu den Barrikaden geirrt. In der Nacht des Sonntag war er erschienen, von der Muette zurückkehrend, durch einen Steinwurf verwundet, mit Vorwürfen und Verdächtigungen empfangen; in der Nacht des Montag war er wiedergekommen, von Franktireurs von den Vorposten von Saint-Quen, wo er allein die preußischen Linien zu durchbrechen versucht hatte, ins Zentralkomitee zurückgebracht. In Anbetracht seiner Dienste, seiner kaltblütigen Bravour bei Neuilly in Freiheit gesetzt hatte er keinen Ausweg mehr gewußt als den Tod, den er nach der Einnahme von Montmartre durch eine geheimnisvolle Kugel gefunden. Rings um die Stille des blauen Gemaches tobte der unaufhörliche Lärm, der die Korridore, die Säle, die Galerien füllte ...

Von Minute zu Minute stieg mit dem Eintreffen der Unglücksnachrichten der allgemeine Taumel.

Auf der Linken in Montmartre gesichert, rückten die Korps Clinchant, Ladmirault und Douay in Schlachtordnung vor und spannten immer weiter das blutige Netz. Es war immer das gleiche Manöver, ein Vorhang, der die Angriffsfront verhüllte, während man aus den weniger verteidigten Seitengassen sich näherte, um von hinten zu schießen. Bei Einbruch der Nacht waren die Trinité, Notre-Dame de Lorette, die Madeleine, die neue Oper und die Mairie der Rue Drouot erobert.

Auf dem linken Ufer drang Bruat ins Kriegsministerium ein, Cissey erstürmte die letzten Barrikaden der Croix-Rouge und der Rue de Rennes; der linke Flügel drang bis zur Seine vor und nahm Saint-Sulpice und die Mairie des VI. Arrondissements, während der rechte Flügel den Bahnhof von Sceaux und die Mairie von Montrouge besetzt hielt. Nun streckte die Armee von Versailles, die fast die Hälfte von Paris bereits erobert hatte und den Blick beständig auf den Konkordienplatz gerichtet hielt, ihre Arme in die Ferne, auf der einen Seite bis zum Warenbahnhof im Norden der Stadt, auf der anderen beinahe bis zum Tor von Arcueil.

Von Minute zu Minute pflanzte sich, bis zum Rathaus hin, der düstere, Widerhall im Herzen der Stadt fort; mit wütender Erbitterung, erbarmungslos tobte unter erstickendem Rauch und entsetzlichem Getöse der Kampf; unter dem Vorrücken der Infanterie, die in die Häuser drang und aus den Fenstern herab feuerte, fiel eine Barrikade nach der anderen; die grauenhaften Massenhinrichtungen nach dem Siege übergossen das Pflaster mit Bächen von Blut, von den Einzelmorden ganz zu schweigen; in der Kirche von Montrouge und der Rue Brézin war die Ernte des Todes so groß, daß sie acht Wagen füllte; vor der Madeleine, wo der Widerstand besonders heftig war, wurden dreihundert Föderierte erschossen; in der Rue de Helder, der Rue Drouot und noch fünfzig anderen lagen zu Füßen der Steinhaufen leblose Gestalten. In Park Monceau und in der Militärschule hatten zwei gerichtliche Ämter ihren Sitz, die die Gefangenen in langen Kolonnen nach Versailles expedierten oder sie an Ort und Stelle hinrichteten.

Als die Stunden verrannen und sie das eiserne Netz sich immer enger um sich schließen sahen, rollten die letzten dieser Männer, die einen Moment sich als die Machthaber Frankreichs geträumt halten, dem unausweichlichen Abgrund zu. Es waren ihrer fünfzehn, zu Entschlüssen gedrängt, die die eitle Verpflichtung ihrer eigenen Drohungen, ihre wütende Verzweiflung, die Erbitterung über ihre Niederlage ihnen diktiert hatten. Von albernem Hochmut gebläht, von Vernichtungswut geschüttelt, glaubten sie der Sache des Volkes zu dienen, indem sie der grausamen Gesellschaft noch barbarischere Grausamkeiten entgegensetzten, und fanden eine revolutionäre Größe darin, als Brandstifter und Mörder zu enden.

Obgleich es von diesem Augenblick an nur noch persönliche Verantwortlichkeit gab, waren sie des Glaubens, daß es an ihnen sei, der Kommune ein großartiges Begräbnis zu bereiten, Mord mit Mord zu erwidern, – da man sie selbst doch wie Hunde hinmetzelte, – und sich unter rauchenden Trümmern zu begraben. Diese Tuilerien, dieses Rathaus, all diese Paläste, in denen sie einst regiert, sollten, da sie selbst sie nicht behalten durften, in keines anderen Hände fallen.

Schon hatte man mit den Vorbereitungen dazu begonnen. Tags vorher waren, um die Erfüllung von Rigaults Drohung: »Die Geiseln! wir werden sie mit uns nehmen, und sie werden mit uns untergehen! ...« zu ermöglichen, der Erzbischof, die verschiedenen Geistlichen, Bonjean, der Senator und alle Persönlichkeiten von irgendwelcher Bedeutung auf Ranviers, Gambons und Eudes' Befehl von Mazas nach La Roquette überführt worden. In den Tuilerien häufte Bergeret, der am Sonntag ohne Kampf aus dem Corps législatif entflohen war und am Montag einige Unschuldige im Hofe des Carroussel hatte erschießen lassen, den ganzen Nachmittag hindurch Blechgefäße und kleine Tonnen auf, ließ die Tapeten, die Fußböden, die Tür- und Fensterrahmen mit Petroleum tränken und im Marschallsaal, dem Mittelpunkt des Palastes, Pulverfässer aufstellen; dann überließ er dem Oberst Benot, einem Fleischergesellen, die Aufgabe des Anzündens und brachte sich in Sicherheit. Überall harrten die brennbaren Stoffe, in Eile zusammengetragen, nur noch der zündenden Lunte. Vom Taumel des Untergangs ergriffen, verließen die verschiedenen Ämter das Rathaus, das, mit dem Stöhnen der Verwundeten, dem Röcheln der Sterbenden erfüllt, sich für die Feuersbrunst vorbereitete.

Im Bureau der Liga hatte Poncet, dessen ganzes Denken darauf gerichtet war, um jeden Preis dem Blutvergießen durch eine Intervention bei Thiers Einhalt zu tun, erst am Abend die Kunde von dem Fall von Montmartre empfangen. Augenblicklich war er fortgestürzt, zwanzigmal sein Leben aufs Spiel setzend, um in die eroberte Zone einzudringen. Der Kampf dauerte dort noch fort. Dank dem Wohlwollen eines durch seinen Ton der Aufrichtigkeit gerührten Vorpostenkommandanten gelang es ihm, zu entkommen.

Bei jedem Schritt wurde er durch Patrouillen angehalten und belästigt. Er mußte vor einer Barrikade Halt machen und beim Abtragen derselben helfen und erkannte den Ort. Föderierte hatten ihn am Morgen gezwungen, Steine zu deren Errichtung herbeizutragen: »Für die Kommune, Bürger! ...« Sie lagen nun in einem Haufen, an ein Haus gelehnt. Tote, wohin das Auge blickte, Tote in allen Stellungen, auf der Schwelle der Türen, im Bach ausgestreckt, auf dem Rücken, auf dem Bauch ... Die einen, ohne sichtbare Wunde, schienen zu schlafen, den Ausdruck von Trotz und Entschlossenheit in den Zügen. Die Gesichter anderer waren in grausiger Weise verzerrt und entstellt. Mit Waffen beladen und fassungslos sich gebärdende Einwohner vor sich hertreibend, verließen zur Haussuchung kommandierte Soldaten die Häuser. Grausamer und wilder als alle anderen, leiteten waffenlose Nationalgardisten, welche die trikolore Armbinde möglichst auffallend zur Schau trugen, die Untersuchungen.

Es war Nacht, als er Montmartre erreichte. So rot war die Finsternis, daß er am lichten Tage zu wandeln glaubte. Hinter ihm verbreitete sich eine gigantische Helle. »Paris brennt!« sagten Stimmen ... »Das kommt von der Seine her! ...« Doch ohne den Kopf zu wenden, hastete er vorwärts. Die Rue Sainte-Scolastique war wie von einer Mitternachtssonne durchstrahlt. Als er das Gärtchen betrat, erfaßte ihn das Vorgefühl eines Unglücks. Das Gittertor stand weit offen, das Haus war leer. Er rief und rief. Wie ein Wahnsinniger durchirrte er das Haus vom Keller bis zum Dachboden und rief unablässig: »Agathe! Agathe!«

Die Scheiben glänzten wie scharlachrote Spiegel, schwarz hoben die Bäume des Gartens, der alte Kastanienbaum sich davon ab. Dort unten flammte die Feuersbrunst, den Himmel in ein Meer von Purpur tauchend. Er merkte es nicht und verließ wieder das Haus. An der Straßenecke traf er die Auvergnatin. Sie wußte nichts, als daß Madame seit langer Zeit mit Zézée fort war. Sie selbst kam eben wieder von Herrn Catisse zurück. Niemand dort zu finden! Gewiß muß ihm ein Unglück geschehen sein! ... Eine Nachbarin hatte ihr gesagt, er sei tot. Und noch dazu sind die vier Kleinen, während sie das erstemal fort war, auf und davon. Sie mußten schutzlos in der Gegend umherirren ...

Poncet war schon wieder fern, stürzte zur Mairie und übersprang oder überkletterte die Barrikaden, um den Weg zu kürzen. Wo er auf eine Leiche stieß, neigte er sich darüber, um bei der nächsten seine schauerliche Suche fortzusetzen. Eine Ahnung führte ihn nach der Rue des Rosiers. Dort verfolgte er mit mehr Hoffnung die Fährte. Als er erschöpft die Bastion erreichte, hörte er zu sich sagen: »Schaut, daß Ihr fortkommt, wenn Ihr nicht mit auf den Haufen geworfen werden wollt!« Seinen dringenden Bitten und Vorstellungen gelang es, den Offizier zu erweichen: er möge morgen wiederkommen! ... Ja, bei Tagesgrauen wollte er da sein! Er würde sie finden! ... Seine Frau lebte, das war die Hauptsache. Er liebte sie nur noch mehr um ihres Mutes, ihrer tapferen Güte willen. Sicherlich war es irgend eine edelmütige Unvorsichtigkeit, die sie büßen mußte ...

Schleppenden Schrittes kehrte er heim. Seine Gedanken schweiften zu Martial; er freute sich, daß der Sohn fern war, am 20. nach Italien abgereist; dann wieder dachte er an den armen, harmlosen Catisse! Auf welchem harten Bett von Steinen schlief der wohl seinen letzten Schlaf? Und seine Kleinen, die gleich schüchternen, aus dem zerstörten Nest vertriebenen Vögelchen umherflatterten, diese zarten kleinen Wesen in den Orkan des Todes gerissen!

Nun erst gewahrte er den wachsenden Lichtschein. Um ihn her, auf den geröteten Mauern und Dächern, zuckten die Reflexe der ungeheueren Feuersbrunst. Als er die Rue Sainte-Scolastique betrat, schrie er unwillkürlich auf.

Ihm war, als sähe er all diese Häuser zum erstenmal. Wie gigantische Fackeln erhoben sie sich in den plötzlich undurchsichtigen, mit dichten Rauchwolken verhangenen Himmel. Immer näher wälzte sich die Feuersbrunst, leckte mit ihren riesenhaften Feuerzungen die Rue Royale, die Tuilerien, die Paläste des linken Ufers. Lichtüberstrahlt floß die Seine dahin, deren Brücken in blendender Weiße leuchteten. Aus dem fürchterlichen Feuerherd stieg ferner Lärm empor, Jammergeschrei und wilde Verwünschungen. Stöße von atemraubend heißer Luft, dicker Brandgeruch schlugen ins Gesicht, drangen erstickend in die Kehle und erfüllten die linde Nacht, diese süße Frühlingsnacht mit dem faden Geruch von Blut und Fäulnis.

Und Poncet gedachte jenes Märzmorgens, da er die Stadt in so tiefer stiller Ruhe zu seinen Füßen liegen gesehen hatte. Dahin also führte die Verblendung der Wahnsinnigen, die in Versailles, wie in Paris, nur der Stimme ihrer Leidenschaften gehorcht hatten! Dieses ruchlose Werk also war es, woran inmitten des souveränen Friedens der Natur die alberne Wut der Menschen gearbeitet hatte! Fortschritt, Zukunft! Ach ja! ... Er sah die Religion seines Lebens zusammenbrechen.

Wie an die Stelle festgeschmiedet, betäubt von Schmerz und Entsetzen, brach er still in Tränen aus angesichts dieser Feuerströme, von denen er doch den Blick nicht loszureißen vermochte.


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