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II.

Die ganze Nacht hindurch spien die von Stunde zu Stunde neu sich öffnenden Krater eine Höllenglut von Rauch und Flammen über die Stadt.

Mit Schauder und Entsetzen betrachteten die Einwohner die fürchterliche Schönheit dieser feurigen Sündflut. Diejenigen, deren Häuser in Flammen standen, jammerten laut oder sahen wie gelähmt der Verheerung zu.

Alle fluchten in diesem Augenblick der Kommune, deren unfähiger Despotismus in Verbrechen ausartete. Das waren die angeblichen Verteidiger der Rechte von Paris, die wie eine ihnen gehörige Sache das Erbe Frankreichs, diese lebenden Steine, diese historischen Straßen, Paläste, Häuser, Bibliotheken der Zerstörung preisgaben! Barbaren, die unter den Augen der Deutschen das vollbrachten, was die Deutschen nicht gewagt hatten! Alle, die Guten und die Bösen, die für solche Verbrechen Verantwortlichen und diejenigen, die keinen Teil daran hatten und sie ohne Zweifel verdammten, ihnen allen galt gleicherweise die wütende Empörung der Menge. Man fühlte nichts Menschliches mehr in sich gegenüber diesen Männern, die wilden Tieren gleich alles in ihren Untergang mitreißen wollten. Man begrüßte die Armee, von der man Erlösung hoffte. Mit heißen Wünschen beschleunigte man ihren langsamen Vormarsch und überließ ihr die Aufgabe, ohne Gnade und Erbarmen den Platz reinzufegen.

An zwanzig Orten zugleich donnerten die Explosionen, krachten die Gewölbe und Kuppeln, stürzten die Dächer ein, zersplitterten Tausende von Fenstern, aus denen die Flammen mit unersättlicher Gier hervorzüngelten. In schweren Spiralen stiegen die Flammen empor, ein Funkenregen, ein Hagel glühender Balken und Steine ergoß sich über die Stadt. Die Hitze war erstickend. Von Zeit zu Zeit erbebte die Erde in geheimnisvoller Erschütterung. Das Getöse wurde so betäubend, die Glut des Feuers so blendend, daß die Sinne es nicht mehr ertragen konnten. Es war wie Weltuntergang.

Im Finanzministerium, wo die Feuerwehr der Gemeinde den ersten Brand gelöscht hatte, war am Nachmittag das Feuer von neuem aufgeflammt und verwandelte haufenweise die Aktenstücke und Rechnungsbücher der Regierung in schwarze Schmetterlinge, die, vom Ostwind getrieben, durch die Ströme von Rauch wirbelten und als Zeugen des Unheils meilenweit in die Runde flatterten.

Brunel, von hinten überfallen und in die Enge getrieben, hatte die Rue Royale angezündet und auf Befehl des Wohlfahrtsausschusses die Einäscherung des Marineministeriums angeordnet, das glücklicherweise durch die Anwesenheit einer Ambulanz und die Geistesgegenwart des Doktor Mahé gerettet worden war. Im Palais der Ehrenlegion, im Ober-Rechnungshof und im Staatsrat, in der Kaserne d'Orsay, in der Depositenbank, in der Rue de Lille hatte General Eudes als Mitglied des Wohlfahrtsausschusses persönlich die Vorbereitungen geleitet. Um sechs Uhr abends gab er, im Augenblick der Flucht, das Signal. Sofort breitete sich das Feuer über die mit brennbaren Stoffen getränkten Objekte aus; aus dem ungeheuren Block der Gebäude zischten die Flammen auf und hüllten alles in blauen und grünen, scharlachroten und gelben Rauch.

Um neun Uhr brannten die Tuilerien vom Pavillon de Flore bis zum Pavillon de Marsan, während Bergeret von einer der Terrassen des Louvre aus sein Werk bewunderte, bevor er sich von den Wahnsinnigen des Rathauses bejubeln ließ. Mit diesen zusammenbrechenden Mauern glaubten sie Kaiserreiche und Monarchien stürzen zu sehen, und zugleich mit dem »Herd der Tyrannei« die Tyrannen selbst zu vernichten. Um ein Viertel nach ein Uhr morgens war unter Donnergepolter und einer riesenhaften Funkengarbe die Kuppel des Marschallsaales in die Luft geflogen.

Um drei Uhr war das Palais-Royal von der Wut des Elements erfaßt worden. Bousier hatte damit einem an ihn ergangenen Befehl gehorcht und sodann, von Benot unterstützt, der durch den Brand der Tuilerien Geschmack an der Sache gefunden hatte, neuerdings die Brandfackel in den Louvre geschleudert, die Bibliothek, die Schätze der Geschichte, die Wunderwerke der Vergangenheit eingeäschert. Von allen Seiten bedrohte das Feuer den alten Louvre, die darin angesammelten Meisterwerke, die Blüte und die Frucht des menschlichen Genius.

Das im Rathaus versammelte Wohlfahrtskomitee beschloß, von dem Beginn seines Werkes befriedigt, bevor es diesen Winkel von Paris seinem Schicksal überließ, mit dem Rathaus selbst noch Chatelet, das Theatre-Lyrique, die Polizeipräfektur, den Justizpalast, das Krankenhaus und Notre-Dame niederzubrennen. Mit Pulver und Petroleum beladene Wagen wurden in diese Richtungen abgesandt.

Indessen begann Rigault, auf eigene Rechnung handelnd, mit der Ausführung seiner gegen die Geiseln gerichteten Drohung. Allein hatte er sich am Abend nach Saint-Pelagie begeben und Chaudey, den föderalistischen Republikaner, vor sich zitiert. Der ehemalige Freund und Testamentsvollstrecker Proudhons sah sich angeklagt, den 22. Jänner den Befehl zur Erschießung der Nationalgarde des Rathauses gegeben zu haben. Politischer Haß, wenn nicht noch gemeinere Motive, stachelte die persönliche Rachsucht Rigaults, des Kameraden des an jenem Tage getöteten Sapia ... Bei der würdigen Entgegnung seines Opfers, bei den Worten: »Nun denn, ich will euch zeigen, wie ein Republikaner zu sterben weiß«, schnitt ihm der Prokurator der Kommune das Wort ab.

Drei niedere Beamte, gehorsame Bestien, und acht mit Mühe zusammenberufene Nationalgardisten dienten als Henker. »Rigault!« sprach Chaudey, als er den Todesweg antrat, »ich habe ein Weib, ich habe Kinder.« – »Was kümmert mich das!« erwiderte der andere. »Wenn die Versailler mich in ihre Hände bekommen, werden sie auch nicht Gnade üben!« Damit erhob er seinen Säbel und kommandierte: »Feuer!« Eine einzige Kugel verwundete Chaudey am linken Arm. Er schwenkte den rechten und wiederholte mit lauter Stimme: »Es lebe die Republik!« Dann stürzten sich die drei Bestien auf ihn und durchschossen ihm den Bauch, die Schläfe und den Schädel.

Sofort wurden drei Gendarmen aus ihren Zellen geführt und an die Mauer gestellt. Man mußte die Nationalgardisten aufrütteln, sie hatten genug des Gemetzels und senkten nur murrend ihre Gewehre. Zwei Leichen rollten zu Boden. Der Überlebende entkam und versteckte sich hinter einem Verschlag; doch man erwischte ihn und streckte ihn nieder. Ein abscheuerregendes Blutbad, aus dem Rigault frohen Herzens, friedlichen Gemütes hervorging, bereit, frisch und fröhlich sein »Werk der Gerechtigkeit« fortzusetzen.

Unter dem aschgrauen, von Rauch verdunkelten Himmel, an dem die strahlenlose Sonnenscheibe gleich einem ungeheuren gelben Monde stand, folgte ein Tag der Trauer der Nacht des Grauens und Entsetzens. Vom dämmernden Morgen an war auf der ganzen, von der Armee okkupierten Linie das Gefecht wieder aufgenommen worden, die Regimenter beschleunigten ihren Vormarsch. Angesichts des verspäteten, nun aber umso erbitterteren Widerstandes, besonders aber angesichts des wahnsinnigen Verbrechens der Brandstiftung ließ man dem aufgehäuften Zorn, diesem Überschwang an Brutalität, der im Bürgerkrieg schrecklicher als in jedem anderen Kriege zum Ausbruch kommt, freien Lauf. Die ruhigsten Köpfe erhitzten sich, die Hitzigen verloren die Besinnung. Es war wie eine allgemeine Hysterie, die in beiden Lagern die Geister erfaßt hatte.

Den ersten Hinrichtungen hatte das furchtbare Echo der Explosionen geantwortet. Und diese nervenerschütternden Stöße, diese Einäscherungen, die all diesen Schlachtentumult in grausige Klarheit hüllten, die Flintenschüsse, das Geschrei, das Todesröcheln, all das versetzte Köpfe und Herzen in die Trunkenheit der Blutgier. Die Herzen auch der besten verhärteten sich. Es schien nur gerecht, diese außerhalb des Gesetzes, der Natur, des Lebens stehenden Geschöpfe gnadenlos hinzumetzeln. Wer immer ihnen nahekam, durch irgend ein Band mit ihnen zusammenhing, war im voraus verurteilt: Freunde, Frauen, Kinder selbst waren nur noch Galgenstricke, Kanonenfutter. Und dieser Abschaum von Abenteurern und Verbrechern – das sollten Soldaten sein? Das waren nicht einmal mehr Menschen.

Die meisten Offiziere der Versailler Armee, Cäsarianer von Herkunft, Reaktionäre der Neigung nach, sahen in der erbitterten Ausübung ihrer Rachgier nur die Erfüllung einer sozialen Pflicht, ein notwendiges Werk der Läuterung.

Die Soldaten waren gewaltsam derart aufgereizt und irregeleitet, daß sie in der Masse des Volkes, aus dem doch sie selbst hervorgegangen waren, nur Verbrecher der schlimmsten Sorte erblickten und die empfangenen Schläge hundertfach zurückgaben. Das langsame Vordringen durch Blut und Flammen, dieser Straßenkampf, in dem es Haus um Haus, Barrikade um Barrikade zu erobern galt, in dem die Kugeln verräterisch und blindlings flogen, der Widerwille dagegen, nach Sedan und Metz, nach den Schneefeldern des Nordens und Ostens, nach dem Kotmeer der Loire sich von neuem schlagen zu müssen, der unbewußte Hochmut, sich als Richter aufzuwerfen, der angeborene Instinkt der Gewalttätigkeit, die Freude, sich als stärkere zu fühlen und allen Widerstand niederzutreten, – all das erstarrte zur Fühllosigkeit einer Maschine die Wesen, die alle in irgend einer Stadt oder einem Dorfe eine Familie, Väter, Mütter, Brüder, Schwestern hatten, Menschen wie jene, die sie hier niederschossen und herdenweise auf den Straßen nach Versailles zu Boden warfen ... Dunkle Stunden, in denen das menschliche Gewissen erlosch, in denen, aller Seele bar, der zum Tier gewordene Mensch durch die Finsternis streifte und der ewige Kain seine Fäuste emporreckte. Von immer neuen Herden strahlten die Flammen aus, sich mit den Rauchwolken der früheren Brände vermischend. Der Justizpalast, das Thèatre-Lyrique, das Rathaus errichteten zwischen der fliehenden Kommune und der siegreich vordringenden Armee eine rotglühende Mauer. Während von den Höhen des Père-Lachaise aus die föderierte Batterie auf Eudes' Befehl die Börse, die Bank, die Post, den Siegesplatz, den Vendômeplatz, die Tuileriengärten, die Kaserne Babylone mit Granaten überschüttet, während auf dem Friedhof selbst, an Dombrowskis Sarg, Vermorel den Toten feiert und in wenigen Worten voll verzweifelter Beredsamkeit den Lebenden die Leichenrede hält, während Ferré sich auf die Polizeipräfektur stürzt und, nach Rigaults Muster, durch einige Rächer Flourens', den Versailler Agenten Beysset erschießen läßt, der Dombrowski zu bestechen versucht hatte – während dieser Zeit rückten die Truppen vor. Das Hauptaugenmerk war auf das Zentrum gerichtet; man versuchte, aus den Flammen zu retten, was noch zu retten war.

Douay ist Herr des Vendômeplatzes, des sofort mit Wasser überschwemmten Palais-Royal, der Tuilerien und des Louvre, wo ein schnell vorgenommener Durchbruch den unrettbar verlorenen Palast von den unversehrt gebliebenen Museen trennt. Eine der Divisionen hat sich auf die Bank gestürzt und reicht den getreuen Bataillonen der Beamten, die das Gebäude bewacht haben, die Hand; über dem Hauptportal flattert die trikolore Fahne. Gestern haben der Marquis de Ploeuc und Beslay, bewunderswert in ihrem Patriotismus und ihrer Hingebung, der Kommune die letzten fünfmalhunderttausend Franks ausbezahlt. Das Gebäude, auf dem das Nationalvermögen beruht, blieb verschont; von den zwei Milliarden neunhundertachtzigtausend Millionen, die es in Bargeld, in ungemünztem Gold und Silber, in Juwelen, in Paketen von Banknoten und Wertpapieren in seinen feuer- und einbruchsicheren Kellern barg, fehlten nur siebzehn Millionen.

Douays Bataillone übergehen die Börse, bemächtigen sich der Postdirektion und nehmen Saint-Eustache und die Hallen ein. Die Division Berge vom Korps Vinoy ist im Begriff, sich der brennenden Trümmer des Rathauses, der stehen gebliebenen Kaserne Lobau zu bemächtigen. Auf dem linken Flügel erobert Clinchant das Konservatorium, die Kirche Saint-Eugène, die Eskomptebank, das wuchtige Bauwerk der Porte Saint-Denis; eine andere Kolonne erstürmt den Square Montholon, Saint-Vincent-de-Paul, die Barrikade des Boulevard Magenta. Am äußersten Ende dringt Ladmirault um Mittag in den Nordbahnhof ein und vereinigt sich nach scharfem Gefecht auf dem Boulevard Ornano mit Clinchant. Auf Montmartre nehmen die Batterien mit fieberhafter Hast Aufstellung, um die Buttes-Chaumont zu bekämpfen.

Auf dem anderen Flügel, dem linken Ufer, hat Cissey Ordre, den Luxembourg und den Pantheon als den Schlüssel zum ganzen Quartier latin zu besetzen. Seit Tagesanbruch hat die Division Bruat, alles zurückdrängend, was sich ihr in den Weg stellte, die Akademie der schönen Künste, das Institut de France, das Münzamt, die Barrikaden der Rue Taranne genommen. Schon schickt sie ihre Marinefüsiliere gegen den Luxembourg, der von den Brigaden Paturel und Bocher umzingelt ist.

Vor dem Tor der Mairie von Saint-Sulpice hält eine Gruppe von Reitern. General Chenot und sein Stab springen aus dem Sattel. Man befindet sich hier im Herzen der Schlacht. Von hier gehen die Befehle aus, hierher strömen die Kundschafter und Meldungen zu.

»Sorgen Sie dafür, daß die Pferde untergebracht werden!« sagt der General.

Du Breuil zeigt den Weg: »Durch dieses Tor!« Schweigend folgt er seinem Chef, dessen sporenklirrende Stiefel bereits über eine breite Treppe poltern. Ein geräumiger Saal, ein Tisch, auf dem sofort die Pläne der Stadt ausgebreitet werden. Chenot wirft sich in ein Fauteuil und trocknet sich den kahlen Schädel, den roten Hals. Von den silberweißen Haaren tropfen die Schweißperlen. »Das macht heiß!« stöhnt er, und es bleibt ungewiß, ob er von der sengenden Sonnenglut spricht, die bleischwer vom Himmel herab strahlt, oder von dem Orkan, der um sie her pfeift, heult und kracht. Er brummt:

»Sehen Sie doch zu, lieber Freund, daß wir ein Glas Bier bekommen.«

Diesmal wendete Du Breuil, der bereits über eine Karte gebeugt steht, nicht einmal den Kopf. Einer der den Chef umgebenden Husarenoffiziere stürzt dienstfertig fort ... Chenot zündet sich mit souveräner Ruhe eine Zigarre an. Niemals hatte er eine so reichliche Mahlzeit gehalten, wie in diesen entscheidenden Stunden, da unter seinem Kommando ein kleiner Teil der großen Partie gespielt wird. Mit sorgenvoller Stirn blickt er den Rauchwölkchen nach, seine farblosen Augen scheinen über tiefsinnige Kombinationen nachzudenken. Es ist dies ein Schleier, der hinter dem Schein der Selbstbeherrschung den Fatalismus des skeptischen Philosophen verhüllt; er überläßt den Ereignissen die Sorge für die Entscheidung, den Menschen die Aufgabe, ihm dienstbar zu sein ... Tapfer bis zur Gleichgültigkeit, läßt er sich durch nichts aus seiner Ruhe bringen, bewahrt immer dieselbe Miene mürrischer Bonhomie, ebenso im hitzigsten Gefecht, wie angesichts dieser Feuersbrunst, die ihm so trefflich geeignet scheint, der schlechten Sache ein Ende zu machen und das Land der heilsamen Restauration zuzuführen.

Mit boshaftem Augenzwinkern wandte er sich an seinen Generalstabschef:

»Wie weit sind wir, Du Breuil?«

Der Major erstattet Meldung über die letzten Nachrichten: Im Zentrum haben die Brigaden Paturel und Bocher in drei Kolonnen sich im Sturm auf den Luxembourg geworfen, bis hierher hörte man das atemlose Keuchen der Trompeten, den Widerhall des Angriffs unter dem Feuer der föderierten Kanonen. Zweifelsohne die Barrikaden der Rue Soufflot ... Auf der Linken befindet sich die Division Lacretelle im Anmarsch gegen den Boulevard Saint-Germain, um den Pantheon gegen Norden anzugreifen ... Rechts ist die Division Levassor-Soval Herrin des Parks Montsouris und hat sich zurückgezogen, um den Pantheon von Osten her zu nehmen. Sie steht bereits in Val-de-Grâce.

Chenot reibt sich die Hände:

»Der Pantheon, will sagen Sainte-Geneviève, ist unser! Wir werden heute nacht im Luxembourg schlafen.«

Rings um den General strahlten die Gesichter in Freude und Bewunderung.

Du Breuil, dessen eingefallene Züge auch nicht das leiseste Lächeln erhellt, neigt sich wieder tief über den blaugezeichneten Plan und möchte mit aller Glut seines ohnmächtigen Wunsches das allzu langsame Vordringen der Kolonnen beschleunigen ... Er hätte gewünscht, daß diese Schreckbilder ein Ende nähmen, daß dieser systematische, genau abgezirkelte Marsch von einer gewaltigen Aufwallung von Intelligenz und Mitleid rascher vorwärtsgetrieben würde; er hätte gewünscht, daß man mit einem Gesamtschlag das Netz zusammenzöge, statt es täglich mit kluger Berechnung von neuem auszuwerfen.

Es graute ihm vor dieser vielleicht klugen, aber unmenschlichen Art, Paris zu erobern, vor dieser zögernden Strategie, die man besser im Krieg gegen die Deutschen angewandt hätte, statt sie hier gegen Franzosen einzuführen. Oder, da doch der leichte, am Anfang durch Überraschung mögliche Sieg versäumt war, da man – doch um welchen Preis! – die wichtigsten Positionen behauptete, sollte man jetzt Einhalt tun. Ja, man sollte diesen Besiegten annehmbare Bedingungen stellen, damit ein wenig Ruhe die Leidenschaften mildere, daß die französische Seele in ihrer ursprünglichen Großherzigkeit endlich wieder zur Geltung komme! Und vor allem, vor allem müßten die Kanonen verstummen.

Mit Bitterkeit gedachte er des höhnischen Versprechens. Die Freude, ohne Blutvergießen die Tore geöffnet zu sehen, durch die – laut Thiers' Versicherungen – zugleich mit der Armee Ordnung und Friede wieder einkehren sollten, hatte sich gleich in der ersten Stunde in düsteres Grauen gewandelt. Zuerst, als er einen der Reiter der Eskorte neben sich fallen, dann einige Liniensoldaten verwundet forttragen gesehen hatte, als er an den Leichen der auf einer Barrikade gefallenen Föderierten vorbeigekommen war, hatte ihn nur das so oft schon auf früheren Schlachtfeldern empfundene Bedauern erfaßt.

Den Tod scheute er nicht, der war ihm vertraut als ein unabweisbares Schicksal jedes Kampfes, als das edle Lösegeld seines Berufes ... Bei den ersten Hinrichtungen jedoch, die nichts anderes waren, als durch kein Gesetz gegenseitiger Verteidigung entschuldbare Mordtaten, war all das, was seit Monaten in seiner zweifelgequälten Seele gekämpft, in heißer Empörung emporgewallt. Auf dem Bahnhof Montparnasse hatte er einen Haufen von Föderierten erschießen gesehen, die in einem Hause, aus dessen Fenster sie geschossen hatten, umzingelt worden waren; er war Zeuge von der Hinrichtung von fünf Frauen gewesen, die von den einen des Vergiftungsversuches an Soldaten, von anderen der Handhabung von Mitrailleusen angeklagt waren. Er war zu spät gekommen, um die Untat zu verhindern. Überall war er auf die starren Leichen von Frauen, Greisen, Kindern gestoßen.

So begann also das kaltblütige Gemetzel, das vor sechs Wochen mit Duvals Hinrichtung begonnen, durch die Furcht vor der Rache, durch die Bekanntmachung des die Geiseln betreffenden Gesetzes aufgehoben worden war, jetzt, da man der stärkere war, von neuem und in großem Stil. War das Gerechtigkeit, wie er um sich her hatte sagen hören? War es Pflicht der sozialen Selbsterhaltung? Da hatte auf alle die Zweifel, die ihn gefoltert, auf alle die Fragen, die er sich gestellt, aus der Tiefe seines empörten Gewissens die Antwort sich emporgerungen: – »Nein! Gerechtigkeit! Im Namen welcher Prinzipien, welcher ungeschriebenen Rechte als aus denen ihres aufgestachelten Hochmuts, ihres bedrohten Egoismus handelte die Gesellschaft, da sie sich zum Richter und Henker aufwarf? Gerechtigkeit? Nein, Rachsucht.«

Und doch erfaßte ihn beim schauerlichen Anblick der Feuersbrünste, in dieser durchglühten Atmosphäre die Wut auch über die verruchten Verbrecher, diese fürs Irrenhaus reifen Brandstifter, gegen die Führer dieser verblendeten, vom roten Strom der eingestoßenen und geleerten Fässer berauschten Menge. Er blickte zum Himmel empor, an dem ein scharfer Wind für Augenblicke die dichten Wolken von Rauch und Asche vertrieb und ein Stückchen Azurblau sichtbar wurde, um gleich wieder zu verschwinden. Fast sympathisierte er schon mit den haßerfüllten Worten, den heftigen Verdammungsurteilen seiner Kameraden. War Mitleid nicht Schwäche?

Wenn seine Gedanken aber zu den entflohenen, noch so nahen und doch unwiederbringlich verlorenen Stunden zurückkehrten, dann fragte er sich, ob für diese wütende Verzweiflung, wenn auch nicht eine Entschuldigung, so doch nur allzuviele mildernde Gründe zu finden wären? Die Preisgabe von Paris im März, nachdem man es provoziert und aufgereizt hatte, die langsame, unerbittliche Zusammenziehung der Belagerung, der bedingungslose, gnadenlose Krieg ... War es nicht wie eine Absicht gewesen, diese Menschen zur Unmenschlichkeit zu treiben? ...

Wohin er sich auch wandte, überall Nacht und Dunkel; gestern noch, in Versailles, hatte Aninas Nähe, die Ungewißheit der Zukunft einen Schimmer von Hoffnung durch den finsteren Tunnel leuchten lassen. Heute herrschte in seiner Seele, wie in dieser Umgebung blutiger Dämmerung, in der sein Körper allein mit automatenhafter Genauigkeit, mit mechanischer Handwerksmäßigkeit handelte, die Verwirrung einer Katastrophe, die Entgleisung all seiner Gedanken, die, verwundet und scheu sich im Dunkel gegen eine unübersteigbare Mauer stießen.

Plötzlich klirrten die Fensterscheiben. Ein furchtbarer Stoß erschütterte den Fußboden. Die Luft erzitterte von einem solchen Getöse, daß Chenot und die anderen in die Höhe sprangen. Flog das Stadtviertel in die Luft? Eine Sekunde stummer Aufregung, atemlosen Harrens, während der man das kristallische Knistern der Scheiben vernahm, das wie das Aufschlagen von Hagelkörnern auf Steinpflaster klang ... Das Getöse kam von jenseits des Gartens, aus der Richtung der Pépinière. Ein Offizier, der ans Fenster geeilt war, deutete auf den ungeheueren Qualm schwarzer Rauchwolken, der von jenseits des Luxembourg aufstieg und das Tageslicht noch mehr verdunkelte.

Fast gleichzeitig erfuhr man, daß es die Föderierten der Rue Barin waren, die auf dem Rückzug das Pulvermagazin angezündet hatten. Eine andere Estafette meldete, daß das Palais ohne Kampf erobert sei.

»Gehen wir!« seufzte Chenot. »Jetzt zum Pantheon. Zu Pferd, meine Herren ...«

Der Stab und seine kleine Eskorte setzte sich hinter dem General in Bewegung und erreichte nach wenigen Minuten den Hof des Luxembourg. Chenot strich sich den herabhängenden Schnurrbart und sagte:

»Es wäre gut, wenn ich Bescheid wüßte. Wollen Sie sich orientieren, Du Breuil? ...« Der Major salutierte schweigend und gelangte durch eines der Seitentore zwischen die Gartenbeete der Rue de Medicis. Im Galopp flog Cydalise über den zerstampften Rasen, über die aufsteigende Rampe hinter der Fontäne. Am bemoosten Felsen rieselte das Wasser, – es war ein Winkel voll feuchten Grüns und lauschiger Stille unter dem Gewölbe der hohen Platanen. Ohne die Liniensoldaten, die jenseits des Gitters in der Straße vordrangen, ohne das von der Straßenkreuzung herüberdringende Geknatter des Gewehrfeuers hätte Du Breuil sich hier in einer winzigen Oase inmitten eines geheimnisvollen, vielhundertjährigen Parks träumen können. Doch blitzschnell war die Vision verflogen, als er auf der Terrasse die dunkelblauen Röcke, die grünen Epauletten der Jäger zu Fuß erblickte. Sie standen gruppenweise hinter den Bäumen postiert. Eine Kompagnie hatte soeben das Gitter zerbrochen und die erste Barrikade der Rue Soufflot erstürmt.

Du Breuil spornte sein Pferd. Hinter der eingestürzten Mauer von Pflastersteinen, die mit ihren Trümmern den Zugang zur Gasse versperrte, beobachtete er ruhig den Abhang, den der Pantheon mit seiner wuchtigen Fassade, seiner schwerfälligen Kuppel überragte. Er wußte, daß die Keller von Pulvervorräten und Munition strotzten und fürchtete irgend einen Akt der Verzweiflung: daß die Föderierten im Fliehen das Riesengebäude in Brand stecken könnten. Wenn der Pantheon in die Luft flog, bedeutete das den Ruin des linken Ufers, den Zusammensturz eines Teiles von Paris durch die ungeheure Erschütterung. Wieder hätte er mit seinen Wünschen die Bewegung der Truppen beschleunigen mögen. Zu dieser Stunde hatte Lacretelle die Batterien der Brücke Saint-Michel gelöscht und bemächtigte sich des Platzes Maubert, des Lyceums Louis-le-Grand. Levassor-Sorval brach durch die Rue Mouffetard aus. Im Zentrum blieben nur noch zwei Barrikaden zu nehmen, die ihm noch Widerstand leisteten, die eine in der Mitte der Straße, die andere zwischen der Mairie und dem Gebäude der juristischen Fakultät. Ein Anlauf, und von allen Seiten stürmte man aufs Ziel los. Die rote Flagge machte dort oben auf dem abgesägten Kreuz der Trikolore Platz.

Rings um Du Breuil pfiffen die Kugeln; Cydalise wurde unruhig, schüttelte den Kopf, peitschte mit dem Schweif, wie von Fliegen belästigt. Er brachte sie durch einen Schenkeldruck zum Stehen. Neben einer umgestürzten Kanone lag auf dem Rücken ausgestreckt ein Föderierter, ohne sichtbare Wunde, die Lippen zu einem höhnischen Lächeln verzerrt. Du Breuil fand seine Kaltblütigkeit von Rezonville wieder, die Erleichterung, an nichts weiter zu denken, als an die hundert Einzelheiten des Augenblicks. Vor ihm verließen die Chasseurs zu Fuß, da sie das Feuer nachlassen hörten, die Deckung der eroberten Barrikade und erreichten in schnellem Lauf die ersten Häuser rechts. Da durchzuckte Du Breuil der Gedanke: »Das ist ja Thedenats Wohnung!« Und der Gefahr nicht achtend, folgte er ihnen, um besser zu sehen.

Die mittlere Barrikade, in Eile aus Pflastersteinen, Säcken, Möbeltrümmern errichtet, war in regelmäßige Salven gehüllt; bläuliche Rauchwolken verschleierten die Straße. Für einen Augenblick tauchte über der Mauer ein verwildertes Gesicht mit grauem Bart und struppigen Haaren, ein halbnackter, nur mit einem offenstehenden Hemd bekleideter Oberkörper auf. Die Versailler Kugeln schwirrten. Mit verächtlichem Achselzucken war der Mann verschwunden.

»Er ist wütend!« seufzte eine Stimme.

Nun erst bemerkte Du Breuil hinter den Soldaten eine unförmlich dicke Frau die, wie hypnotisiert von dem Schauspiel, zwei Schritte vor der offenen Portierloge kauerte. Die Louchard murmelte:

»Ach, dieser Simon! er wird sie alle ins Unglück bringen! ... Und Rose, die sich nicht von ihrem Louis trennen will! ... Wenn Herr Thédenat das sehen möchte!«

Ohne besondere Bedeutung drangen diese Worte an Du Breuils Ohr. Über Cydalisens Hals geneigt, sagte er zu einem Hauptmann der Chasseurs zu Fuß:

»Rücken Sie durch die Rue Sainte-Catherine vor. Sie können die Barrikade von rückwärts nehmen.«

Sogleich entfernten sich die Jäger. Die Barrikade dröhnte noch immer.

An der Böschung, vor einer Spalte zwischen zwei Pflastersteinen knieend, zielte Simon mit stiller Wut und dem Scharfblick der Verzweiflung, zielte, feuerte und lud von neuem. Es waren ihrer etwa zehn, schienen aber fünfzig.

Soeben hatten Barlin und Lisbonne, die nach der Croix-Rouge und der Rue Barin sich hierher zurückgezogen hatten, das Kommando übernehmen und sich auf die Vorhut der Chasseurs zu Fuß stürzen wollen. Man hatte sie fortgeschickt. Man wollte keine Führer!

»Werden auch allein krepieren können!« hatte Simon gesagt. »Als ob die Kommune noch das Recht hätte, zu sprechen!«

Und ihrer zehn waren sie geblieben, eine Handvoll Tapferer, als letzte Überbleibsel des alten zersprengten Bataillons die drei Simons, Vater Pantois, der große Jules, Levidoff und Dury; zu diesen hatten sich noch drei andere gesellt. Ein Mann in der Zuavenuniform der regulären Armee, mit hagerem, wettergebräunten Gesicht und spärlichem Bart, dessen ganzes Wesen den verdächtigen Stempel langen Elends und überstandener Gefangenschaft trug. Ein zerlumptes Individuum mit sorgfältig gepflegtem Backenbart, Holzpantoffeln und blauer Schürze. Ein alter, schweigsamer, etwas verrückt aussehender Föderierter. Rose und Therese, unter einem Sack mit Patronen gebückt, gingen ab und zu und füllten die Patronentaschen.

Zu Pontois' Füßen lag seine Frau, von einer Kugel ins Herz getroffen; er hatte sorgsam die Falten ihres Kleides geordnet und einen Pflasterstein als Kissen unter ihren Kopf gelegt. Sie sah aus, als ob sie schliefe, nur das Gesicht war schon wachsgelb. Dann hatte er sein Chassepot wieder aufgenommen und mit einer Ruhe, als zöge er eine Uhr in seinem Laden auf, den kotbespritzten, heißen Mechanismus gereinigt. Der große Jules überwachte mit hochrotem, schweißtriefenden Gesicht die Breschen, rückte die schweren Balken und schichtete die Steine auf. Dabei sang der Riese wie zur Zeit, da er noch Handlanger war.

Dury, mit Schmutz und Staub bedeckt, den Leutnantsrock an den Ellbogen zerrissen, mit glänzenden Augen, in Fieberglut und Jugendschönheit strahlend, kämpfte für seinen edlen Traum, wie ein Held für sein Vaterland. Levidoff, mit krankhaft gespannten Nerven und bleich, doch in unerschütterlicher Ruhe und mehr denn je Herr seiner selbst, beherrschte die Gruppe und leitete die Verteidigung.

»Das ist für Sie, Simon!« sagte er und zeigte dem Schuster einen Korporal der Chasseurs, der längs einer Mauer herbeischlich.

Doch schon gab Anatole, behend wie ein Affe, Feuer. Der Angreifer fiel auf die Nase und rührte sich nicht mehr.

»Ausgezeichnet!« erklärte der Junge. »Er hat nicht gelitten. Könnt' mir selbst nichts Besseres wünschen.«

Louis, den die Schulter schon vom fortwährenden Schießen schmerzte, hielt für einen Augenblick inne. Seit drei Tagen schon kämpfte man: denn seit dem 21. stand er mit Anatole und dem Vater den Eindringenden gegenüber, hatte sich bei der Mairie von Vaugirard, bei der Croix-Rouge geschlagen. Er wandte den Kopf und lächelte, Rose stand hinter ihm. Das Herz schwoll ihm in mächtiger Lebensfülle, in einem Paroxismus von Energie, Opfermut und Liebe. Tiefer Schmerz mischte sich in diese Trunkenheit des Instinkts: das Gefühl der Niederlage, des Zusammensturzes der Stadt der Träume. Zu Boden lag das ganze Gebäude der zukünftigen Gesellschaft! Und doch erfüllte es ihn mit frohem Stolz, unter den Augen des Vaters und vor allem der Frauen sein Leben für die Ideen des Alten, für die Seinen zu wagen und dieses Pflaster zu verteidigen, das sein war, seine Stadt, seine Straße, sein Haus! Diese gefahrvolle Stunde, die Minute um Minute, Sekunde um Sekunde dem Abgrund entgegendrängte, war für ihn von überirdischem Glanz durchleuchtet. Nie, selbst nicht in jener linden, süßen Nacht, da er in der einsamen kleinen Villa zum erstenmal Rose in seinen Armen gehalten, hatte das Blut so feurig in seinen Adern pulsiert. Wie ein Gott schwebte er über Tod und Leben.

Rose lebte nur noch in ihm. Während der zwei Tage des Alleinseins hatten sie und die Mutter wie seelenlose Körper vegetiert. Der Widerhall des Zusammenbruchs drang in einer Flut aufregender Gerüchte an ihr Ohr; was lag ihnen daran, daß man den Pantheon in die Luft sprengen, Saint-Etienne-du-Mont einäschern wollte! Endlich waren die Männer heimgekehrt, zerfetzt, erschöpft, aber voll Siegeshoffnung! ... Mit ihnen leben, mit ihnen sterben! ... Seit heute morgen hatten sie sie nicht mehr verlassen und standen ihnen mit unermüdlicher Treue und Hingebung bei.

In diesen Franzosen, diesen Soldaten, die erbarmungslos auf sie schossen, sahen die beiden Frauen, von Simons Ideen und Louis Theorien genährt, nur mitleidlose Feinde und haßten sie insgesamt mit aller Kraft ihres Herzens, Therese resigniert und stoisch, Rose voll leidenschaftlicher Empörung. Mit nackten Armen und aufgelöstem Haar kehrte das junge Weib immer wieder zu Louis zurück, ihn mit dem Zauber ihrer Nähe umstrickend. Gleich einer wildblühenden Blume strömte von ihr der Duft frischschwellenden Saftes aus, den er mit Entzücken atmete.

Düsteren Blicks, ohne seiner Kinder zu achten, oblag Simon seiner mörderischen Arbeit. Bei jedem Schuß lief es wie ein Schauer der Freude durch seinen Körper; mit automatenhafter Regelmäßigkeit legte er das Gewehr an, drückte los und zielte von neuem.

Von Fieberhitze glühend, von Fieberfrost geschüttelt, hatte er bei der ersten Nachricht des Eindringens der Armee zur Flinte gegriffen. Die Stunde der letzten Schlacht schlug. Da die Wälle durch Verrat oder Überrumpelung gefallen waren, wollte man diesen Versaillern zeigen, was die Preußen hinter den Barrikaden gefunden hätten, wenn die Favre und Trochu sich energischer zur Wehr gesetzt hätten. Und waren sie im Grunde genommen nicht noch schlimmer als diese verdammten Deutschen, diese Memmen, die Paris im Stich gelassen hatten, nachdem sie es dem Feinde ausgeliefert, verraten und geschändet, und die jetzt als die Stärkeren zurückkehrten, um dem Volke auch den letzten Blutstropfen abzuzapfen!

Doch Delescluze hatte das rechte Wort gesprochen: »Genug der Schwätzer!« An ihnen, an Leuten wie er, Simon, und seine Söhne, war es nun, die Ärmel aufzustreifen und ihr Leben hinzugeben für die gute Sache, da sie anderes nicht vermochten. Lange genug hatte man sie ertragen, diese Maulhelden, diese Schärpenträger, diese schönen Herren von der Kommune und vom Komitee, die nichts als Dummheiten taten und sprachen und einen schließlich aufsitzen ließen. Bei Gott! hätte er seiner ersten Regung beim Anblick der Feuersbrunst gefolgt, er hätte, wie viele andere, sein Gewehr niedergelegt: »Nein, da tue ich nicht mehr mit! ...« Hier wurde man wie Hunde totgeschossen, dort setzte man unschuldige Steine in Brand, Denkmäler, die Eigentum Frankreichs waren ... Doch gleichviel! mochten schlechte Führer immerhin die gute Sache entehren, das durfte ihre Anhänger nicht hindern, bis zum letzten Atemzuge treu ihr zu dienen ...

In Verzweiflung sah Simon die Partie doppelt verloren, durch jene, deren Aufgabe es gewesen wäre, sie zu schützen, vor allem aber durch den unausweichlichen Sieg der Reaktion. Er schüttelte die Faust gegen die Fassaden der Straße, deren trübe Fensterscheiben wie blinde Augen blickten. Hinter ihnen verbarg sich zitternd eine knechtische Bevölkerung, bereit, die Stiefel des Siegers zu lecken, die nur darauf wartete, ihn vor sich zu sehen, um ihr Versteck zu verlassen und nun auch ihrerseits die Besiegten zu schmähen und zu denunzieren. Die weniger schlimmen, wie Martial Poncet, bildeten sich schon etwas darauf ein, daß sie das Volk nicht übern Haufen schossen. Und selbst die Guten, wie ein Thédenat, was vermochten sie anderes, als eine ohnmächtige, fruchtlose Sympathie?

Nicht er und auch vielleicht nicht seine Söhne würden diese Sonne leuchten sehen, deren Morgenröte er bei der Proklamation der Kommune zu begrüßen geglaubt! Ja, wer weiß, ob nicht diese Bürgerrepublik mit einem Schlag erstickt wird und die Nacht mit den Götzen der Vergangenheit wieder hereinbricht: mit Kaisern, Königen, Richtern wie nach dem 2. Dezember, mit Soldaten wie diesen und Priestern für das Hosiannah! ... Da war's doch immer noch besser, seine Haut zu Markte zu tragen, und das angetane Böse mit Bösem zu erwidern! ... Dann konnte man sterben. So hätte man seine Pflicht als armer Teufel vollständig erfüllt! Immerhin noch besser, als in Cayenne in Fieberfrost zu klappern! Und wer weiß, – vielleicht war das Blut doch nicht ganz umsonst geflossen.

Das war der Dünger, mit dem man die Zukunft der Rache befruchtete, diesen noch unfruchtbaren Boden, aus dem trotzalledem eines Tages der gute Samen, die siegreiches Ähren hervorsprießen müssen. Doch alles brauchte seine Zeit. Nicht die Junisonne, nicht die Maisonne hatten genügt, die Ernte zum Reifen zu bringen. Doch was tut's! eine Wandlung muß kommen, eine andere Sonne den Horizont vergolden, dem die Menschheit entgegengeht... Es wäre doch allzu einfach, wenn die Geschichte nichts wäre als ein Kreis, in dem das Leben sich dreht wie der Sklave in der Tretmühle. Die Jugend, die nach ihnen kam, würde die Fahne des Fortschritts wieder aufrichten. Er selbst hatte seine Aufgabe erfüllt. Bald, gleich war er wieder mit Jean-Louis vereint.

In seinem Bein zuckte der alte Schmerz. Ja, ja, es war wie in den Junitagen. Kugeln für die Armen! ... Und alle Wut seines gedemütigten Daseins, seiner würdigen, arbeitsvollen Armut, aller Groll des Parisers der beiden Belagerungen, der Schmerz über die Vernichtung seiner Standesgenossen, all das trat ihm auf die Lippen und machte sich Luft in dem haßerfüllten Schrei, den er den herannahenden Soldaten entgegenschleuderte: »Nieder mit den Mördern des Volkes!«

Im selben Augenblick sank Pontois, dem Therese soeben die Hände mit Patronen gefüllt hatte, mit durchschossener Gurgel über die Leiche seiner Frau. Noch ein schwaches Wimmern, eine oder zwei krampfhafte Zuckungen, dann bildete sich blutiger Schaum vor dem Munde und er rührte sich nicht mehr. Simon und Therese tauschten einen Abschiedsblick voll tiefen Schmerzes. Die Gruppe seiner Genossen, das Bild der Steinhaufen, der geschlossenen Fenster der Häuser grub sich seinen Blicken ein. Wo war der Zuave? Verschwunden ... Dort, in einer Blutlache, lag der Mann mit der blauen Schürze... Die Seinen...

Da, im Wahnsinn der Verzweiflung und des Trotzes, in einem letzten Aufflackern des Fiebers, kletterte er auf den Steinhaufen und schwang sein Chassepot. In der Ferne ragten die grünen Wipfel des Luxembourg. Die Kolonnen der Liniensoldaten hinter den Chasseurs verdichteten sich. Unter einem Haustor – Louchards Haus! – erblickte Simon einen höheren Offizier, auf den Hals seines Pferdes geneigt. – »Was schaust du, du?« – Er hob den Kolben, rief mit dröhnender Stimme: »Es lebe die Republik!« und feuerte. Im selben Moment öffnete er, von einer Kugel mitten in die Stirn getroffen, die Arme, drehte sich um sich selbst. Therese stürzte herbei. Zerschmettert sank die Leiche zu ihren Füßen nieder.

Wie eine Wahnsinnige warf sie sich über ihn. Gleichzeitig rief Levidoffs erregte Stimme: »Wir sind gefangen!« Aus Seitenwegen hervorbrechend, hatten die Chasseurs sich von hinten herangeschlichen und die Verteidiger der Barrikade überfallen. Ein kurzes Handgemenge, das regellose Krachen von Flintenschüssen, der nutzlose Versuch eines Widerstandes, in dem Louis sich plötzlich erfaßt, zu Boden geworfen und einen Gewehrlauf an seiner Schläfe fühlte.

Rose umschlang ihn mit beiden Armen und schlug die Waffe zur Seite; sie war so schön in ihrer wilden Zärtlichkeit, daß der Sergeant Mitleid empfand und Louis aufstehen hieß; man drängte sie beide in die Gruppe der Gefangenen: der große Jules, der, den Arm durch einen Bajonettstich verwundet, in stumpfer Betäubung dastand; der alte Föderierte, dessen Lippen zu einem irren Lächeln verzerrt waren; Therese, die man von Simons Leiche fortgerissen hatte und die, bleich wie eine Tote, mit einem Ausdruck wütender Zärtlichkeit Rose und Louis betrachtete. Ein Schimmer der Befriedigung war durch ihre Augen geglitten: Anatole war es gelungen, mit Levidoff und Dury zu entkommen und wohl irgend ein schützendes Haus zu erreichen.

Da kletterten, im Laufschritt aus dem Eingang der Gasse herbeieilend andere Chauffeurs auf die Barrikade; schon tauchten die dichten Kolonnen der Liniensoldaten auf, deren Flut gegen den Pantheon zu beständig stieg. Fast gleichzeitig war die letzte Barrikade gefallen, der Weg war frei.

Du Breuil, dem Simons Kugel das Käppi gestreift hatte, gab Cydalisen die Sporen; er wollte Chenot den vollständigen Sieg melden. Mit einem Satz übersprang er die schon halb eingestürzte Mauer aus Pflastersteinen, von der aus vorhin der wütende Alte auf ihn geschossen hatte. Plötzlich tauchte an der Ecke der Rue Sainte-Jacques eine Gruppe lebhaft gestikulierender Infanteristen auf ... Sie umringten fünf Unglückliche. Die Chauffeurs waren bereits fern.

Inmitten seiner wilderregten Leute schrie ein junger Leutnant: »Ihr dürft sie nicht erschießen! ... Es sind Gefangene, seht doch!« – »Das kümmert uns wenig!« gab ihm ein verwegen aussehender Alter zurück, dessen aufgeschundenes Gesicht blutete. Die anderen murrten und warfen Blicke mißtrauischen Zorns auf ihren Vorgesetzten. Schon hatte eine Flinte sich gesenkt. Der große Jules wurde an die Mauer gedrängt; seine Augen öffneten sich weit in verständnisloser Verwunderung. Der Schuß krachte; wie ein Stier sank er zu Boden. Von Mordlust angesteckt, stießen drei Soldaten den alten Föderierten mit Faustschlägen nieder, schlugen ihm das Gesicht auf einen Stein und schossen ihn durch den Rücken.

Wahnwitz hatte die Leute erfaßt, der Leutnant zerbiß sich den Schnurrbart im Gefühl seiner Ohnmacht; ein Mann und zwei Frauen waren noch übrig und hielten sich an den Händen ... Du Breuil sprengte hinzu und kommandierte mit lauter Stimme:

»Gewehr bei Fuß!«

Doch bevor er noch Zeit gefunden, den Befehl zu wiederholen, drängten diejenigen, die den Alten niedergemetzelt, die ältere der beiden Frauen zur Seite und umringten unter gemeinen Drohungen Rose und Louis, die so eng, in so leidenschaftlicher Umarmung verschlungen waren, daß die Soldaten, im dunklen Gefühl, vor etwas Großem zu stehen, zurückwichen ... Gut denn, so sollten sie mitsammen sterben. So ging's auch schneller! ... In einer Sekunde unaussprechlicher Rührung fanden sich plötzlich die Blicke Du Breuils und der jungen Leute.

Sie hielten sich umfaßt und trotzten den auf sie gerichteten Gewehren mit einem Lächeln voll Haß und Verachtung; ihre Gesichter leuchteten in ernster Schönheit, in einem überirdischen Glanze, in dem Stolz ihrer Liebe, die mächtiger war, als der Tod. Wie ein Blitz glitt durch Du Breuils Gedanken das Bild Aninas und ihres Glückes. Frau Louchards Worte: »Rose und ihr Louis ... Herr Thedenat ...« durchzuckten ihn. Tiefschmerzliches Mitgefühl quoll in ihm empor; mit geheimnisvoller Macht drängten sich diese fortan unvergeßlichen Wesen in sein Leben ein, diese beiden jungen und schönen Menschen, die einander liebten, wie Anina und er. Von dem Instinkt getrieben, zu handeln, zu retten, stellte er sich in den Steigbügeln auf und schrie mit rauher Stimme:

»Halt ein!«

Gleichzeitig jedoch krachte ein Schuß. Zerschmettert sanken Rose und Louis zu Boden. Ihre Arme hatten sich nicht gelöst.

Da gellte ein herzzerreißender, schriller Schrei, ein so unmenschlicher Jammerlaut, daß auch die rohesten Bestien sich davon ergriffen fühlten. Es war die Mutter, die ihre Jungen beweinte, Therese, die unter den Fäusten der Männer sich windend, eine Flut von Anklagen und Verwünschungen spie ... Man möge doch auch ihr den Gnadenstoß geben! Um sie her erwachte von neuem der Zorn, während jedoch der Leutnant sich erbittert auf den ihm zunächst Stehenden stürzte und ihn schüttelte, hatte Du Breuil seinem Tier die Sporen in die Flanken gedrückt und war mitten in die Ungehorsamen hineingesprengt. Mit ausbrechender Empörung schrie er:

»Gebt diese Frau frei! Sofort frei! ... Tötet man denn waffenlose Menschen ... Wilde, Bestien, die ihr seid!«

Als man aber murrte, ohne zu gehorchen, zwang er sich gewaltsam zur Ruhe. Tief erblaßt, zog er seinen Revolver aus der Satteltasche und sprach kalten Tones:

»Der erste, der sich rührt...«

Dann wandte er sich freundlich teilnehmend an Therese:

»Gehen Sie nach Hause, arme Frau!«

Die Männer waren gezähmt, der Kreis erweiterte sich.

Therese blickte verständnislos um sich, ihre Füße waren wie festgewurzelt. Du Breuil erriet: ihre Toten ...

»Gehen Sie«, wiederholte er sanft.

Er legte die Hand auf ihre Schulter und zog sie mit milder Festigkeit fort.

»Sie können wiederkommen«, sagte er leiser.

Ohne einen Blick, ohne ein Wort entfernte sich Therese. Sie wankte; ihre Hände schienen ins Leere zu tasten.

Tief bewegt, mit einem Gefühl unsagbarer Scham, blickte Du Breuil ihr nach. Soldat sein, Mensch sein und das mit ansehn! ...


Indessen waren auf dem Platz Prince-Eugene, in der Mairie des XI. Arrondissements, die improvisierten Chefs der letzten Stunde versammelt und gebärdeten sich wie eine Horde von Besessenen. Neben etwa fünfzehn Mitgliedern der Kommune und des Zentralkomitees erhoben neue Ankömmlinge ihre Stimme. Legionchefs, Offiziere, einfache Gardisten vermehrten noch die allgemeine Verwirrung durch dazwischen geworfene blutige Ratschläge und gewalttätige Projekte.

An Stelle der Götzenbilder der Regierung, die zwei Monate lang die Stadt mit ihrer organisierten Anarchie unter ihrem Druck gehalten hatten, trat ein dämonischer Hexensabbath von Gespenstern, vom Feuerschein der Brände übermahlt. Unbekannte Schreier neben Ranvier, Endes, Gambon, den einzigen Überbleibseln des Wohlfahrtskomitees; einige Arbeiter oder sozialistische Bürger der Minorität, Jacquenne, Trinquet, Ballez, Vermorel, Theiß, der das Hauptpostgebäude vor den Flammen gerettet hatte, Longuet, Barlin und andere noch, die sich in dieses tolle Chaos wie in einen Abgrund stürzten oder demselben fröhlich zurollten. Dann ein Mann, der dem, was von den drei großen Ämtern noch übrig war, noch einen Schimmer von Ordnung und Gesetzlichkeit verlieh: Jourde, der ruhig, seine Ziffernkolonnen ordnend, mit den letzten dünnen Banknotenbündeln und den dürftigen Gold- und Silberhaufen die armselige Bilanz des Aufstandes, dessen Soll und Haben ins Gleichgewicht zu bringen trachtete. Jedem neu hinzukommenden Mitglied der Kommune übergab er tausend Franks als Wegzehrung ins Unbekannte, ohne daß dabei von den der Bank geretteten Milliarden, von den von ihm verwalteten Millionen etwas für ihn übrig blieb, der als sparsamer kleiner Rechnungsbeamter seine Mahlzeiten zu zweieinhalb Franks nahm, während seine Frau nach wie vor im öffentlichen Waschhaus ihre Wäsche wusch.

Delescluze, stimmlos, gebrochen, nur durch wunderbare Willensstärke aufrecht erhalten, die Nerven gestählt von dem, was an Seele noch in ihm lebte, sah den Kreis sich verengen, den verhängnisvollen Moment näher kommen; soeben hatte er den Vorschlag gemacht, mit der Schärpe geschmückt, die Masse der Bataillone auf dem Boulevard Voltaire Revue passieren zu lassen und hierauf an ihrer Spitze sich auf die wiederzuerobernden Positionen zu werfen! ...

Ferre endlich kam in aller Gemütsruhe aus dem Depot der Präfektur, wo er – nachdem Beyssets Leiche von der Brüstung des Pont-Neuf in die Seine geworfen worden war, – wegen des Feuers und der heranrückenden Truppen nicht mehr hatte in seinen Hinrichtungen fortfahren können ... Er sucht sich schadlos zu halten. Am grünen Tisch auf der Estrade des Trauungssaales sitzend, von zwei Sekretären flankiert, stellt er sanften, höflichen Tones seine Fragen, trifft seine Entscheidungen. Mit unerschütterlicher Ruhe, den Zwicker vor den schwarzen Glutaugen befestigend, sieht er die Geleitbriefe durch, unterzeichnet die Todesurteile. Der ehemalige Präsident des Überwachungskomitees von Montmartre, dessen Hände mit Lecomtes und Clement Thomas' Blut befleckt sind, ist jetzt, nach Rigaults Verschwinden, die Seele der Polizei.

Auf einem Trottoir der Rue Gay-Lussac lag, ohne daß jemand es wußte, die sterbliche Hülle des Prokurators der Kommune; ein Sergeant hatte vor sich einen Kommandanten der Föderierten laufen und sich in ein Hotel flüchten gesehen ... »Du wirst mir nicht entkommen, du ...« Man dringt in das Haus ein, der Besitzer wird an der Kehle gepackt; der Kommandant steigt herab und ergibt sich. Man schleppt ihn zu der Gerichtsbarkeit, die bereits im Luxembourg ihren Sitz aufgeschlagen hat. Unterwegs wird er verhört, während man ihm den Revolver ans Ohr setzt.

»Ich bin Raoul Rigault.« – »Rufe: Es lebe die Armee!« »Es lebe die Kommune! Nieder mit den Mördern!«

Und der Mörder Chaudeys, der gewissenlose Verbrecher, wird zu Boden gestreckt.

Ferre wird das übrige tun. Die Sonne geht zur Neige. Von selbst haben die Galonnierten, diejenigen, die man auf dem Platz, in den Kaffeehäusern von goldenen Achselschnüren, von silbernen Borten und bunten Schärpen blitzen, säbelklirrend einherstolzieren gesehen, sich in Sicherheit gebracht oder bescheiden ihre grellen Abzeichen gegen Rock oder Bluse vertauscht. Der Hof der Mairie dröhnte vom Rollen der mit Pulver beladenen Fourgons; auf den Stiegen hockten die Frauen und nähten fieberhaft, unermüdlich Sack auf Sack. In den großen Sälen des ersten Stockwerks wogte aus und ein der Strom der Föderierten, die sich Befehle oder Munition holten, Nachrichten brachten, Verdächtige herbeischleppten. Mit diesen wurde kurzer Prozeß gemacht: – »Du weigerst dich, eine Flinte zu ergreifen? – An die Mauer mit dir! ... – Du hast uns lachend angeschaut ... An die Mauer! – ... Du hast uns vor vierzehn Tagen insultiert! – An die Mauer!« ... Das menschliche Leben wog nicht schwerer als ein Blatt im Winde. Das Echo einer Hinrichtung weckte eine Anzahl anderer.

Auf diese Weise war am Morgen E. Moreaus Schwager, der elegante Hauptmann de Beaufort, der Adjutant sämtlicher Kriegsdelegierten, verurteilt worden. Eine Marketenderin und etliche Gardisten des 66. Bataillons, das er einst im Ministerium mit schwerer Strafe bedroht hatte und das, bei einer Barrikade der Rue Caumartin dezimiert, vermutete, von ihm dorthin geschickt worden zu sein, hatten ihn im Vorübergehen erkannt, ihn vor die Karrikatur eines Kriegsgerichts gebracht, dann, über den Urteilsspruch unzufrieden, ihn trotz Eudes' und Delescluzes Bemühungen an einen verborgenen Ort geschleppt und erschossen. Von Mordsucht lechzend, um sich her die drohende Nähe der Versailler fühlend, – glaubte dieser Pöbel sich noch immer nicht genügend gerächt und zwang den ehemaligen Fahnenträger des 66. Bataillons, den blanquistischen Untersuchungsrichter Genton, die Auslieferung der wichtigsten Geiseln, der Gefangenen von Grande-Roquette, zu fordern.

Aug' um Auge! Zahn um Zahn! Versailles schießt tot! Paris schießt tot! Das Wohlfahrtskomitee richtet die Kommune völlig zugrunde. Es ist nicht genug an den durch Rigault und Ferré begangenen Einzelmorden, an den fast von allen gewollten Brandstiftungen. Diese Bevölkerung schreit nach Blut; sie mag ihren Willen haben. Man hätte es ihr auch ohne ihr Verlangen gegeben. Ungeachtet Vermorels, Longuets, Ballés', Mortiers Widerstands reißen die Terroristen mit sich, was von der ehemaligen Majorität noch übrig ist. Wie Ferré den 21. Mai die Ordre an den Bürger Direktor der Santé, beim Eindringen der Versailler in Paris die Hinrichtung der Geiseln vorzunehmen – eine glücklicherweise unausgeführte Ordre – unterzeichnet hat, so unterzeichnet er die, welche die Erschießung sämtlicher Insassen der Grande-Roquette anordnet.

Genton und sein Sekretär Fortin sammeln ein Peloton von etwa vierzig Mann, Gardisten verschiedener Bataillone, Rächer Flourens', viele unter ihnen betrunken, viele ganz junge Leute. Bei ihrem Anrücken eilt Francois, der Direktor der Grande-Roquette, aus einem nahegelegenen Kaffeehaus herbei. Es ist zwischen vier und fünf Uhr. Die Föderierten verbreiten sich im Hofe, dringen bis in die Kanzlei. Dort befinden sich Sicard, ein Generalstabsmajor, der Ferré vertritt, Vérig, der den Wachposten kommandierende Hauptmann und, rot umgürtet, das Chassepot in der Hand, derjenige, den Rossel den »verrückten Arbeiter« genannt hat, Mégy, der unfähige Verteidiger von Issy, der, nachdem er Eudes geholfen, das linke Ufer in Brand zu stecken, hierher kommt, um, wie eine Schuld sozialen Hasses, den »Rechtsfall« zu erledigen.

Der Rechnungsführer, dann auch François selbst, leisten Widerstand: Man könne nicht alle Gefangenen en bloc hinrichten! Die Verhandlungen ziehen sich in die Länge. Genton begibt sich in die Mairie und kehrt mit der Ordre zurück, nur sechs der Gefangenen zu erschießen, darunter den Erzbischof und den Präsidenten. Nun bleiben noch die vier anderen zu bezeichnen. Man sucht die Gefangenenlisten. Endlich werden sie gefunden. Genton schreibt ein: Jecker, der in die Affaire der Mexikoexpedition verwickelt gewesene Jesuitenpater Clerc und Ducoudray; dann besinnt er sich, streicht Jecker, wählt an dessen Stelle Deguerry, den Pfarrer der Madeleine und fragt François: »Bist du damit einverstanden?« – »Ist mir gleichgültig, wenn es gebilligt wird.« Genton eilt wiederum zum Platz Prince-Eugène. Die Föderierten werden ungeduldig. Mégy tobt: »Verfl ...! hier geht's ja zu wie zu den Zeiten des alten Badinguet!« ... Genton kehrt mit dem unterzeichneten Papier zurück. Es ist sieben Uhr vorbei.

Man läutet dem Unteroffizier; Ramain erscheint. François sagt ihm: »Diese Gefangenen hier müssen aus der Krankenabteilung heruntergebracht werden.« Ramain befiehlt einem Wächter, das Gitter der vierten Sektion zu öffnen. Der Mann sagt: »Ich hole nur meine Schlüssel«, wirft den Schlüsselbund, den er in der Hand hält, hinter einen Misthaufen und ergreift die Flucht. Ramain übergibt die Liste einem anderen Kerkermeister, Beaussé, und während das Peloton ins erste Stockwerk hinaufpoltert, holt er seine eigenen Schlüssel, kehrt auf einem anderen Wege zurück und öffnet. Das Peloton teilt sich, der eine Teil nimmt neben dem Gitter, der andere längs des Zellenganges bis hinab in den kleinen Spitalgarten Aufstellung. »Wo ist Beaussé?« Ramain ruft ihn, steigt hinab, findet ihn an eine Mauer gelehnt liegen. Er entreißt ihm die Liste: »Du verstehst nichts von Revolutionen.«

Klopfenden Herzens warten die Gefangenen, das Auge ans Guckloch gedrückt. Ramain verliest die Namen: »Darboy!« – »Hier!« antwortet eine ruhige Stimme aus der Zelle 23. – »Bonjean!« – »Hier bin ich. Ich nehme nur meinen Paletot.« – »Lohnt nicht der Mühe. Für das, was man mit euch vorhat, seid ihr gut genug angezogen!« Ein Gefangener nach dem anderen tritt heraus. Man nimmt sie in die Mitte, setzt sich in Bewegung, Ramain voran. Bonjean seufzt: »O mein geliebtes Weib, meine teueren Kinder!« Und in stiller Würde steigen die sechs Opfer hinab.

In dem kleinen Garten angelangt, erklärt Mégy: »Das ist ein vortrefflicher Platz.« Doch aus den Fenstern des Spitals neigen sich Köpfe heraus und sehen zu. Vérig und Genton besprechen sich eifrig. Die Gefangenen haben sich auf die Knie geworfen und beten inmitten des Hohngeschreis' des versammelten Pelotons, der Insulten, mit denen die harrenden Föderierten sie empfangen: »Lumpen! Schlemmer! Mörder!« ... eine ganze Flut roher Schimpfworte, unflätiger Schmähungen; so heftig schäumt die Wut, daß ein Offizier sich ins Mittel legt: »Beleidigt nicht diese Leute; wer weiß, was morgen euch geschieht?« Vérig fragt den Erzbischof: »Was hast du für die Kommune getan?« Der Prälat antwortet: »Ich habe eingewilligt, einen Brief nach Versailles zu schreiben ... Ich habe um Nachsicht für die gefleht, die für sie kämpften ... Die Freiheit habe ich stets geliebt und habe mein Leben lang nichts getan, als was ich für das rechte hielt.«

Er hatte wohl das Recht, so zu sprechen, dieser Priester mit dem edlen Herzen und den liberalen Ideen, dessen Geist frei und groß genug war, die Unfehlbarkeit des Papstes zu bekämpfen. Voll Bitterkeit dachte er an den vorgeschlagenen Tausch, an die Abreise auf Nimmerwiedersehn des Abbé Lagarde, an all die wiederholten Bemühungen und Schritte, an die erstaunliche Gleichgültigkeit Thiers', der Minister und der Kommission der Fünfzehn, – all dieser Mächtigen, Männer seinesgleichen, Menschen seiner Klasse, die mit einem einzigen, zu rechter Zeit und mit warmem Herzen gesprochenen Worte sie hätten retten können und deren kalte, politische Berechnungen lange vor Ferres Unterschrift ihr Todesurteil gesprochen, sie heute diesen schmählichen Zeremonien preisgaben und sie ebenso sicher töteten wie diese Gewehre ...

Seine ernste Sanftmut ist nicht zu erschüttern. Bonjean, dem man die Fäuste zeigt: »Wieviel Verurteilungen Unschuldiger hast du auf dem Gewissen?« verschmäht es, zu antworten und fragt nur, welche Justiz ihn verurteilt. – »Die des Volkes!« – »O!« meint er lebhaft, »das ist nicht die rechte.«

Der Tumult wächst: »Vorwärts! Vorwärts!« Der Trauerzug setzt sich von neuem in Bewegung, passiert das Gartengitter und betritt den ersten Rundgang. Monseigneur Darboy wendet sich zu seinen Gefährten und segnet sie: Ego vos absolvo ..., dann nimmt er den Arm Bonjeans, der, an einem Bruch leidend, nur mit Mühe weiterkommt. Mit der anderen Hand trocknet sich der Erzbischof die Stirn, von der der Schweiß perlt; sein Gang ist fest und sicher. Einige Schritte noch und man steht vor dem Gitter, das Todesgitter genannt. Kein Schlüssel. Man läutet. Eine neue Station auf dem Leidenswege. An der Spitze des Zuges murmelt Abbé Allard mit halblauter Stimme das Sterbegebet. Das Gitter öffnet sich, man wendet sich nach rechts, dann nach links. Abbé Deguerry, die Jesuitenpater, sie alle gehen voll männlicher Seelenkraft dem Märtyrertod entgegen. Man befindet sich im zweiten Rundweg, zwischen hohen, schwarzen Mauern, wie in einem tiefen Burgverließ. Im Hintergrund die Außenmauer, die den Raum von der unbegrenzten Weite, vom freien Himmel scheidet. Hierher drängt man die Verurteilten; Ramain hat sich hinweggeschlichen.

Stolz in ihr Schicksal ergeben stehen sie dem Peloton gegenüber. Rechts als erster der Erzbischof, dann Bonjean, Ducoudray, Deguerry, Clerc. Der Missionär Allard öffnet seine Soutane und bietet die entblößte Brust den Kugeln der Wilden. Es hat acht Uhr geschlagen. Im sinkenden Licht, in den hereinbrechenden Schatten richtet Mégy sein Chassepot. Die Föderierten legen an. Sicard hebt den Säbel, den Fortin ihm geliehen hat. In zwei langhallenden Salven krachen die Schüsse. Der Erzbischof steht noch aufrecht. »Feuer!« schreit Sicard. Die Körper liegen in einer Reihe auf dem Rücken. Die Gnadenschüsse krachen: Vérig feuert auf den Erzbischof, der sich noch einmal aufgerichtet hatte. Drei Kugeln hatten ihm die Brust durchbohrt. Bonjean, dessen Körper ganz zerfleischt ist, stirbt unter einem zwanzigsten Schuß.

Das Peloton zerstreut sich, um seine Heldentaten überall zu erzählen; manche von ihnen rühmen sich, fünfzig Franks verdient zu haben. Fortin verfaßt das Protokoll und trägt es in die Mairie. Man erstattet dem Wohlfahrtskomitee Bericht: »Sie sind tapfer gestorben!« sagt Vérig. – »Sie sind gestorben, wie wir sterben werden!« antwortet Ferré trocken ... Delescluze hört in dem Zimmer, wo er mit einem Freunde arbeitet, ohne sich im Schreiben zu unterbrechen, den Bericht an; als jedoch die Offiziere sich wieder entfernt haben, verbirgt er den Kopf in beiden Händen und stöhnt: »Welch ein Krieg!« und, die Stirn wieder erhebend: »Auch wir werden zu sterben« wissen!« Wer sich noch ein menschliches Gefühl bewahrt hatte, konnte sich einer bangen Empfindung nicht erwehren; schnell aber wieder von der Macht des zermalmenden Schicksals erfaßt, schoben die meisten die Blutschuld auf die Schultern ihrer Nächsten und dachten nicht weiter daran. Vermorel machte dem Gefühl seiner Ohnmacht in dem Ausruf Luft: »Sie werden alles niederschießen! Es bleibt nichts übrig als sich töten zu lassen!«

Während im Gefängnis bei Fackelschein Vérig, Ramain und noch etliche andere Elende, nachdem sie die leeren Zellen durchsucht und dem Direktor ihre Beute gebracht, die Toten plündern – der eine schmückt sich mit dem Hirtenkreuz; ein anderer, von einer Silbernadel gestochen, die er aus der Soutane des Erzbischofs zieht, rächt sich dafür mit einem Fußtritt in den Bauch der Leiche: »Schweinehund! der mir noch weh tut!« der dritte stiehlt siebenhundert Franks aus Abbé Déguerrys Tasche, – während die Opfer in zwei Trauerzügen zum Père-Lachaise geführt werden, die drei ersten Leichen in einem kleinen Handkarren, die Jesuiten und der Missionar in einem geschlossenen Begräbniswagen, – indessen wütet eine neue Schreckensnacht, fantastischer noch als die vorhergegangene, unter den dreifachen Flammen der Feuersbrünste, unter einer den Straßen entströmenden Glutofenhitze, unter den Strömen schwarzen, von Petroleumgeruch verpesteten Rauches, der sich gleich einem gigantischen Leichentuch über die brennende Stadt lagert.

Das ganze Zentrum von Paris steht in Flammen. Zweihundert Häuser, zehn Paläste, das Theater der Porte-Saint-Martin, Saint-Eustache, die Rue Royale, das Finanzministerium, die Tuilerien, das Théâtre-Lyrique, das Rathaus, das linke Ufer vom Palast der Ehrenlegion bis zum Justizpalast und der Polizeipräfektur tauchen das nächtliche Dunkel in purpurne Pracht, grandiosen Totenfeuern vergleichbar. Jeden Augenblick schießt eine Funkengarbe auf. Die Seine scheint in eine Flut von Blut und Feuer verwandelt. Scharfer Geruch schnürt die Kehle zusammen und beißt die Augen.

Über dieser Entfesselung der Elemente tobt der fürchterliche Lärm der Schlacht. Schlag auf Schlag, wütend, unaufhörlich kracht die Kanonade. Die Batterien von Montmartre schmettern auf La Chapelle, La Villette, die Buttes-Chaumont nieder, die mit dem Père-Lachaise antworten und die Stadtteile in denen die Armee langsam, unerbittlich vordringt, mit Granaten bedecken. Die Batterien des Pantheon speien einen Feuerhagel auf die Bastille herab. Die zurückeroberten, schleunigst neu equipierten Kanonenboote gleiten stromaufwärts und durchlöchern die Kais. Das Gewehrfeuer rollt mit solcher Macht, daß es den Ohren auch der ältesten, kampfgehärtetsten Soldaten wie das Heulen eines Gewittersturmes, wie das Brausen der von einem Orkan geschüttelten Wälder erscheint. Auf der ganzen, von Versailles okkupierten Linie, vom Nordbahnhof bis zum Park von Montsouris, besonders aber im Zentrum, tobt der Kampf.


In der Morgenfrühe des fünfundzwanzigsten hatte Thédenat trotz der Bitten seiner Frau sich entschlossen, auszugehen, um die letzten Nachrichten zu erfahren. Es drängte ihn hinaus aus seinem Arbeitskabinett, dessen Papiere und Bücher ihn mit Abscheu erfüllten, aus dem Schlafzimmer, in dem sie schlummerlos die Nächte verbrachten, aus dem Speisezimmer, wo die Kanarienvögel aufgeregt im Käfig flatterten, wie die Gedanken in seinem Gehirn. Vorbei waren die schrecklichen Stunden des Harrens und Lauerns hinter den geschlossenen Fensterläden, wo man bange den Atem anhielt und des Abends die Lampe löschte aus Furcht, daß die Vorhänge sich bewegen oder ein Schatten die Aufmerksamkeit erregen, die Kugeln anlocken könnte. Diesem qualvollen Traum der Ungewißheit war die noch tragischere Wirklichkeit gefolgt.

O diese gestrige Wanderung zur Dämmerstunde nach dem College de France durch das übergebene, schon mit trikoloren Flaggen geschmückte Stadtviertel. Bürger, Kaufleute vor den Türen, auf dem Fahrdamm, die Soldaten umringend, die Offiziere beglückwünschend, denunzierend, fluchend, das atemlose Getriebe eines brennenden Bienenstockes. Überall Hinrichtungen, auf dem Trottoir liegende geschändete, von Bajonetten durchbohrte Leichen. Überall das Gerücht: »Der Pantheon springt in die Luft!« und noch ein anderer Schreckensruf: »Die Petroleusen!«

In der krankhaften Phantasie des durch die Schrecken der Feuersbrünste sinnlos gewordenen Volkes faßte eine Legende Wurzel, welche die vereinzelten Furien, die man in der Rue de Lille Petroleum ausgießen gesehen, in eine zahllose Legion angeworbener, das flüssige Feuer überallhin verbreitender, Tore und Mauern mit brennbaren Stoffen durchtränkender Hexen verwandelte. Mit fieberhafter Hast verstopfte man die Kellertüren mit dem Sand, den Säcken und Pflastersteinen der Barrikaden; die Kellerlöcher wurden mit frischem Gips vermauert. Auf jeder Schwelle wurde eine Wache aufgestellt. Wehe dem, der einen Krug, eine Flasche, einen Milchtopf trägt. Jedes Dienstmädchen, jede Magd wird zur Megäre gestempelt, sofort verdächtigt, insultiert, vor die Gewehre, ins Gefängnis geschleppt.

Unter dem Tor des ihrer Obhut anvertrauten Hauses steht die Louchard, den Besen in der Hand, mit drohender Miene, von Selbstgefühl gebläht. Sie ist die Verkörperung der wieder hergestellten Autorität, der Schönheit der Ordnung. Neben ihr steht Louchard, im Vollgefühl seines Triumphes schwelgend. Sobald die Chasseurs zu Fuß Herren der zweiten Barrikade waren, hatte er den unterirdischen Schlupfwinkel verlassen, in dem er sich seit der Nachricht von dem Eindringen der Armee versteckt gehalten hatte. Er trägt eine blau-weiß-rote Armbinde, die den halben Ärmel bedeckt, auf dem noch aus der Zeit vor dem Kriege datierenden Rock das wieder zu Ehren gekommene Kreuz, darüber eine blaue Schürze. Seine Füße stecken in gestickten Pantoffeln, sein kahler Schädel ist mit einer griechischen Mütze bedeckt. Vorhin war man gekommen, ihn zu verhaften – der Racheakt irgend eines Nachbarn, – im Luxembourg jedoch hatte er ein mysteriöses, kleines Papier aus der Tasche gezogen und war hocherhobenen Hauptes heimgekehrt. Jetzt macht er, mächtiger denn je, die Gesetze. Sein Gruß für Thédenat hat eine Nuance wohlwollender Geringschätzung; er ist ein besserer Patriot als dieser rotgefleckte Republikaner.

Thédenat zuckt die Achseln und geht weiter. Wohin? Er wendet sich vom Luxembourg ab, von dessen das große Bassin beherrschenden Terrassen aus regelmäßige Detonationen krachen. Das ist die Gerichtsbarkeit, die dort ihres Amtes waltet. Es scheint, daß in allen Mairien Kriegsgerichte tagen und summarische Justiz üben ... Er denkt an jene, die selbst ohne diese Formalität gefallen sind – an den alten Simon der als Soldat für seine Überzeugung starb, an Louis und Rose, die in voller Jugendblüte hinweggemäht wurden ... die Unglücklichen! ...

An der Ecke der Rue Saint-Jacques hält ein großer Möbelwagen, mit Särgen aus rohem Holz beladen. Thédenat tritt näher, ein Offizier fährt eine alte Frau, die nicht von der Stelle zu bringen ist, barsch an... Diese Haltung, das verstörte Gesicht ... Unwillkürlich entfährt ein Ausruf der Überraschung Thédenats Lippen, er erkennt die festen, einst so sanften Züge, die mattblauen, jetzt noch matteren Augen, in die sich doch die ganze Seele geflüchtet zu haben scheint, den Ausdruck des Schmelzes und der Verzweiflung. Therese Simon! Ihre Haare sind ganz weiß ...

»Sie!« ruft er.

Er errät den Zusammenhang. Der Offizier blickt ihn mißtrauisch an und brummt:

»Wenn man Ihnen schon sagt, daß die Särge für unsere Soldaten sind. Die anderen ...!«

Thédenat legte die Hand auf Theresens Arm:

»Kommen Sie! ... Bleiben Sie nicht hier!«

Er zieht sie mit sanfter Gewalt fort. Mit langsamer, tonloser Stimme, erklärt sie ihm ... Die drei Leichen ... Sie sucht sie überall ... Ja, doch, sie wird sie finden ... »Sie sollten lieber nach Hause gehen ... Wenn Anatole ...« – Nein, sie hofft nichts mehr. Auch er tot, erschossen wie die anderen ... Leise, eigensinnig schüttelt sie den Kopf und läßt sich fortführen. ... Plötzlich aber, an der Ecke der Rue Malebranche, benutzt sie einen Augenblick, als Thédenat sich abwendet, und rennt wie eine Irrsinnige davon ... Die Leichen! ... Thédenat sieht ihr nach, wie sie sich niederbeugt, sich wieder aufrichtet; immer weiter streift sie auf ihrer unheimlichen Suche, von unermüdlicher Verzweiflung getrieben.

In der Rue Royer-Collard, bei einer Barrikade, vor der noch Tote liegen, steht ein Häuflein Männer, zu Boden gebückt ... Hat Therese auch hier gesucht? Thédenat hat kaum zehn Schritte getan, als er angewidert zurückweicht. Diese Leute mit den Galgengesichtern und den zerlumpten Kleidern sind damit beschäftigt, die Toten zu plündern und die Beute in große Sacke zu füllen. Sie wenden die Taschen um, reißen die goldenen Borten ab, ziehen die Stiefel von den Füßen der Leichen und stehlen, was sie nur irgend brauchen können, Schmucksachen, Messer, Portemonnaies, Knöpfe ... Dann wird der Sack über die Schulter geworfen und die grausige Arbeit an einer anderes Stelle fortgesetzt.

Wohin gehen, was beginnen? Thédenat ist, als müsse er in dieser unerträglichen von Brandgeruch und Blut vergifteten Atmosphäre ersticken. Seine bangen Gedanken wandern von einem zum andern. Poncet? Martial? Was machen sie, wo sind sie? Und Jacquenne? Erschossen sagt man ... Und Du Breuil? Er leidet in der Seele jedes einzelnen und stellt sie sich in unausdenkbaren Qualen schmachtend vor. Ein Bataillon hält rastend vor dem Gitter des Luxembourg. Thédenat hört, wie ein vorbeireitender Generalstabsoffizier einer Gruppe von Offizieren zuruft: »Wir haben schon über zwölftausend Gefangene!« ...Und wieviel Tote?

Thédenat flieht die Straße; die Bibliothek des Collège de France lockt ihn wie ein Asyl der Ruhe ... Sie ist glücklicherweise unversehrt geblieben. Ein Schauer schüttelt ihn bei dem Gedanken, daß das Feuer, wie es die Bibliothek des Louvre verschlungen, so auch die Nationalbibliothek, die Archive hätte zerstören können. Er will, er kann seine Gedanken nicht sammeln, er kann nur noch leiden und betritt wie betäubt den Palast. Seit gestern tagt hier ein Kriegsgericht. Schnell durcheilt er die Höfe, die Treppen, die Säle; von fern, von nahe füllt das Getöse der Detonationen die Luft, treibt ihn weiter und verfolgt ihn bis in das Fauteuil, in das er sich geworfen inmitten der auf Wandgestellen angehäuften Bücher, wo im Leichentuch der Seiten der tote Geist und der tote Buchstabe, alle die Ratschläge des Genies, alle machtlose menschliche Weisheit schlummern.

Den ganzen Tag hindurch dröhnt unter dem blauen, sonnenüberfluteten Himmel der Donner der Schlacht. Cissey zermalmt mit seiner mächtigen Artillerie die Butte-aux-Cailles, wo Wrobleski die Verteidigung des linken Ufers leitet und sich seit gestern heldenmütig vor einer in Unschlüssigkeit verharrenden Division behauptet. Doch die letzten Forts, Ivry, Bicêtre, sind von selbst gefallen, von ihrer Garnison verlassen; die Kavallerie Du Barail braucht sich nur zu zeigen und einzuziehen.

Da schleicht längs der Befestigungen bis zur Seine eine Brigade von Liniensoldaten: die Brücke Napoleon, der Warenbahnhof von Orleans ist genommen. Von vorn, von der Seite greifen zwei andere Brigaden die Butte-aux-Cailles an, erstürmen die Gobelinfabrik, die die Föderierten im Fliehen in Brand gesteckt haben und dringen bis zur Mairie des XIII. Arrondissements vor. Wrobleski läßt zwanzig Geschütze, Mitrailleusen, Hunderte von Gefangenen im Stich, um sich an den Place Jeanne-d'Arc festzuklammern, von wo ihn Bocher vertreibt und dabei noch weitere siebenhundert Gefangene macht. Wrobleski hat kaum noch Zeit, sich über die stark verteidigte Brücke von Austerlitz zurückzuziehen. Lacretelle hat den Angriff auf die Halle aux Vins und den Jardin des Plantes eröffnet.

Drei Brigaden Vinoys, unter Bruat, sind bereits dort eingedrungen, erstürmen den Bahnhof von Orleans und stoßen auf die Brücke. Ein Vordringen unmöglich. Von jenseits des Wassers ist die Brigade La Mariouse den Kai Morland entlang marschiert und erreicht das Getreidemagazin, aus dem augenblicklich die Flammen emporzüngeln und ihre blendende Fantasmagorie, ihr vielfarbiges Feuerwerk verbreiten. Keine Möglichkeit, den von den Granaten des Pont d'Austerlitz und des Boulevard Bourdon bedeckten Ouai de l'Arsenal zu betreten.

Die Flottille liegt im Feuer vor Anker, die Besatzung ist dezimiert und schießt mit verzweifelter Gewalt. Geniesoldaten erreichten am Ausgang des Kanals Saint-Martin einen Steg. Ein Regiment stürmt vor, nimmt den Kai de la Râpé. Die Brücke ist abgebrochen. Bald, öffnet sich jene von Bercy, dessen Kirche brennt. Cissey ist Herr des ganzen linken Ufers und sämtlicher Brücken. Binoys dritte Division, Bergé, hat die Barrikade rings um die Bastille genommen und bedroht den Platz, auf dem erbitterter Widerstand geleistet wird. Der Bahnhof von Lyon ist in den Händen der Versailler, ebenso Mazas, wo die empörten Geiseln und Gefangenen den Direktor hindern, Feuer zu legen.

Alle Bestrebungen auf dem rechten Ufer zielen auf den Kreuzweg von Thateau d'Eau, dessen Verschanzungen, die Kaserne Prince-Eugene und die Magasins-Réunis mit dem Boulevard verbindend, Belleville, die Buttes-Chaumont, den Père-Lachaise decken. Zur Rechten von Douay unterstützt, der die Nationaldruckerei erstürmt und auf dem Boulevard du Temple Halt macht, steht das ganze Korps Clinchant im Feuer.

Straße um Straße, an den Barrikaden sich brechend, hier sich eindrängend, dort zurückschlagend und mit seiner unwiderstehlichen Gewalt alles mit fortreißend, rückt der Menschenstrom mit elementarer Wildheit vor. Über den Kai Balmy, die Straßen Magnan, de la Douane, wo Brunel mit den Zöglingen der Kommune sich wütend wehrt und verwundet fällt; über die Boulevards Magenta und Saint-Martin, die Rue Turbigo fluteten die Regimenter, wüten die Batterien. Das Gewerbemuseum, die Kaserne Prince-Eugène werden überwältigt. Über das ganze II., III. und X. Arrondissement ergießt sich die lebendige Flut, brandet mit wütender Macht gegen die Barrikaden des Boulevard Voltaire. Auf den Platz des Chateau-d'Eau stürzt ein Platzregen von Kugeln und Granaten, alles durchbohrend, verbiegend, umstürzend. Die Fontaine liegt in Trümmern. Der Boden ist mit gebrochenen, entblätterten Baumstämmen und Ästen besät.

Wieder kommt unter Lärm und Rauch der Abend, der linde, weiche Abend. Seit vier Tagen und drei Nächten glüht der Hochofen, in dem einer blendenden Sommersonne schauerlicher Flammenschein folgt, in dem das fließende Blut, der schwellende Saft, alles Lebendige von einem Rausch des Lichtes erfaßt wird. Über diesem Taumel von Leben und Tod entfaltet der wundervolle, Frühling das Füllhorn seiner Wonnen und eine leuchtende Pracht, wie sie herrlicher noch nie vom tiefblauen Himmel gestrahlt hatte.

In der ganzen Stadt wächst der menschenmörderische Wahnwitz. Paris schießt tot, Versailles schießt tot. Die Ermordung der Geiseln wird bekannt und erregt einstimmiges Entsetzen. Morgen wird man den an Jecker verübten Mord erfahren: am Morgen war Genton mit einer Ordre Ferrés erschienen, hatte den Bankier verhaftet, ihn mit Hilfe François' und Vérigs in eine entlegene Gasse geführt und ihn dort erschossen; Jeder bezahlte in Ermangelung eines anderen Lösegeldes »seine Mitschuld an Mornys Verbrechen« mit dem Tode.

Morgen wird man die brutale Niedermetzelung der Dominikaner von Arcueil in der Avenue d'Italie erfahren. Den zwölften, als der Geheimkorrespondenz mit Versailles verdächtig, gefangen genommen, von Bicêtre im Gefängnis der 9. Sektion geschleppt, will man sie zwingen, bei der Errichtung einer Barrikade mitzuhelfen. Der eine der Väter weigert sich: »Wir werden nicht die Arbeit von Kämpfern leisten, aber wir werden eure Verwundeten pflegen.« Der Kampf kommt näher, die Verzweiflung der Föderierten wächst. Dort steht das 101., das berüchtigte Bataillon Sérizier. Ein Unteroffizier öffnet den Kerker: »Rettet euch!« Einer der Mönche nach dem anderen verläßt die Zelle, man schießt sie nieder wie Hasen im Lauf. Fünf Dominikaner, sechs Angestellte der Schule liegen auf dem Boden.

Und man wird auch die massenhafte Niedermetzelung der Föderierten, der Verdächtigen, der Unschuldigen erfahren, aber man wird sich den Anschein geben, nichts davon zu wissen oder sie als eine nur allzu gerechte Strafe bezeichnen.

Für etwa fünfzig Geiseln, Widerspenstige, »Verräter« werden Hunderte und Hunderte von Parisern hingeopfert. Nur sieben- oder achttausend Menschen sind noch von der Menge übrig, die sich am 18. März vertrauensvoll erhoben hatte. Die übrigen schleppen sich, wie Thiers an die Präfekten telegraphiert, in Gefangenenkolonnen hin oder schlafen in eilig ausgeschaufelten Gruben, in den die Luft verpestenden Haufen den ewigen Schlaf ... »Dank der Umsicht der Generäle ... hat die Armee nur geringe Verluste erlitten ...« Was tut's, wenn dafür Paris brennt, wenn sein Boden mit Leichen besät ist?

In der Mairie des XI. Arrondissements wird ein Todeskampf gekämpft. In den vier Arrondissements, welche sie noch behalten haben, sind die letzten Scharen im Paroxymus des Untergangs sich selbst überlassen. Die Chefs haben den Kopf verloren. Während ein Teil im Feuer steht, scharen sich die übrigen in der Mairie um Arnold und trinken ihm die Worte von den Lippen wie einen Zaubertrank, der die armen Gehirne vollends verwirrt und diese Verirrten dem Trugbild eines Ausgangs entgegentreibt... »Ein Sekretär des amerikanischen Ministers Washborne, der Geschäftsträger für Deutschland, ist gekommen, um die Vermittlung der Preußen anzubieten; sie wollen aus Menschlichkeit die Föderierten retten ...« Eine Kommission von drei Mitgliedern möge sich nach Vincennes begeben, um sich dort mit dem deutschen Generalstab ins Einvernehmen zu setzen.

Delescluze fährt entrüstet auf, warnt vor der schmählichen Falle ... Der Pseudo-Sekretär wird vorgelassen und besteht auf seinem Auftrag ... Und als wäre die Wirklichkeit ausgelöscht, als bestände nicht jener Vertrag, laut dessen der Kronprinz von Sachsen die neutrale Zone Ladmirault überließ, und jeden, der die Linien zu durchbrechen versuchte, niederschießen ließ, – so drängten sich dieselben Männer, die früher am erbittertsten gegen die Sieger gewütet hatten, um Delescluze und bestürmten ihn, sich der allgemeinen Rettung zu widmen. Er gibt nach; mit Arnold, Vermorel, Vaillant und dem verdächtigen Amerikaner, der aus dem Schatten emporgetaucht war, um gleich wieder darin zu versinken, macht der Veteran sich auf den Weg zur letzten Opfertat, zu dem seltsamen, letzten Versuch. Wachposten halten ihn an der Barriere an, schreien Verrat und bedrohen ihn. Man kehrt zurück, um sich von Ferré einen Passierschein ausstellen zu lassen ... Umsonst! ... Der Posten weigert sich, die Zugbrücke herunterzulassen. Beschämt kehrt die Kommission zurück.

Da fühlten jene, in denen noch nicht alles Rechtsgefühl erstorben war, daß die Stunde schlug, da es galt, dem Tod ins Auge zu sehen. Delescluze begrüßt ihn, bei seiner Rückkehr mit Schmähungen und Mißtrauen empfangen – man glaubte, er wollte entfliehen, – wie eine Erlösung. Man trifft die letzten Maßregeln.

Wenn das Chateau-d'Eau fällt, wird man sich mit dem Rest der in der Petite und der Grande-Roquette eingeschlossenen Gefangenen, Priester, Gendarmen und Soldaten, in das XX. Arrondissement zurückziehen. Es sind ihrer mehr denn tausend, – die in Paris Gebliebenen, die sich am 18. März in der Kaserne Prince-Eugène in die Brust geworfen und bei der Nachricht vom Eindringen der Armee als letzte Geiseln in sichern Gewahrsam gebracht worden waren, als Rettungsriegel, hinter dem sich vielleicht noch unterhandeln ließ; wenn nicht, waren sie dem Tode verfallen.

Delescluze ist zum Sterben bereit. Er hat einen Abschiedsbrief an seine Frau geschrieben; er verläßt die Mairie, wohin die schöne Dmitrieff den verwundeten Frankel bringt. Er begegnet Wrobleski, der aus der Butte-aux-Cailles kommt und ihm den Oberbefehl anträgt. Doch wozu ein General, wo nur noch wenige Soldaten sind!

Und in seinem gewöhnlichen Anzug, in schwarzem Beinkleid, Rock und Hut, begibt sich der alte Jakobiner, von Jourde und Lissagaray begleitet, zum Chateau-d'Eau. Es ist beinahe sieben Uhr, die Sonne geht unter. Unterwegs begegnet man Lisbonne mit gebrochenen Beinen in einem Wägelchen, Vermorel, dessen Hüfte zerschmettert ist, auf einer von Theiß und Jaclard getragenen Bahre. Hageldicht schwirren die Kugeln. Delescluze ist jetzt allein; im Promenadenschritt mit der roten Schärpe umgürtet, nähert er sich der Barrikade, auf seinen Stock gestützt. Langsam und ruhig besteigt er die ersten Stufen und sinkt nieder, von drei Kugeln durchbohrt, von denen eine ihn ins Herz getroffen. Mit solcher Heftigkeit wütet der Orkan der Geschosse, daß keiner sich zu nähern wagt, um die Leiche aufzuheben ... Erst drei Tage später wird sie gefunden.

Immer tiefer sinkt die Nacht herein, von tragischem Feuerschein erhellt. Lange schon ist Thédenat heimgekehrt in seine enge, hochgelegene Wohnung, von der aus seine Studierlampe allabendlich, einem Leuchtturm gleich, über die Stadt hinausblickte. Er vermochte seine Betäubung noch immer nicht abzuschütteln. Wie an einen flüchtigen Lichtblick dachte er an die Freude, mit der er sekundenlang Renan die Hand gedrückt. Sein berühmter Freund, der tags zuvor beim ersten Widerschein der Feuersbrunst aus Versailles herbeigeilt war, um wenigstens die Rettung der Bibliotheken zu versuchen, hatte ihm von seiner ergreifenden Wanderung von der Sorbonne nach Saint-Geneviève erzählt, von seinem kurzen Aufenthalt in dem wie durch ein Wunder – unter dem Haustor waren mit Teer gefüllte Kisten zurückgelassen worden – verschont gebliebenen Institut de France, im Louvre, wo von den Tausenden von Bänden nichts übrig war als ein Riesenhaufen schwarzer, noch glühender Asche. Thédenat dachte an Renans schmerzlich verstörtes Antlitz, an das Auftauchen dieses reinen Geistes inmitten des Sturms von Roheit und Bestialität und empfand nur noch tiefer seine tiefe Niedergeschlagenheit.

Ach! das Denken dies nutzlose Denken!... Vor seinem Tische im Lehnstuhl zusammengesunken, vor der erloschenen Lampe drückte er schweigend die Hand seiner Lebensgefährtin und fühlte sich alt, gedemütigt, gebrochen ... Greller Purpurschein erhellte die Finsternis, drang in das Dunkel des Zimmers ... Sie horchten auf den zuweilen von kurzen Detonationen, von Jammergeschrei unterbrochenen Donner der Schlacht ...

Durch die geschlossenen Scheiben sahen sie die rötliche Nacht über den schwarzen Luxembourg, über die eroberte Stadt sich breiten. Ihre Träumereien verloren sich nach jenem so oft und so sehnsüchtig betrachteten Horizont, nach dem Kranz der Hügel, hinter denen ihre Hoffnungen das Nahen der Provinz, den Anmarsch der befreienden Armee herbeigesehnt hatten. Sie waren gekommen. So waren sie gekommen! ...

Mit namenlosem Abscheu versank Thédenat in das grausige Dunkel; aus diesem unerwarteten Strahlen der Lichtstadt, das zum drittenmal die Nacht in Purpurröte tauchte, traten die Gestalten aller jener, die von den fernen, dichtbesetzten Höhen wie von den Logen eines Theaters aus dem schauerlichen Schauspiel beiwohnten; hier die schreckerstarrten Bürger, die haßerfüllten Deputierten, die ganze dem Wild nachjagende Meute von Versailles; dort, ihre Freude in ernstem Schweigen genießend oder mit dem Glase in der Hand mit unflätigen Worten feiernd, die Masse der glücklichen Sieger, – und dahinter, aus allen Winkeln des trauernden, zertretenen Frankreich, des bestürzten Europa und der voll Interesse zusehenden Welt die Blicke auf den barbarischen Feuerschein gerichtet, auf all das, was Paris gewesen und was nun, wie durch ein gewaltiges Erdbeben, in einem Riesenkrater blutiger Lava versank.


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