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Den 19. Mai kehrte Martial von Saint-Germain zurück, dessen Terrasse ihn jetzt täglich anzog. Dort trafen sich die Habitués auf der langen, sonnenbeschienenen Promenade, wie auf dem Strande eines Seebades: die Silberküste! Halb gegen seinen Willen folgte er mit leidenschaftlicher Spannung den Fortschritten der Armee, des nahen Augenblicks des Sturms, des Einzugs harrend. Paris war nur noch der ungeheuere Einsatz eines ungeheueren Spiels.
Bei jedem gelungenen Schlag feierte die Nationalversammlung, wie nach der Einnahme des Forts von Issy, ihren Sieg und den ihrer wackeren Anhänger. Einmal waren es die Trophäen des Dorfes Issy, ein andermal diejenigen des Forts von Vauves, die mit dem gewohnten programmmäßigen Pomp eingeholt wurden: Einzug durch die Avenue de Paris; Halt vor dem Präfekturpalast; warme Beglückwünschungen durch den Marschall oder Thiers; Aufstellung in Schlachtordnung im Marmorhof und endlich, angesichts der befriedigten Deputierten, Ansprache durch eine Persönlichkeit des Bureaus. Vorgestern war es der Vizepräsident Benoist-d'Azy, gestern Grévy in höchsteigener Person gewesen.
Jetzt stand man nahe am Ziel. Mit gespanntem Interesse beobachtete Martial die Bewegung der Truppen, die letzten Scharmützel, die Aufstellung der Breschebatterien.
Voll fieberhafter Teilnahme, doch ohne Traurigkeit, hatte er die gestrigen Operationen vernommen. Auf der Rechten hatten zwei Kolonnen die Mühle von Cachan genommen und etwa hundert Insurgenten getötet. Man erwartete die Ankunft der Gefangenen. Die Annäherungsgräben, auf die beiden eroberten Forts gestützt, rückten zwischen dem kleinen Vauves und der Seine vor und bedrohten die Tore von Sèvres und Issy. Links näherten sich unter dem Schutze der Batterien von Montrouge und Mont-Valerien die Korps Douay und Clinchant den Wällen. Die riesigen Geschosse hatten die Tore bloßgelegt, die Bastionen durchbohrt. Die wenigen Einwohner von Point-du-Jour, Auteuil und Passy hielten sich in den Kellern verborgen. Innerhalb der Schanze von Gennevilliers, auf der Insel Grande-Jalte, hatten neue Batterien ihr Feuer eröffnet. Die Granaten von Bécon verwüsteten den Friedhof Montmartre, den Platz Saint-Pierre.
Zuerst besorgt, als die Batterien Bécon zu schießen begannen, hatte Martial sich bald beruhigt. Seine Eltern hatten sicherlich ihr Häuschen auf Montmartre verlassen und sich in sein Atelier oder zu den Thédenats geflüchtet. Und beruhigt hatte er sich mit seltsamer Sorglosigkeit weiter an den Gesprächen auf der Terrasse beteiligt.
Der eine entwickelte neue Kriegspläne. Der andere zählte die Schüsse der großen Geschütze von Montretout und meldete, das Fernglas in der Hand, die Verwüstungen. Unwiderstehlich fühlten alle sich zu den großen Fernrohren hingezogen, die von geschickten Händlern angepriesen wurden. Man befand sich wie auf dem Balkon eines Riesentheaters. Zu den Füßen der Terrasse lag, von blendender Lichtfülle verklärt, Paris, die märchenhafte Stadt, zwischen deren Denkmälern, Straßen und Häusern die Gärten als grüne Flecken hervorleuchteten. Gleich einem goldenen Helm funkelte die Kuppel des Invalidendoms. Die Türme von Notre-Dame streckten ihre Arme in den tiefblauen Himmel empor. Die Glasdächer des Industriepalastes glitzerten im Sonnenschein ...
In dem Fiaker, der ihn nach Versailles zurückbrachte, saß er neben Blacourt. Der Geck war ihm vor dem Schlosse begegnet und hatte ihn flehentlich gebeten, einen Platz in seinem Wagen anzunehmen. In dieser Umwälzung des ganzen Wesens, unter dem physischen und seelischen Drucke, welcher seit seiner Ankunft in Versailles auf Martial lastete, – die Nachwirkung des nervenaufreibenden Lebens während der beiden Belagerungen und der erschlaffende Einfluß der Versailler Atmosphäre – hatte sich auch die Abneigung abgeschwächt, die bisher der dicke Bursche mit seiner unheilbaren Feigheit, seinem gemeinen Egoismus ihm eingeflößt hatte. Er war überrascht, ihn verändert, abgemagert zu sehen; das ausdruckslose Gesicht trug den Stempel leidenschaftlicher Pein. Die glänzenden Augen, die vorspringenden Backenknochen verrieten sehnsüchtig schmerzliche Spannung. Eine fixe Idee beherrschte das enge Gehirn unter den pomadeduftenden Haaren.
»Ach! diese Maddalena!« hatte Blacourt gestöhnt, als Martial sich kaum gesetzt hatte.
Aus dieser zitternden Stimme klang eine solche Kraft der Leidenschaft, daß der Bildhauer von Teilnahme erfaßt wurde. Blacourts Hände flogen in nervösem Zucken, als wollte er packen, liebkosen, würgen. In solchem Grad des Wahnsinns gewann diese an sich gemeine Liebe etwas Ergreifendes. Martial bedauerte diesen Betörten, dem jedes Vergnügen zugänglich war und der sich in Qualen der Sehnsucht verzehrte. Kein Genuß hatte ihn zu zerstreuen vermocht. Nicht die Schwelgereien mit den wiedergefundenen Freunden und den berüchtigten Kokotten, die um die Gunst der Jeunesse dorée der vornehmen und reichen Offiziere stritten, noch die durchspielten Nächte, aus denen er sich erschöpft, aber nicht beruhigt, nach Hause schleppte. Nichts, weder der duftende Leib der Dirnen, noch das Gold, das jetzt beständig seine Taschen füllte, – Gewinnste und angesammelte Renten –, konnte ihn das lebensprühende, kalte Geschöpf, die Glutaugen, die weiße, zarte Haut vergessen machen, die in der bloßen Erinnerung sein wollüstiges Begehren bis zum Wahnwitz stachelte.
Offen, ohne Scham, vertraute er sich Martial an; so völlig beherrschte ihn seine Leidenschaft, daß er gegen alles andere stumpf blieb.
»Ich muß sie wiedersehen ... Geschehe, was wolle ...«
Er sprach von dem Plan, der ihn Tag und Nacht nicht losließ: um jeden Preis nach Paris zurückkehren. Die Furcht, die jeden Nerv in ihm beben machte, die Gewißheit, als Widerspenstiger angeworben, vielleicht gefangen genommen zu werden, die ständige Angst vor Tinet – alles versank vor dem Gaukelbild des blühenden Fleisches, das er unter den Spitzen hervorleuchten gesehen, dieses angebeteten und verfluchten Körpers ... Alles wagen, sterben, aber sie besitzen ...
Martial, den er vor dem Gefangenenhause abgesetzt hatte, blickte ihm lächelnd nach. Ein wahrer Typus! In diesem Urteil lag ebensoviel Geringschätzung als Mitleid. Eine vor dem Gitter angesammelte Gruppe zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Es waren Angehörige, die hier in dem törichten Glauben, den teueren Verschwundenen auftauchen zu sehen, in der leisen Hoffnung auf gute Nachrichten warteten. Feindselige Augen überwachten sie. Da entstand eine Bewegung, das Tor öffnete sich, der Riegel klirrte. Vier Männer traten heraus.
Martial, der der Szene mit müßiger Gleichgültigkeit zusah, vermochte seinen Augen nicht zu trauen. Träumte er? Dort, vor ihm, Poncet und Thédenat! ... Er stieß einen Schrei aus und lag in den Armen seines Vaters. Voll tiefer Bestürzung blickte er ihn an und betastete ihn, als zweifelte er an der Wirklichkeit:
»Du!« rief er, »wie kommst du her? Was ist geschehen?«
»Man hat dich also nicht benachrichtigt? Ich gab doch Auftrag ...«
Martial bestürmte ihn mit Fragen. Wie schlecht er aussah, die Kleider zerknittert, der bleifarbene Teint! Und auch Thédenat war gealtert! ... Aber welcher Zufall? Ein Versuch im Interesse der Liga?
Poncet lächelte bitter:
»Du siehst, wohin das führt. Im Gefängnis, mit Missetätern!«
Er erzählte von seiner Verhaftung in Tours. Mehr Verdrießlichkeiten, als wirkliches Leiden! Das Verwerfliche des Vorgangs lag in der Verletzung des heiligsten der Rechte; denn in der Form war man höflich genug gewesen. Bei seiner Ankunft von Thiers empfangen, – der mit sauersüßer Miene sich damit begnügt hatte, die Liga als »Haupturheber aller Wirrnisse«, als »Stütze der Kommune« anzuklagen, hatte er dem Ministerrat die Wohnung, die er soeben verließ, zu verdanken. Allerdings war es ihm erlaubt gewesen, seine Freunde zu empfangen, und eben erst hatte Thédenat, der in edelmütiger Freundschaft aus Paris herbeigeeilt war, von Tolain unterstützt, die letzten Schwierigkeiten beseitigt
Er stellte Martial dem Deputierten der Linken und dessen Kollegen vor: einer der Abgesandten des Lyoner Kongresses, der die Wünsche der zweiten großen Gemeinde von Frankreich nach Versailles gebracht hatte. Doch die beiden Herren verabschiedeten sich bald und ließen Vater und Sohn mit dem alten Freunde allein. Thédenat erklärte sein Kommen. Gestern erst benachrichtigt, hatte Frau Poncet, die ihre Aufregung nur mit Mühe beherrschte, ihn sofort verständigt. Sofort war er zu Jacquenne geeilt, um sich einen Passierschein ausstellen zu lassen, hatte sich, in Voraussicht der Schwierigkeiten bei den Vorposten, mit seinen Papieren, darunter sein Berufungsdekret im Collège de France, versehen und sich durch eines der östlichen Tore auf den Weg gemacht. In Charenton hatte er einen Wagen gefunden, war in die Kavallerie geraten und mußte sich, als verdächtig, die Ehre einer Eskorte bis Versailles gefallen lassen. Die glückliche Begegnung mit Tolain hatte dem Dilemma ein Ende gemacht ...
Während Martial ihm zuhörte, überkam ihn angesichts der opferfreudigen Entschlossenheit des Kreises ein aus Dankbarkeit und Verdruß gemischtes Gefühl. Daß er selbst nichts geahnt, nichts hatte tun können! Und gleichzeitig packte ihn heißer Zorn gegen diese Narren, die sich nicht entblödeten, ehrenhafte Männer ins Gefängnis zu schleppen! Sein Vater, ein berühmter Gelehrter, ein erprobter Patriot, zwischen Gendarmen eingeführt! ... Diese Schmach traf ihn härter, als hundert Ungerechtigkeiten gegen andere. Er erblickte jetzt plötzlich Menschen und Dinge in ihrem wahren Lichte. Diese jähe Erkenntnis der Wirklichkeit ließ ihn ermessen, welche Verwüstung der vergiftende Einfluß von Versailles in ihm angerichtet hatte. Er schüttelte seine Betäubung ab und empfand mit tiefem Schmerze die tausend Ursachen der Verzweiflung. Bei dem Gedanken an die Gefahr, die seiner Mutter in Montmartre gedroht, an ihre Vereinsamung in dem Häuschen, das jeden Augenblick von den Granaten getroffen werden konnte, errötete er vor Scham, seinen Vater und Thédenat, die beiden alten Männer, in der Stunde der höchsten Gefahr allein in die bedrohte Stadt zurückkehren zu lassen. Er faßte einen raschen Entschluß:
»Ich gehe mit euch! ... Ja, Vater, ich will nicht länger von dir und Mutter getrennt sein!«
Doch Poncet weigerte sich energisch. War Martial toll geworden? Hatte er Lust, unter die Soldaten gesteckt zu werden? Zurückkehren, das hieß, die Flinte über die Schulter nehmen. Diesmal müßte er mitmarschieren, oder nach Mazas, wenn nicht noch Schlimmeres ... Nein, er durfte Paris nicht wieder betreten. Das wäre purer Wahnsinn ... Zudem könnte er ihnen in keiner Weise nützen; seine Anwesenheit wäre ihnen im Gegenteil eine beständige Sorge, eine neue Qual ...
Allmählich ließ Martial sich von den Vorstellungen seines Vaters, der durch Thédenat noch unterstützt wurde, überzeugen. Doch seine Unruhe wuchs nur noch. Was sollte er beginnen? In Versailles zu bleiben, tatlos, gleich einem Strandgut der Brandung der Stunden preisgegeben, das widerte ihn an. Die Last seiner Vereinsamung, seiner Ermattung drückte ihn nieder. Das unwiderstehliche Verlangen überkam ihn, um jeden Preis sich aus diesem stagnierenden Marasmus, diesem Seelenschlamm, in den er zu versinken drohte, zu retten ... Fort, nur fort...
Eine Reihe mit Granaten beladener Karren versperrte ihnen vor der Mairie, an der Ecke der Avenue de Paris, den Weg. Raschen Schrittes, von einem breitschulterigen Manne mit vollem, gutmütigem Gesicht begleitet, eilte ein Generalstabsmajor vorüber. Beim Anblick Thédenats und der Poncets machte er eine Gebärde der Überraschung, schwankte einen Moment, ob er stehen bleiben sollte, und ging dann mit ausgestreckten Händen auf den Geschichtsschreiber zu. Auch die Poncets begrüßte er mit einem Händedruck.
Du Breuil hatte nur eine Minute Zeit; er kam aus Châtillon um dem Generalstab des Marschalls ein vertrauliches Schreiben des Generals Chenot zu überbringen.
Mit herzlicher Sympathie lächelte er Thédenat zu, den et seit dem 19. März, der Ermordung der Generäle, nicht mehr gesehen hatte. Mehr als einmal, seitdem er mit seinem Chef vor den Toren der Stunde des Angriffs harrte, waren Thédenats letzte Worte ihm in den Sinn gekommen. Sie waren eine so treffende Antwort auf seine Zweifel, die sich verdoppelt hatten, seit er, in den Reihen der Kämpfer stehend, zum Handeln gezwungen war. Wie oft wiederholte er sich die prophetischen Worte: »Auch Sie sind der Sklave einer Pflicht ... Möge sie Sie niemals wieder als trauriges Werkzeug der Gewalt in die Hände von Verbrechern und Verblendeten führen! Sollten Sie aber eines Tages gegen Paris kämpfen müssen, denken Sie daran, daß diese Stadt viel gelitten hat, und daß hinter den Rädelsführern die Menge steht, die nichts weiß, die man nicht unterrichtet hat, die Menge, die das Elend aufstachelt und die Unwissenheit irreführt ... Dann, mein Kind, seien Sie menschlich ...« Wie aber diese furchtbaren Gegensätze vereinen: Soldat sein und Menschlichkeit üben?
Poncet und Bersheim, die einander sogleich wiedererkannt hatten – welche Ewigkeit seit Bordeaux! – sprachen in herzlicher Weise miteinander. Ihre Vaterlandsliebe und ihr Schmerz knüpften ein festes Band zwischen ihnen. Du Breuil stellte seinen künftigen Schwiegervater Thédenat vor. Als dieser den Namen des ehemaligen Deputierten von Metz hörte, erhellten sich seine Züge. Gleich in den ersten Worten, die die beiden Männer wechselten, verriet sich warme Sympathie, bewundernde Hochachtung von seiten Bersheims, edles Mitgefühl seitens Thédenats für diesen Mann, der die verlorenen Provinzen und, in seiner kraftvollen Gestalt, den grauen Augen, die lothringische Festigkeit und Treue verkörperte.
Der Metzer war, die Heimatstadt verlassend, in der seine Interessen ihn nicht mehr zurückhielten, gestern mit seiner Frau angekommen. Grausamer, als er geahnt, war der Schmerz gewesen, als der Moment gekommen war, von diesen Orten, an denen er seine Kindheit und seine Mannesjahre verlebt, zu scheiden. Der Verkauf der Fabrik, der Abschied von den alten, vertrauten Arbeitern, der Besuch des Landgutes von Roisseville, wo neue Pächter unter Großmutter Sophias Aufsicht schalten und walten sollten, waren ebensoviele Stationen des Leidensweges gewesen.
Versailles, das er in lockender Erregung, in jenem Fieber, das dem Halali der großen Treibjagden voranzugehen pflegt, befangen fand, bot ihm keine Zerstreuung; der Wechsel des Horizonts hatte seinen Schmerz nicht zu wandeln vermocht. In Metz hatte er in jedem Nerv den unheilbaren Riß, die Abtötung der Wurzeln empfunden. Hier, auf einen unfruchtbaren Boden, in eine verdörrende Luft versetzt, fehlte ihm plötzlich alles. Nachdem die erste Freude des Wiedersehens mit Anina und Du Breuil vorbei, empfand er nichts als die Verzweiflung, als Fremder der Entfesselung der Leidenschaften zusehen zu müssen.
Bersheim fand keine Entschuldigung für die wahnwitzigen Handlungen der Männer der Kommune, für diese maßlose Vernichtungswut, die sie trieb, zur größten Freude der Deutschen die Säule der großen Armee zu stürzen und, wie Vallès zu verlangen, daß man »das eingewickelte Gerippe« des Cäsar verbrannte, um dessen Asche dem Spiel der Winde preiszugeben! Ein schöner Sieg, den man mit der Demolierung von Thiers' Palais errungen – die Nationalversammlung hatte beschlossen, es auf Staatskosten noch schöner wieder aufzubauen! ... Schöne Revanche auch, sich für die bevorstehende Niederlage an Unschuldigen zu rächen! ... Auf den von einem Offizier der Nationalgarde, Barral de Montaut, einem doppelzüngigen Skribenten, verfaßten Bericht über die angebliche Beraubung und Ermordung einer Marketenderin durch einen Versailler Soldaten hin hatte Urbain gefordert, daß man als Rache für diese Bluttat unverzüglich fünf Geiseln in Paris selbst in Gegenwart der versammelten Bataillone, fünf andere bei den Vorposten erschienen solle. Amouroux und Rigault stellten den Antrag, auf die unverzügliche Ausführung des ehemaligen, vor allem gegen die Geistlichen gerichteten Erlasses zurückzugreifen.
Diese furchtbaren Drohungen, dieses sich Aufbäumen des zur Verzweiflung getriebenen Tieres hinderten jedoch Bersheim nicht, zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten zu unterscheiden und – da er jeden solchen Exzeß verabscheute, zugleich diese wilde Erbitterung zu hassen, mit der die Jäger sich auf das unverantwortliche Paris stürzten unter dem Geheul greisenhafter Parlamentarier, korrumpierter Journalisten, egoistischer Lebemänner und wutschäumender Bürger.
Die Poncets und Thédenat, Bersheim und Du Breuil waren eben, am Rand des Trottoirs beisammenstehend, im Begriff, sich zu trennen, als um sie her plötzlich eine schnell wachsende Ansammlung entstand. Vom Eingang der wie an Feiertagen belebten Avenue her näherte sich dumpfer Lärm. Mit einer mit Vergnügen gemischten Wut teilte man sich die gewohnte Neuigkeit mit: »Gefangene!«
»Gehen wir!« sagte Du Breuil.
Er hatte solcher Züge schon zu viele gesehen. Und auch Bersheim wollte flüchten, die Überreiztheit der Menge fürchtend. Poncet und Thédenat jedoch, denen dieses Schauspiel neu war, zögerten, von schmerzlichem Interesse festgehalten. Martial wurde unruhig; zufällig war er noch keiner dieser traurigen Kolonnen begegnet. Der Ausdruck des Widerwillens auf Du Breuils Zügen machte ihn schwankend. In einem Augenblick hatte der Strom der Neugierigen die Straße überschwemmt; eine Mauer schaulustiger Gaffer bannte sie an die Stelle.
Im Sonnenschein, in eine Staubwolke gehüllt, die von dem Blitzen der Waffen durchzuckt wurde, erschienen die Unglücklichen zwischen den Reitern der Eskorte. Es war die gewohnte Herde zerlumpter, wildblickender Gestalten, die mit Wutgeheul empfangen wurde. Die Haare an der Stirn klebend, die mit Staub, Kot und Pulver bedeckten Gesichter von Schweiß überronnen, keuchend wie atemlos erhitzte Hunde, so schleppten sie sich fort, Gespenster der Verzweiflung und Verwilderung, in nichts der edlen menschlichen Gestalt mehr ähnlich. Eine Frau in rauschender Seide rief: »Wie häßlich sie sind!«
Martial maß den rosigen Teint und den blumengeschmückten Hut mit einem Blick der Verachtung und brummte instinktiv: »Die da möchte ich dabei sehen!« Nebenstehende wiesen ihn streng zurecht. Thédenat und Poncet sahen wortlos, tief erschüttert, zu. Bersheim faßte Martials Hand und raunte ihm zu: »Schweigen Sie!« Du Breuil kaute, leichenblaß, an seinem Schnurrbart.
Unter drohend ausgestreckten Fäusten, Steinwürfen und den Stößen ihrer Wärter schritten die Föderierten vorbei. Ein faules Ei, von einem Gassenjungen geworfen, zerbrach an der Stirn eines braunen Riesen, dessen Kopf über den anderen hervorragte. Die gelbe Flüssigkeit lief ihm in den Bart und über den behaarten Hals. Ungeheuere Heiterkeit antwortete seiner drohenden Bewegung, die mit geschwungenem Säbel unterdrückt wurde.
Je näher die letzten kamen, je roher wurden die Verhöhnungen, je widerlicher die Gewalttätigkeiten. Eine Bahre kam vorüber mit einem Greise und zwei Frauen, die nicht mehr hatten folgen können. Ein ganz frischer, blutiger Riß lief über die Stirn des Mannes. Endlich, von einem Husaren an einem Strick nachgezogen, folgte eine Alte in zerfetztem Rock und wild ins Gesicht hängenden weißen Haarsträhnen, so erschöpft, daß sie bei jedem Schritte strauchelte. Mit brutaler Kraft spannte sich die um die blutenden Handgelenke gewickelte Schnur und schüttelte die wankende Greisin. Und der Husar lachte, und die Menge klatschte Beifall. Plötzlich erhob sich Jubelgeschrei und Triumphgeheul. Die Alte war zu Boden gesunken und wollte sich nicht mehr rühren. Der Husar stach sie mit dem Säbel in die Hüfte, stach immer wieder, von obszönem Lachen ermutigt.
Doch schon war Du Breuil, sich den Händen Bersheims, der seine Absicht erriet und ihn nicht loslassen wollte, entreißend und unfähig, seine Empörung länger zu zügeln, auf den Fahrweg gesprungen und schrie den Husar an:
»Schämen Sie sich denn nicht? Achten Sie doch Ihre Uniform!«
Eingeschüchtert, ließ der Reiter die Nase hängen und ritt brummend, und die Alte, die man mit Fußtritten zum Aufstehen gezwungen hatte, nachschleppend, weiter, während sich um den Offizier die heulende Menge scharte. Angegriffen, geschmäht, stand er da und schaute verständnislos um sich. Ein ordengeschmückter Beamter steckte ihm die Faust unter die Nase und schrie:
»Sie, Sie sollten sich schämen!«
Die Dame mit dem Blumenhut höhnte:
»Jetzt geht's ihm an den Kragen!«
Fäuste packten ihn, ohne Achtung vor seinen Achselschnüren. Die Menge brach in Vorwürfe, in Murren aus: »Schlagt ihn nieder! Reißt ihm daß Kreuz ab!« Mit Blitzesschnelle durchzuckte Du Breuil die Erinnerung an seinen Leidensweg durch die Rue des Rosiers, an eine andersgekleidete Menge mit denselben Gesichtern ... Denselben? Nein. Diese hier waren noch abstoßender, mit ihrer äußeren Vornehmheit.
Seine Hand sauste auf eine weiche Wange nieder und erweiterte mit geschickten Schlägen den Kreis um sich her. Die Wut verdoppelte seine Kräfte Neben ihm wehrten Bersheim und die Poncets voll kochenden Zorns die Angreifer ab. Ihrem Widerstand, Thédenats ehrfurchtgebietender Würde, Du Breuils Miene beleidigten Stolzes nicht minder als dessen kräftiger Faust gelang es endlich, der Menge zu imponieren. Sie teilten die grollenden Gruppen und entfernten sich heil und unversehrt.
Noch bebend, die Seele von Zorn, Trauer und Abscheu geschwellt, schritten sie schweigend, oder kurze Reden tauschend, ihres Weges. Poncet und Thédenat empfanden vor dieser Offenbarung einer von ihnen bisher ungeahnten Menschheit ein unaussprechliches Grauen, den Schauer eines unheilkündenden Vorgefühls. Martial fragte sich, völlig verstört, wie es ihm möglich gewesen, ohne zu ersticken, in dieser vergiftenden, an der Oberfläche faulen, auf dem Grunde tödlichen Umgebung auszuhalten. Unwiderstehlich erfaßte ihn die Sehnsucht nach einem Ort des Friedens und der Schönheit, wo die Sonne nicht mehr solche Greuelszenen beschien. Nach einigen Schritten, nachdem die erste, wildeste Erregung sich gelegt, trennten sich die Männer. Bersheim und Du Breuil wandten ihre Schritte dem Palais Grandpré zu. Noch ganz unter dem Eindruck des Erlebnisses stehend, war es ihnen, als gingen sie gebrochen aus einer furchtbaren Krise hervor, die, so kurz sie auch gewesen, noch für lange Zeit niederschmetternd in ihnen nachwirken würde.
Du Breuil, dessen Augenblicke gezählt waren, beschleunigte den Schritt, den Aufenthalt verwünschend. Kaum daß er Anina wiedergesehen und in ihrer Mähe einige Minuten des Trostes und der Stärkung genossen, mußte er in die Quartiere der Division zurückkehren ... Noch klang im Hof des Palais die die Gäste meldende Glocke, als sie auch schon auf der Schwelle der Vorhalle erschien. Betroffen blickte sie auf die verstörten Gesichter ihres Vaters und ihres Verlobten. Was war wieder geschehen?
Doch Bersheim legte ihre Hände ineinander: »Geht, meine Kinder!« Und während die jungen Leute den Salon durchschritten, um die Einsamkeit des Gartens aufzusuchen, stieg er selbst schnell in sein Zimmer hinauf. Seine Frau schrie auf, als sie ihn eintreten sah. In heißem Drang nach Zärtlichkeit und Mitgefühl zog er sie an sich, setzte sich neben sie und schüttete ihr sein Herz aus. In gedrängten Worten machten sein Schmerz, seine patriotische Empörung sich Luft. Um das zu sehen, um unnütz, von allem und allen verwundet, Zeuge dieses gehässigen, das Land zerreibenden Kampfes, der Wut dieser in wilde Bestien verwandelten Menschen zu sein, darum hatte er sein Heimatshaus, die geliebte Vaterstadt verlassen!
Erstaunten Blickes betrachteten beide die doch so gastfreien Wände dieses Zimmers, in dem sie, traurige und heimatlose Reisende, ein flüchtiges Obdach gefunden. Die durch das offene Fenster einströmende, milde Luft schien ihnen feindlich, aus einem rauhen Himmel herabzuwehen. Von der Vergangenheit gelöst, Opfer der Gegenwart, die ungewisse Zukunft fürchtend, erkannten sie zu ihrem Schmerze, daß ihr neues Vaterland ihnen nichts als eine fremde Erde, ein trauriges Exil war.
Hand in Hand, ergingen sich Anina und Du Breuil in der Lindenallee, mit der Glut der Leidenschaft die rasch entfliehenden Minuten genießend. Sie waren ihnen eine Oase in der Wüste ihrer Tage; und doch vergiftete eine unsagbare Bitterkeit die Wonne des Beisammenseins. Unaufhörlich, seit er ihr fern war, bereute Du Breuil, in diese Trennung gewilligt zu haben und, ohne von dessen Notwendigkeit überzeugt zu sein, einen täglichen Dienst erfüllen zu müssen, den ihm zu erschweren alles beitrug: die unerfreuliche Berührung mit den Kameraden, der Zusammenstoß der Ideen und vor allem das beinahe beständige Beisammensein mit Chenot, der sich bei näherer Bekanntschaft, unter der Maske bäuerischer Verschlagenheit, als ein Streber ohne Gewissen und Grundsätze entpuppte. Wie Aninas schöne Augen, ihr reines, zärtliches, unendliche Wonnen verheißendes Lächeln ihm fehlten! Wie allein er sich fühlte mit der Qual seiner Zweifel und der langweiligen Gleichförmigkeit des Dienstes! Und als er ankam, die Lippen nach Küssen lechzend, das Herz nach Liebe dürstend, voll heißen Verlangens, aus der Nähe der Geliebten ein wenig Ruhe, einen Vorrat an Energie und Vertrauen zu schöpfen, da mußte, ein tragischer Zufall, der niederschmetternde Schlag eines solchen Abenteuers ihn treffen, um seine unruhig schwankende Seele vollends zu entmutigen.
»Wie!« sagte er sich, »ist es so weit schon mit uns gekommen, daß eine Tat einfachsten Mitleids, die Erfüllung eines bloßen Amtes als Vorgesetzter einen solchen Lohn erntet? Ich habe nichts als meine Pflicht als Bürger, als Offizier getan. Besiegte, Menschen, auch wenn sie irregeführt, wenn sie schuldig waren, in solcher Weise verhöhnen, das heißt, noch unter das Tier herabsinken. Diese Menschen sind ja doch imstande, für eine Sache, die sie als legitim betrachten, zu kämpfen und zu sterben! Mag die Gesellschaft sich zum Richter aufwerfen, wohlan, da sie die Stärkere ist, im Interesse des Landes und der Deutschen wegen die Stärkere sein muß; doch wenigstens darf sie sich nicht zum Henker machen ... Wenn Frankreich das Recht auf Ordnung hat, hat Paris das Recht auf Gerechtigkeit. Recht für Recht ...«
Die Aussicht auf kommende Tage, auf den bevorstehenden Angriff verdüsterten noch mehr seine Betrachtungen. Statt das Glück des Beisammenseins zu genießen, schilderte er seinen Verdruß und seine Sorgen. Unbewußt und gegen ihren Willen kehrte ihr Gespräch immer wieder, zu dem ewigen Kreuzweg zurück, an den ihre Gedanken sie gleich einer zu kurzen Kette fesselten. Nicht rückhaltlos vermochten sie des flüchtigen Augenblicks, des düftegeschwängerten Abends, der Süße der Stunde sich zu freuen. Tief, tief tauchten sich ineinander ihre Blicke, als gälte es eine lange Trennung.
Nie war Anina ihrem Verlobten rührender erschienen. Nie war er ihrem Herzen näher gewesen. All die geheimnisvollen Kräfte des Lebens strömten in ihre Adern. Sie hätten diesem Augenblick die Dauer der Ewigkeit verleihen mögen und fühlten mit unaussprechlichem Bangen den Rausch, der mit jäher Gewalt sie erfaßt, sich verflüchtigen.
Du Breuil zog seine Uhr und horchte auf die eiligen Schläge. Er machte eine Gebärde der Verzweiflung, als er die Flucht der Zeit gewahrte. Der Moment des Abschieds auf wie lange? ... Zum erstenmal drängte sich, in einer übermächtigen Aufwallung des Gefühls, Brust an Brust. Ihre Gesichter berührten sich, ihre Lippen pflückten von in Purpurröte gehauchten Wangen die schon verwelkte Blume des Augenblicks ...
Als ihre Arme aus der leidenschaftlichen Umarmung sich lösten, empfanden sie mit schmerzlichem Staunen, wie fern sie trotz der Nähe einander waren durch die ganze Kluft des Ungewissen getrennt. Morgen! Es war nicht mehr die Zeit, die unwiderbringliche Zeit, deren Flucht sie empfanden, es war das Beste ihrer selbst, das mit ihr entfloh, ihr Glück und ihr Leben ...
Den nächsten Tag herrschte in einem der ehemaligen Sekretariatsbureaus von Haußmann ein betäubendes Durcheinander zorniger Stimmen, zuschlagender Türen, das wirre Getöse, das das Rathaus beim Nahen des Endes füllte. Obgleich keiner es sich gestehen wollte, jeder sich den Anschein gab, Paris für unbezwinglich, die Kommune für die Herrin der Situation zu halten, machte sich doch angstvolle Unruhe bemerkbar. In den ungeheueren Sälen sah man Leute eiligen Schrittes ab und zu hasten, als hätten sie gefühlt, daß die Brücke schwankte, das Schiff dem Untergang nahe war. Ihre Blicke wichen einander mißtrauisch aus oder begegneten sich mit herausforderndem Trotz.
»Nein, mein Lieber!« entschied Jacquenne harten Tons. »Erwarten Sie nichts von mir.«
Er maß Poncet mit einem Blick mürrischen Grolls.
»Und Sie, Fernol«, fuhr er fort, »lassen Sie mich in Ruhe! Ich habe keine Zeit zu verlieren.«
Die drei Männer betrachteten sich ohne Sympathie; dumpfe Gereiztheit schärfte ihre Worte, blickte aus ihren Augen. Poncet war in der Nacht heimgekehrt, die Seele noch schaudernd von dem ekelerregenden Bilde von Versailles. Er hatte alle Hoffnung auf eine Versöhnung verloren: der letzte, während seiner Abwesenheit versuchte Schritt der Liga, dieser vergebliche Vorschlag eines Waffenstillstands, während dessen die Nationalversammlung und die Kommune ihre erlöschende oder usurpierte Macht der Vereinigung der neuen Munizipalräte übergeben konnten, die nahezu gleichlautenden Wünsche des Lyoner Kongresses, all das war nichts als Schall und Rauch gewesen, kindische Träume, in der unerbittlichen Wirklichkeit zerstoben. Und eben diese gestern so bitter erkannte und empfundene Wirklichkeit war es, die die Hoffnung auf ein letztes Arrangement, auf irgend einen unmöglichen Umschwung weckte. Hatten nicht drei Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses, Billioray, Gambon und Ranvier, von seiten der Syndikats-Union, einen ersten Schritt im Sinne des früher von letzterer angegebenen Programms versucht: die Unterwerfung der Kommune unter eine Neuwahl, unter der Bedingung, daß Paris ein autonomes Departement bildete, bei voller und umfassender Amnestie ... Dieses Zurückweichen war ein Zugeständnis, sie hatten Angst, – sie würden nachgeben.
»Sie sind eine naive Seele«, sagte Jacquenne. »Ein Schritt nach rückwärts bedeutet für uns den sofortigen Zusammensturz. Obendrein, soll Versailles mit Leuten verhandeln, die zur Nachgiebigkeit bereit sind! Man wird die Kette festlegen. Mon diesen Zivilisierten, die schlimmer sind als Barbaren, Verband oder Mitleid verlangen, wäre Wahnsinn. Muß ich Sie an die Worte erinnern, die Thiers zu den Delegierten von Lyon gesprochen hat: »Die Nationalversammlung ist liberal! Die Armee ist heldenmütig! Er wird ihr nicht den Schimpf antun, ihr den Einzug in Paris zu, verwehren. Sie hat ein Recht auf diese Belohnung! ... Frankreich? Das wird sich nicht rühren. Fünfundzwanzigtausend Mann Reserve stehen bereit, im Notfall gegen Lyon zu marschieren. Zweifellos das, was von den getreuen Soldaten Napoleons III. übrig blieb, die letzten Gefangenen, die Favre, als er sich nach Deutschland begab, um den schmählichen Vertrag zu unterzeichnen, in Mainz besuchte und die Bismarck großmütig zurückerstattet hat! Die übrigen Städte werden tatenlos bleiben. Thiers setzt sein Vertrauen auf die Erschlaffung des öffentlichen Geistes. Nein! es bleibt nur ein einziges Mittel des Heils: die Bevölkerung der Vorstädte muß sich erheben und in dem von den Reichen verlassenen Paris sich auf den Angreifer stürzen! Die Barrikaden, die Feuersbrunst! Und wenn man stirbt, so stirbt man wenigstens den Tod der Tapferen!«
Nur noch durch die Nerven lebend, überarbeitet, von rauhem Husten geschüttelt, widmete sich Jacquenne, gleich Delescluze, mit dem Eifer der Verzweiflung einer Sache, die seine Parteigenossen, seinem Ideal entgegen, trübe und verwickelt machten. Weder die schwankenden sozialistischen Bewegungen der Minorität, noch das kindische Geschwätz der Majorität, dieses sklavischen Abklatsches der Menschen und Taten von 1793, stimmten mit seinem engen und strengen Begriff der zukünftigen Gesellschaft überein. Er wollte, daß unter einem beherrschenden Niveau die Menschheit wieder gut, arbeitsam und gerecht werde. Ein trockener Kollektivismus sollte an alle gleichmäßig Ideen und Brot, Wohnung und Kleider verteilen, die Kinder erziehen, die Greise versorgen; der befreite Gedanke, die freie Ehe, Mann und Frau in ein neues Paradies versetzt, ohne einen anderen Gott, als das Gewissen ...
Mit dem Aufschwung der Kommune zur beherrschenden Macht hatte für ihn auf dem Zifferblatt der Zeit eine der bedeutsamen Stunden der sozialen Geschichte geschlagen. Ohne Aufschub mußte organisiert werden, zahllose Dekrete mußten Licht in das Chaos bringen, mußten die Stadt der Träume von Grund auf neu erbauen. Und gleich zu Anfang waren angesichts der ungeheueren Verwirrung und der ohnmächtigen Uneinigkeit seine Illusionen erloschen, seine Wut gewachsen. Er lebte abseits von den Intrigen, unabhängig, gefürchtet wegen der Strenge seiner Grundsätze und der Offenheit seiner Rede. Er war dem letzten Echo des großen Streites, dem Tagesbefehl ferngeblieben, welcher das Manifest der Sozialisten tadelte und ihnen, wie ertappten Schulkindern, versprach, ihr Verhalten zu vergessen, wenn sie ihre Unterschrift zurückzögen. Er verachtete eine große Anzahl seiner Kollegen; gestern erst wieder hatte man Emil Clement, den Ex-Polizisten, verhaftet. Jetzt erschien ihm alles, welche Maßregel man auch ergriff, ob rein abstrakt oder in der Tatsache, unzureichend und armselig. Unantastbar und von puritanischer Sittenstrenge, versetzte ihn der regelrechte Diebstahl, in den, trotz der Bemühungen eines Jourde, eines Varlin, eines Moreau, die Verwaltung der Lieferungen und der Löhne ausartete, – man hätte dabei täglich zwei- bis dreimalhunderttausend Franks ersparen können – in kalte Wut; für jeden Betrüger und Schuldigen den Tod! Er hatte den Artikel befürwortet, welcher lautete: »Sobald die Versailler Horden besiegt sind, wird über alle jene, die, nah und fern, die Verwaltung bei öffentlichen Vermögen in Händen haben, eine Untersuchung angestellt werden.« Er, der unter dem Kaiserreich einer der berühmtesten Pamphletisten gewesen, er hatte die Hekatombe gebilligt, welcher die letzten Zeitungen, zehn Tagesblätter und Revuen, darunter La Commune, das Echo de Paris, die Revue des Deux Mondes zum Opfer fielen und die das Erscheinen jedes neuen Blattes untersagte. Er hätte gerne mit einem Schlag alles Bestehende, die Freunde selbst, ans der Welt geschafft, um in Ruhe das energische Werk zu beginnen. Der Officiel genügte.
Was die Geiseln betraf, hätte er, jedes persönliche Mitleid in sich erstickend, – zumal Versailles nicht in ihren Austausch gegen Blanqui allein gewilligt und ihrer Hinopferung im Prinzip zugestimmt hatte – sie nicht einzeln mit Hoffen und Harren, dem ja doch der Tod folgte, martern mögen. Gemeinsam sollten sie in Reih und Glied vor der Front des Heerbanners aufgestellt und, wenn Versailles noch zögerte, das Todesurteil zu sprechen, alle zugleich erschossen werden! So würde der blutige Abgrund ausgefüllt, die verhaßte Vergangenheit mit ihren eigenen Waffen vernichtet und der Todeskampf ohne Gnade begonnen werden.
Mittwoch war die Patronenfabrik in der Avenue Rapp, gleichsam als Antwort Versailles' auf die Zerstörung der Vendômesäule, in die Luft geflogen und hatte zahlreiche Opfer unter ihren Trümmern begraben. Ganz Paris hatte unter dem furchtbaren Getöse gezittert. Aus dem riesigen Feuerherde, in dem die Pulverfässer, die Patronenballen mit fortwährendem, donnerähnlichem Krach explodierten, schossen die Flammen in die Höhe und dazwischen ein Wirbel von Kugeln, brennenden Ballen und menschlichen Überresten. Dichte Rauchwolken lagerten sich über das von blutigem Feuerschein übergossene, mit zerplatzten, geschmolzenen Kugeln bedeckte Marsfeld, über den Stadtteil, in dem sämtliche Fensterscheiben zerbrochen waren.
Mit der öffentlichen Meinung schrieb Jacquenne auf einige verdächtige Indizien hin diese Katastrophe dem Verrat zu und glaubte Versailles als den Urheber derselben zu erkennen. Allerorten Spione und Verschwörer! ... Kein Erbarmen, keine falschen Hoffnungen mehr! ... Die Breschebatterien hatten ihr Feuer eröffnet, während alle Vorwerke und die Kanonen des Mont-Valerien den Gürtelwall mit ihren Geschossen verheerten.
Poncet schwieg. Wozu noch länger drängen? Es blieb ihm nichts mehr übrig, als sich auf sein Häuschen auf dem Montmartre, in sein Laboratorium einzuschließen, während Agathe fortfuhr, die Verwundeten zu pflegen und so viel Gutes wie möglich zu tun. Zu wiederholten Malen war man von seiten der wissenschaftlichen Delegation zu ihm gekommen, um seine Hilfe als Chemiker zu erbitten. Er mußte bedeutende Quantitäten von Explosivmitteln und die Kenntnis von furchtbaren Formeln besitzen ...
Er hatte Mühe, seine Kaltblütigkeit zu bewahren, als Jacquenne zu ihm sagte:
»Sie täten besser daran, uns zu helfen ...«
Die kalten Augen des Sektierers flammten auf:
»Paris wird, wenn es sein muß, in die Luft fliegen! Ich weiß, es gibt unter uns Leute, die toll genug, oder feige genug sind, von unmöglichen Auswegen zu träumen, wie zum Beispiel davon, die Versailler zu versöhnen, indem sie ihnen unsere Köpfe anböten ... Ja, dieser Rastoul hat sich sogar zu dem Vorschlag verstiegen, mit der ganzen Nationalgarde, mit Waffen und Bagagen, sich zu den Preußen zu begeben, um deren Schutz und um die Mittel zum Transport nach Amerika zu betteln! ... Pfui! ... Das würde Ihnen passen, Fernol, wie?«
Er trat ganz nahe an den Arbeiter heran und lachte mit unaussprechlicher Verachtung:
»He? das würde Ihnen passen! ... Haha! Paris wird in die Luft fliegen und Sie mit!«
Fernol, dessen große, erschreckte Augen wild in ihren Höhlen rollten, nahm Poncets Schweigen für Zustimmung. Aber nein! So würde er sich nicht kommandieren lassen, nicht von anmaßenden Bürgern, von verbitterten, von Hochmut geblähten Federfuchsern die Gesetze vorschreiben lassen! Jacquenne und Konsorten waren toll ... Nachdem man alles gewagt – die Revolution hatte so schön begonnen! – würden sie, wenn man sie gewähren ließe, einen bis in die Tiefe des Abgrunds schleppen! ... Volltönend klang seine Stimme: Es lohnte sich wohl der Mühe, gestern, im Einvernehmen mit der Kommission der Kommune, eine Proklamation unterzeichnet zu haben, in der man jede Spur eines früheren Zwistes auszulöschen bestrebt war! Das mit der gesamten Kriegsverwaltung betraute Zentralkomitee zentralisierte die Verteidigung in ihren Händen. Er beabsichtigte, sie nach seinem Belieben zu leiten. Was war er? Die von dem Volke vor dessen eroberte Rechte gestellte Schildwache, der bewaffnete Feind des Bürgerkrieges!«
Unter diesen bei aller Volltönigkeit leeren Phrasen verbarg Fernol nur schlecht seine täglich wachsende Angst. Gleich vielen anderen hatte er anfangs im 18. März nur die Fortsetzung des 4. September erblickt. Die Reihe kam an sie, an das Volk, jene Gewalt auszunützen, deren die Bourgeois sich unwürdig gezeigt hatten. Es würde ihnen nicht schwer werden, sich besser zu bewähren! Die raschen Wahlen, die Absetzung des Zentralkomitees hatten in den meisten nur das Verlangen nach dem Kuchen, den sie, kaum erst angebissen, geschürt; diese zwei Monate schwindelnder Aufregung waren für sie mit ehrgeizigen Agitationen, mit der alleinigen Sorge um Wiedereinnahme des verlorenen Platzes ausgefüllt gewesen. Intelligente und ehrliche, berechnende und mittelmäßige Männer, sie alle waren im Detail untergegangen und begnügten sich mit dem berauschenden Bewußtsein, ein kleines Teilchen von Autorität bewahrt zu haben. Nun sie dieselbe beinahe uneingeschränkt wieder erlangt hatten, kannten viele, nach Fernols Beispiel, nur eine Sorge: sich darin zu behaupten, nichts zu tun, was den Eintritt des Unheils hätte beschleunigen können, wenn möglich – aber wie? wie? – den endlichen Sturz zu vermeiden.
Der Toulousaner verbarg unter der Wucht seiner Reden eine gutmütige Seele und war schon zufrieden, wenn nur seine kräftige Stimme und seine Schärpe ihre Wirkung taten. Trotz seiner prahlerischen Beredsamkeit, seiner blutdürstigen Reden hätte er keiner Fliege weh tun können. Trotz seines Herodesbartes war er im Grund der Seele Zucker und Honig und süß wie die Bonbons, die er vom Morgen bis zum Abend naschte.
Jacquenne erriet mit untrüglicher Deutlichkeit die Furchtsamkeit des dicken Mannes. Wütend packte er Fernol an der Schulter und stieß ihn mit kräftiger Faust hinaus:
»Räumen Sie den Platz! Ihr glaubt, die Herren zu sein, aber ihr seid es noch nicht und werdet es nie werden! Die Narren und Querköpfe euerer Sorte, haben alles verdorben ...«
Vergeblich erschöpfte sich Fernol in feierlichen Versicherungen. Außer sich drängte Jacquenne ihn der Tür zu, die er unter Drohungen und Beschwörungen zuschlug. Gesenkten Kopfes, wie ein Eber, kehrte Jacqueline zu Poncet zurück:
»Und diese blöden Arbeiter möchten uns regieren wollen! Sehen Sie, der Beweis ist erbracht. Diese Leute sind noch nicht reif. Das Ruder muß noch für lange hinaus in unseren Händen bleiben. Wir, wir Bürger sind es, die die Republik zu schmieden und zu gründen berufen sind. Ah, Poncet! strafbarer Bürgerlicher, der Sie sind, Sie Verblendeter, der Sie uns im Augenblick des Kampfes im Stich gelassen, Sie Deserteur, der Sie, der Flagge Ihres Lebens untreu, sich dem Fortschritt, der Gerechtigkeit abgewandt und die Zukunft verraten haben! ...«
Erschöpft sank er auf einen Fauteuil, von furchtbarem Husten geschüttelt, während Poncets Blicke voll düsteren Mitleids auf ihm ruhten.
Wieder verstrichen vierundzwanzig Stunden. Bei Tagesanbruch des 21. hatten die dreihundert Geschütze und die Breschebatterien, die von Westen bis Süden die Wälle verheerten und die Tore vollends demolierten, ihr Feuer wieder eröffnet. Überall standen die Versailler vor den Wällen. Das Mitglied der Kommune, Lefrançais, sah und hörte sie in ihren Laufgräben, als er die Trümmer der Porte Saint-Cloud passierte. Mit froher Geschäftigkeit erweiterten sie Approchen für die Angriffskolonnen.
Die allgemeinen Dispositionen waren getroffen, der Ansturm stand bevor. Montrouge, die einzige Festung, die der Kommune noch blieb, war nur noch ein Steinhaufen. Vom Point-du-Jour bis zu den Batignolles war der Gürtel nahezu verödet, Dombrowkis Truppen verschwunden, die letzten Artilleristen auf ihren Geschützen getötet, die Einwohner in die Kellerräume geflüchtet oder in schleunigem Auszug begriffen. Passy, Auteuil, Courcelles, schienen verödet, alles Leben in die Kellerlöcher geflüchtet.
Paris erschien, je nach den verschiedenen Stadtteilen, leer, alles Leben erloschen, oder von fieberhaftem Leben erfüllt. Es gab ganze Straßen, in denen kein Mensch zu sehen war, die Läden gesperrt waren und auf den Trottoirs die Hühner sich tummelten. Der Kleinhandel vegetierte. Die Bürger, hinter ihren geschlossenen Fenstern kauernd, zitterten vor Furcht, im Hausflur die Gewehrkolben der Haussuchungsdetachements aufschlagen zu hören und bebten vor Freude bei dem Gedanken, bald die erlösenden Klänge der Versailler Trompeten zu vernehmen. Endlos dehnten sich die Boulevards, durch die selten nur ein Wagen rollte, während auf dem Bastilleplatz das lärmende Treiben des Pfefferkuchenmarktes herrschte, im Zirkus Napoleon fünftausend Personen sich zur Allianz der Departements um Millière versammelten und eine festlich gekleidete Menge sich zu dem Konzert in den Tuilerien begab.
Während sich die ohnmächtigen, von den tausend brandenden Wogen des Tumults erfaßten Stadtväter in Todeskrämpfen, in Kopflosigkeit, in Furcht und verzweifeltem Harren verzehrten, verlebte das Volk von Paris sorglos ferne letzten Stunden, ohne zu ahnen, daß die Armee vor den Toren stand. Als wäre die ewige Kanonade nichts weiter, als eine begleitende Musik zu seiner Herrschaft, freute es sich seiner Freiheit, berauscht von Kraft und Licht. In machtvoller Glut, in der schon der Alkohol der erbrochenen und geleerten Fässer brannte, schürte die heiße Maisonne diese wahnsinnige Lebensfreude. Der kupplerische Frühling bekränzte mit seinem grünen Laub diese Todestage und schwängerte die Luft mit berauschenden Düften. Die Natur vollbrachte in unbekümmerter Heiterkeit ihr großes Meisterwerk und riß alle diese nach Vergessen, nach Liebe und flüchtigem Genuß dürstenden Wesen in ihren allmächtigen Strom, ihren ewigen Kreis.
»Beeile dich, Pulcheria! Wir werden als letzte kommen.«
In ihrer Loge, wo Louchard in großer Gala, mit einer neuen Schärpe umgürtet, ungeduldig wartete, knüpfte sich die dicke Gattin mit aufgeregt zitternden Händen die Bänder ihres Hutes, eines altmodischen, mit verstaubten Blumen geschmückten Bauwerks. Ein mit Volants bedecktes Kleid bauschte sich um ihren geschwollenen Leib. Sie freute sich darauf, einem der Konzerte, beizuwohnen, welche Doktor Rousselle in dem »seinen wahren Souveränen zurückgegebenen« Palast veranstaltete. Seit acht Tagen plagte sie ihren Mann mit dem Verlangen, zu einem dieser Feste geführt zu werden. Der Abend des 18. war in besonders feierlicher Weise verlaufen.
Die frühere Partei aus dem fünften Stockwerk, Melie, nunmehrige Frau Kommandant Tinet, die jetzt immer die kostbarsten Roben trug – sie mußten aus einem sehr reichen Hause stammen! – hatte ihr von der Pracht dieses Festes erzählt, als sie heute morgen aus ihrem Palais der Ehrenlegion kam, um eine neue Ladung von Einkäufen – Wäsche ohne Zweifel, nach der Form der Pakete zu urteilen, – zu eskortieren. Ein herrlicher Abend! Platzoffiziere, nicht minder schön als die Hundertgarden, walteten ihres Amtes als Festordner; der im Lichte aller seiner Lüster funkelnde Marschallsaal, mit seinen schweren roten, mit goldenen Bienen bestickten Samtvorhängen, seiner zu Logen umgewandelten Galerie. Und die überall prangende Kundmachung des Doktor Rousselle: »Volk, das Gold, das von diesen Wänden fließt, ist dein Schweiß!« ... Und dann das Konzert! Mademoiselle Agar, von der Comédie-Française, hatte Verse deklamiert, La Bordas gesungen:
»C'est d' la Canaille!
Eh, bien! ... J'en suis!«
Und dann die Erfrischungen, die geöffneten Fenster, durch die der blaue Nachthimmel hereinschaute, die beleuchtete, von Liebespaaren wimmelnde Blumenterrasse...
»Sie müssen aber doch vorsichtig sein, Frau Louchard«, riet die Villoir, die mit majestätischer Würde im großen Lehnstuhl saß, »Sie wissen doch, daß die Tuilerien unterminiert sind? Statt der guten Weinflaschen, die man zu Hunderten und Hunderten geplündert hat, hat man Pulverfässer und vierzig Patronenkisten in den Keller gebracht.«
Sie hatte mit der Portiersfrau enge Freundschaft geschlossen, seit sie wußte, daß der »Kommandant« in allerlei Intriguen verwickelt war und seine einstigen Irrtümer durch völlige Hingabe wieder gut machte. Aus Gefälligkeit hatte sie sich bereit erklärt, während der Abwesenheit der Portiersleute, die Loge zu hüten. Nur Geduld! die guten Zeiten mußten wiederkehren. Ihr Mann mußte befördert werden, während Louchard mit einer kleinen Sinekure abgefertigt wurde ...
»Was erzählen Sie da, Madame Villoir? Sie werden es nicht wagen, den Königspalast zu zerstören ...«
Er lebte in beständiger Angst, jedes seiner Worte wägend. Dadurch, daß er beide Teile getäuscht, allen verdächtig, verdoppelte er seinen Eifer, sich für Versailles der Gefahr der Gefangennahme aussetzend, sich auf die Brust schlagend und seine Ergebenheit für die Kommune beteuernd. Ein gefährliches Handwerk, bei dem man eine Verbannung nach Mazas riskierte, wie kürzlich erst Arrohnson, der unter dem Namen Gutmacher erwischt worden war. Louchard hatte in den Verschwörungen Domalain-Charpentiers nur eine spärliche Einnahmequelle gefunden; diese Reorganisierung der getreuen Nationalgarden war zu kompliziert und zu umfassend gewesen, und die Versailles abgezapften Hunderttausende von Franks flossen einer unbekannten Quelle zu. Lauchard hatte geschwankt, ob er sich einem Herrn Muley, Chef der 17. Legion, anschließen solle, war aber bald zu dem wichtigsten Clan: Beaufond-Laroque-Lasnier zurückgekehrt. Dann hatte er sich damit befaßt, Armbinden anfertigen zu lassen, und gleichzeitig Malonsky wegen Auslieferung des famosen Tores zu gewinnen gesucht.
Seine doppelte Niederlage hatte ihn vorsichtig gemacht, umsomehr, als er durch einen Genossen namens Veysset von den um Dombromsky angesponnenen Intriguen und der über allen schwebenden Gefahr Witterung erhalten hatte.
Ein ungeschickter Tropf, dieser Veysset; seine Frau war vor einigen Tagen schon verhaftet worden, und nun war er ihr ins Gefängnis nachgefolgt ... Die Kommune hatte ihn gestern in Saint-Quen ergreifen lassen.
In Übereinstimmung mit Barthélemy Saint-Hilaire und Saisset, hatte er anderthalb Millionen Franks dem General und dessen Umgebung angeboten, damit dieser die Wälle entblößte; Hutzinger, ein anderer Adjutant Dombrowskis, hatte sich zu mehreren Rendez-vous hergegeben. Die Sache schien weit genug gediehen zu sein: Dombrowski hielt sich dem Kampfe fern und vertauschte oft, Malonskys Mitteilungen zufolge, sein Quartier in La Muette mit demjenigen auf dem Vendômeplatz. All das war verdächtig. Andererseits wußte Louchard aus sicherer Quelle, daß der General das Wohlfahrtskomitee eingeweiht habe und von diesem autorisiert worden sei, die Negociationen abzubrechen; an einem gegebenen Tage, nachdem die Truppen vorbereitet waren, sollten die Versailler in einen Hinterhalt fallen. Was sollte man glauben? Es war ein Geheimnis, es sei denn, daß Veysset sich in Verwahrsam der Polizeipräfektur befand.
Doch im Ernst, man durfte sich nicht der Gefahr aussetzen, ihm nachzufolgen. Dieses Konzert in den Tuilerien zugunsten der Witwen und Waisen bot eine günstige Gelegenheit, seine Ergebenheit für die Revolution zur Schau zu tragen. Nur hatte er das Kreuz, als zu auffallend, entfernt.
Frau Louchard griff in die Taschen, ob sie auch alles hatte: ihre Billetts, ihre Börse, ihre Schlüssel.
»Vorwärts!« kommandierte Louchard. Als die beiden durch die Rue de Medicis, das Gitter des Luxembourg entlang, schritten, erregte ein junges Paar ihre Aufmerksamkeit.
»Wahrhaftig, sie sehen aus wie Louis Simon und seine Rose!« rief Frau Louchard.
Und erfreut, – die beiden waren so nett! – beschleunigte sie ihren Schritt. Sie waren es wirklich. Sie rief sie an. Die jungen Leute blieben stehen und wandten ihre glückstrahlenden Gesichter, auf denen noch ein Zug des Leidens lag, zurück.
»Nun, geht's besser?« erkundigte sich die dicke Frau.
Gleich allen Gevatterinnen des Viertels hatte das Verschwinden der Liebenden sie bekümmert. Ihre rührende Idylle, Rosens mutiger Weg zu ihrem Geliebten, die während ihrer Abwesenheit verbreiteten Gerüchte – es hieß, daß sie in den unterirdischen Gängen den Tod gefunden hatten, – ihr Wiederauftauchen, all das umgab sie mit einem romantischen Nimbus und machte sie zu den Helden eines Romans à la Eugen Sue. Überdies war die Familie Simon geachtet und beliebt. Die Portiersfrau schlug vor:
»Da wir denselben Weg haben, können wir ja zusammen gehen, wenn's Ihnen recht ist.«
Louis und Rose freuten sich, dank den von Thérould erhaltenen zwei Eintrittskarten sich diese Zerstreuung gönnen und den Sonntag der Befreiung und der Freude feiern zu können, die ihnen aus den Augen lachte, ihre Seele mit blendendem Sonnenschein umschmeichelte und ihnen den Ausblick auf unbegrenzte Horizonte öffnete.
Seit fünf Tagen wurden sie nicht müde, sich darüber zu wundern, daß sie noch am Leben waren, daß sie die milde Mailuft atmen, sich des freundlichen Familienkreises freuen durften. Welche Nacht des Schreckens lag hinter ihnen! War es denn wirklich wahr, daß sie all das erlitten, diese Stunden des Todesgrauens durchlebt hatten? Wäre Anatole nicht gewesen, der mit dem Steinbrechermeister sich auf die Suche nach ihnen begeben hatte ... Erschöpft, halbtot vor Ermattung und Entkräftung, hatte man sie am nächsten Morgen an derselben Stelle, wo sie umgesunken waren, aufgefunden. Grausige Fiebervorstellungen hatten sie gefoltert; in enger Umschlingung, fast bewußtlos vor furchtbaren Schmerzen, erwarteten sie das Ende ... Das dumpfe Geräusch von Schritten, Rufe, Laternenschein, dann der langsame Aufstieg ins Tageslicht, gleich Sterbenden gestützt und getragen ...
Vierundzwanzig Stunden hatten sie in der Nähe des Tores von Montrouge, bei einem Krämer und seiner Frau, freundlichen, teilnehmenden Leuten, zubringen müssen, um sich zu erholen. Und sie konnten noch von Glück sagen! Viele waren bei ihrem Austritt aus den unterirdischen Gängen in die Hände der Versailler gefallen. Andere, die man nach ihnen gerettet hatte, waren wahnsinnig geworden.
Erst am 16. abends, lang« nach dem Sturz der Säule und dem Besuch Thédenats, waren sie in der Rue Gay-Lussac eingetroffen. Von Anatole vorbereitet, hatten Simon und Therese sie erwartet. So ungeduldig Therese auch sich nach dem Wiedersehen sehnte, hatte sie doch den Alten nicht allein lassen wollen, um ihnen entgegenzugehen. Dieser Abend war ein wahres Fest für die Familie. Anatole war lustig wie ein Buchfink, der Vater hatte seine Gesundheit wiedergefunden. Therese umfaßte sie alle mit einem tiefen, liebevollen Blick, und sie, die nun Mann und Weib und an ihren Schläfen noch die Kälte des Grabes zu fühlen glaubten, sie hatten nach der Wonne, einander körperlich anzugehören, das ernste Glück kennen gelernt, ihre Seelen vereinigt zu fühlen, als Genossen fürs ganze Leben, für gute und böse Stunden.
Tags darauf hatten sie ein Zimmerchen neben der Ladentür bezogen. Therese hatte die armselige Einrichtung geteilt und gestern waren sie auf dem Bürgermeisteramte durch einen Adjunkten vor dem Gesetz verbunden worden. Um die Kirche hätten sie als Nichtgläubige auch in gewöhnlichen Zeiten sich nicht gekümmert, um wieviel weniger jetzt, da der religiöse Kultus beinahe überall aufgehoben und verfolgt war, die Priester, durch die Vorsicht gezwungen, ihr geistliches Kleid abzulegen, keine Achtung mehr einflößten und die meisten Kirchen entweder von dröhnenden Klubreden widerhallten oder geplündert und ausgeraubt waren. Louis tadelte diese Verfolgung der geistlichen Macht und ihrer Vertreter. Nicht mit Kolbenschlägen und Gewaltmaßregeln sollten die Kirchen geleert werden, sondern durch die würdige Trennung von Kirche und Staat, durch eine rationelle Erziehung der Gewissen.
Mit gönnerhafter Freundlichkeit, als Matrone, welche die junge Novize in die Korporation aufnahm, begrüßte Frau Louchard die junge Frau Simon. In heiterem Gespräche gaben die vier sich dem Zauber dieses Spaziergangs und des herrlichen Nachmittags hin. Wie eine tiefblaue, spiegelnde Fläche lag die Seine da. Die grünen Laubmassen der Tuilerien tauchten auf. Die vor die Konkordienbrücke gezogene Flottille von Kanonenbooten lag in tiefer Ruhe; längs des Kais, der einem kleinen Kriegshafen glich, lagen faul und schläfrig die Matrosen.
Aus dem menschenwimmelnden Garten drang der Refrain der Lieder, die Klänge der Musikkapellen. Durch die Alleen bewegten sich lichtgekleidete Frauen, funkelnde Uniformen neben den Blusen der Arbeiter und Handwerker. Ein zahlreiches Publikum von Verwandten, Freunden, Gevattern in altmodischen, von Kampfer riechenden Kleidern und steifzeremoniellen Hüten. Louchard warf sich, wie gewohnt, in die Brust.
Bei der Biegung eines Parterres stieß man auf Thérould.
Schlotteriger denn je, das Gesicht von nervösen Zuckungen verzerrt, das Blut von Alkohol erhitzt, die Beute einer beständigen Erregung, führte der Bummler ein tolles Dasein, den Becher bis auf den Grund leerend. Er gehörte zu den Klarsehenden: man konnte froh sein, wenn es noch vierzehn Tage dauerte! Dann komme, was wolle! Das Leben war ja doch kein Tanz. Das Gericht, das über das Los der Geiseln entscheiden sollte, begann zu funktionieren. Man sprach davon, daß alles erschossen, als niedergebrannt werden sollte. Dieser verdammte Pére Duchesne fand Rigault und Ferré noch viel zu weich und schlaff.
Er behandelte Rose mit übertriebener Galanterie, von dem Glück der beiden Turteltauben gerührt. Ihm, der stets nur traurige Liebschaften und liederliche Verhältnisse kennen gelernt hatte, erfrischte der Anblick des jungen Paares das Herz.
Augenblicklich lebte er mit einer Dirne, die er aus Mitleid bei der Sperrung eines Bordells aufgelesen hatte, als ein Erlaß der Delegierten seines Arrondissements die Prostitution abgeschafft und diese Geschöpfe des Elends auf die Gasse gewiesen hatte. Das dankbare Ding führte ihm die Wirtschaft, lebte eingezogen, wurde zuweilen von ihm geprügelt, worauf stets eine rührende Szene folgte, und war ruhig und zufrieden.
Das Orchester spielte ein Stück aus dem Schwarzen Domino. Thédenat flüsterte:
»Ganz hübsch! Wissen Sie, daß der alte Bonze, der das da gemacht hat, soeben mit umgekehrter Waffe an uns vorübergegangen ist, ein gewisser Auber? Können Sie sich denken, was das bedeutet? Grüßen Sie nur... Ja, unter Badingue, da wäre die Musik hinter seinem Wagen hergezogen. Jetzt haben die Zeiten sich geändert. Man weiß nicht mehr, ob man lebt oder stirbt ... Alles ist auf den Kopf gestellt. Rochefort, der ganz Frankreich ergötzte, als er seine Laterne anzündete, ist heute morgen mit knapper Not in Saint-Germain der Gefahr entgangen, gesteinigt zu werden von denselben Menschen, die voriges Jahr noch ihm Beifall geklatscht haben ... Man ist im Begriff, ihn nach Versailles zu bringen. Er wird seinen Scherz – die Demolierung von Thiers' Palais – teuer zu büßen haben ... Wissen Sie nicht? Der Herr Marquis hat uns da schön sitzen lassen! Er war in üblem Geruch und begann, Rigault unangenehm zu werden. Da hat er sich Mähne und Bart scheren lassen und, kahl wie ein Pfaff, die Flucht ergriffen. Aber er hatte kein Glück; ein Polizeikommissär hat ihn in Meaux, vor den deutschen Linien, aufgelesen ...«
In der Tat befand sich zu derselben Stunde Rochefort im Gefängnis der Rue Saint-Pierre. In Saint-Germain den Händen Galliffets übergeben, der den Gefangenen vor der ihn bedrohenden Wut der Menge schützen mußte, war er zur Frühstücksstunde in einem kleinen Eisenbahnomnibus unter Bedeckung von zwei Eskadronen in Versailles angelangt. Im Flug hatte die Neuigkeit sich verbreitet, die Straßen sich mit einer tobenden Menge gefüllt, während die Tische des Hotels des Reservoirs sich leerten. Und dasselbe Bürgertum, das den berühmten Pamphletisten vergöttert hatte, schäumte vor Wut, brach in mörderisches Geschrei und gemeines Gelächter aus, als das ehemalige Mitglied der Nationalverteidigungs-Regierung, der extreme Journalist und Politiker vorüberfuhr, der durch Schmähschriften Karriere gemacht und die neue, soziale Ordnung bedrohte, nachdem er die alte erschüttert hatte.
Von Théroulds Geschwätz und dem Lärm des Orchesters betäubt, wandelten Louis und Rose durch das Gewühl des Publikums, in die Pracht des friedlich strahlenden Tages versunken ... Eine köstliche Stunde verging. Das Konzert nahte seinem Ende. Plötzlich erhoben sich Ausrufe und Gelächter. Ein Generalstabsoffizier hatte sich auf die Estrade geschwungen und sprach mit weithin tönender Stimme:
»Bürger! Herr Thiers hatte versprochen, gestern in Paris einzuziehen. Herr Thiers ist nicht eingezogen. Er wird auch nicht einziehen! Ich lade euch für nächsten Sonntag wieder hierher ein!«
Im selben Augenblick sah Rose einige Schritte von sich entfernt Louchard, dem sich ein Individuum mit dem Aussehen eines Polizeimannes genähert hatte, totenbleich werden und verschwinden, von seiner dicken, fassungslosen Gattin gefolgt. Langsam, mit fröhlicher Miene, zerstreute sich das Publikum. Keiner ahnte, was Louchard soeben durch einen ihm befreundeten Geheimagenten erfahren hatte.
Die Versailler waren eingezogen.