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Drei Tage später, beim Sinken eines jener schönen Frühlingstage, die, aus Azur und Gold gewoben, den Park mit ihrer leuchtenden Liebkosung umhüllten, saßen Anina und ihre Freundin Claire von Grandpré beim Eingang des Gehölzes du Midi. Ihre zum Schlosse gewandten Blicke verrieten, daß sie jemand erwarteten; ihre Hände, von denen sie die Handschuhe abgestreift hatten, berührten den Marmor der moosübersponnenen, von der Sonne erhitzten Bank. Der Duft der Blumen und des Bodens, den geometrisch angelegten Beeten, den dichten Bosketts entströmend, mischte sich in der linden Abendluft, mit dem bitteren Geruch der großen Taxushecken.
Sie liebten diese einsamen Orte, die Stille der verödeten Gärten; das lärmende Treiben von Versailles erstarb am Rande des Teiches; kaum daß hier und da ein Spaziergänger sich jenseits der Rampe des Bassins der Latona verirrte. Wie oft hatte Anina in Gesellschaft ihrer Freundin sich mit ihren Erinnerungen und ihren Träumen unter den majestätischen Hallen der langen Alleen ergangen! Nur einzelne, in die Sockeln der Statuen gekritzelte oder gravierte deutsche Namen, eine pietätlose Betrachtung über Louis XIV. gefallene Größe oder sentimentale Einschnitte in die Rinde einer hundertjährigen Ulme, erzählten von der Anwesenheit der Sieger, von dem Durchzug der Horde, die hier, unter dem vergoldeten Plafond der Spiegelgalerie, das alte deutsche Kaiserreich zu neuem Leben erweckt hatte. In dem grünen Schimmer der Hagebuchhecken, am Rande der ausgetrockneten oder mit stinkendem Wasser gefüllten Bassins hing sie so gerne ihren Zukunftsträumen nach, in denen sie die Sorgen der Gegenwart vergaß.
In Versailles, von dem Strom des Lebens und der Geschäfte angeschwollen, der aus dem öden Paris zurückflutete, herrschte ein unbeschreibliches Gewühl von Fußgängern und Wagen. Zwischen den beiden Städten bestand ein fortwährendes Kommen und Gehen; während Versailles nach der Terrasse von Saint-Germain drängte, sich mit der reichen Bourgeoisie vermengend, die am Morgen dorthin flüchtete, um den ganzen Tag mit Lorgnetten und Fernrohren auf der breiten Promenade umherzulungern, von der aus man die Hauptstadt und das Schachspiel der Schlacht überblickte – indessen strömte Saint-Germain nach Versailles, dem Zentrum der Nachrichten. Wenig Frauen, noch weniger Truppen, da die Armee immer mehr gegen die Wälle vorrückte und auch das 4. Korps ins Treffen gerückt war, gegen das Bois de Boulogne und den Point-du-Jour vordrängend. Dafür wimmelte es unter dem herrlichen Maihimmel von einer Menge von Lieferanten, Neugierigen und Beamten. Viele glänzende Kaufläden, deren Schaufenster an die der Boulevards erinnerten. In den Avenuen lange Reihen von hölzernen Buden; überall eine festliche Atmosphäre, deren gleichgültige Leichtfertigkeit Aninas Verwunderung erregte.
Sie dachte mehr an das Versailles des Elends, an jenes unterirdische Versailles, das mit Gefangenen derart überfüllt war, daß sie in den Grandes und den Petites Ecuries, in den Kellern des Justizpalastes wochenlang schmachteten, von Ungeziefer verzehrt, bis die summarische Untersuchung sie nach anderen Orten sandte, wo sie des fernen Augenblicks des Urteils harrten.
Anina vermied es, auf dem Weg in den Park an der Orangerie vorbeizukommen, seit sie den herzzerreißenden Szenen der Mütter, Frauen und Töchter beigewohnt, die in diesen Hohläugigen, zerlumpten, in Bretterverschlägen zusammengepferchten Gestalten den Sohn, den Gatten, den Vater suchten. Zumeist entfernten sich die Unglücklichen, ohne den Gesuchten zu finden, um, wahnsinnig vor Schmerz und Verzweiflung, an andere Tore zu irren, ihre angstdurchwühlten Gesichter an andere Gitter zu drücken. Manchmal verriet ein Schrei, ein Schluchzen, ein Fluch, die bittere Freude des Wiederfindens, die Verzweiflung der neuerlichen Trennung. Mit zahllosen kleinen Wohltaten hatte Anina dieses entsetzliche, unverdiente Elend zu lindern versucht. Claire half ihr bei diesen nutzlosen Werken der Barmherzigkeit, jedoch mit einem Gleichmut, der erkennen ließ, daß sie nicht aus persönlichem Mitgefühl, sondern aus Pflichtgefühl und aus Rücksicht auf religiöse und weltliche Konvenienz handelte.
Du Breuil hingegen, der, im Gegensatze zu vielen seiner Kameraden, seinen früheren luxuriösen Gewohnheiten, den kostspieligen Pferden, den Spielpartien im Cercle entsagt hatte, fand trotz der angestrengten Tätigkeit, mit der er seine Zweifel betäubte, immer noch Zeit, sich an den mildherzigen Werken seiner Braut zu beteiligen. Mehr als einmal hatte er nicht nur mit der Börse, sondern durch seinen persönlichen Einfluß genützt; dank seiner Vermittelung hatte man zwei grundlos gefangen gehaltene Angeklagte freigelassen. Anina dankte ihm diese Bemühungen, die in erster Linie wohl von seiner Liebe eingegeben waren, doch auch einer Vornehmheit der Seele entsprangen, die sie täglich mehr schätzen und bewundern lernte.
»Sieh doch!« rief Claire von Grandpré.
Aninas Antlitz überzog glühende Röte, ihr Herz schlug zum Zerspringen. Mit großen Schritten tauchte in der Allee de l'Automne ein schlanker Offizier in schwarzem Dolman auf. Es war Du Breuil; er sah bekümmert aus, sein Gesicht war bleich und zwischen den Brauen saß eins tiefe Falte. Sofort ahnten die beiden Frauen ein Unglück. Sobald er sie jedoch gewahrte, zwang er seine Züge zu einem liebenswürdigen Lächeln, das aber etwas Gekünsteltes hatte.
»Eine schlimme Nachricht?« war Aninas erstes Wort.
Er versuchte zu lügen:
»Nichts Ernstes. Ich erzähle es dir später ...«
Doch schon war Claire von Grandpré diskret einige Schritte vorausgegangen. Gemeinsam schritten sie den Tapis Vert entlang, der glitzernden Wasserfläche des Grand Canal zu.
»Was gibt es?« fragte Anina angstvoll.
Du Breuil blickte sie an und gestand mit tiefschmerzlichem Ausdruck:
»So höre. General Chenot, zum Kommandanten einer Division im Korps Cissey ernannt, hat mich vom Ministerium als Generalstabchef verlangt ... Soeben hat er mich durch ein Billet davon benachrichtigt und für heute abend zu sich bestellt ...«
Niedergeschmettert, schritt Anina wortlos vorwärts. Das war der Zusammensturz des schwanken Gebäudes ihrer Sicherheit. Um sie her flohen die glücklichen Augenblicke, die armseligen Hoffnungen, auf die sie ihr Leben gegründet. Pierre mußte das Ministerium verlassen, sich von ihr trennen, um in den aktiven Dienst, in das Unbekannte dieses Krieges zu treten, in dem Augenblick, da er schrecklicher denn je zu werden drohte – welch plötzlicher Riß, welch unerwartete Qualen! Unter anderen Verhältnissen, als Soldatenfrau und wenn es galt, gegen den Feind zu ziehen, hätte sie vielleicht sich in die harte Notwendigkeit ergeben. Als Braut jedoch, die vom Glücke bisher nur das Verlangen und die Erwartung gekannt, bäumte sie sich gegen diesen neuen Schicksalsschlag auf, der sie traf, als sie eben erst nach all den Widerwärtigkeiten und Leiden ein wenig aufzuatmen begannen.
Und als sie ihre Gedanken von sich ab zum Geliebten wandte, da fühlte sie nur noch bitterer die Pein und Qual. Sie war ihm in seinen Gewissenskämpfen gefolgt, sie teilte seine Sorgen und seine Zweifel. Von ganzer Seele verabscheute sie diesen Bürgerkrieg, der möglicherweise Pierres Leben in Gefahr brachte, jedenfalls aber ihn in die unausweichliche Notwendigkeit versetzte, sich zu einer Partei zu bekennen. Sie ahnte, was er litt.
»Was soll ich tun?« fragte Du Breuil.
»Was kannst du tun?«
Sie zögerte, ihren Wunsch auszusprechen: »Ablehnen!« Mit dem Zartgefühl des Stolzes, der sich noch nicht im Besitz aller Rechte fühlte, fürchtete sie, seinen Entschluß zu beeinflussen: weniger als er, war sie imstande, die Bedeutung der Gründe des Gefühls, der Karriere abzuwägen ...
»Oberst Laune sagte mir, es sei beschlossene Tatsache, der Minister werde morgen früh unterzeichnen ... Francastel hat mir schon gratuliert; in ihren Augen bedeutet das ein sicheres Avancement, ein unverhofftes Glück: mit noch nicht sechsunddreißig Jahren Oberstleutnant...«
Durch seine Stimme bebte leise Ironie. Was ehemals seiner Eigenliebe geschmeichelt hätte, denn er war ehrgeizig, im edlen Sinne des Wortes – mehr vermögen, um Besseres leisten zu können, – das machte ihn jetzt seltsam traurig. Dem Ruin von Paris, dem Gemetzel von Franzosen seine Beförderung verdanken, sich für solche Arbeit mit einer goldenen Schnur bezahlt sehen, das hätte, weit entfernt ihn zu locken, ihn vielmehr abschrecken können. Glücklicherweise konnte nichts ihn zwingen, diese Belohnung, – ob sie nun in einer Rangerhöhung oder einem Orden bestand, – anzunehmen! ...
»Kann General Chenot einen anderen Adjutanten finden? Oder müßtest du fürchten, ihn durch eine Ablehnung gegen dich zu verstimmen?«
»Chenot könnte mir zürnen ... Doch darum handelt es sich nicht ... Ich bin unterwegs d'Avol begegnet. Ich habe ihm gesagt ... Er begreift nicht, wie ich zögern kann! ...«
Anina machte eine lebhafte Bewegung. In was mischte sich Jacques? Sie war ihrem Cousin wegen seiner unerbittlichen Überzeugungen böse, von denen sie einen Einfluß auf die Entscheidung ihres Bräutigams fürchtete. Immer fremder wurden ihr d'Avols Ansichten, sein schroffer Mystizismus, sein unbeugsamer Hochmut. Als Freundin teilte sie seine Trauer und sah mit Bedauern seine Seelenkämpfe. Doch je inniger ihre Gedanken in der Ausschließlichkeit der Liebe mit jenen Du Breuils sich vermählten, je mehr entfernte sie sich von dem einstigen Freunde. In schmerzlichem Erstaunen erhob sie den Blick zu dem Geliebten, als sie ihn sagen hörte:
»Meine Skrupel haben Jacques empört. Statt aller Antwort hat er ausgerufen: ›Du könntest vor deiner Soldatenpflicht zurückweichen!‹ ... Und der Händedruck, mit dem er mich verließ, war kälter als sonst.«
In die Enge getrieben und vor eine unausbleibliche Diskussion gestellt, die einem weit ernsteren Konflikt, als in Metz, führen konnte, da diesmal ihr Mannesgewissen, ihre Mannespflicht in Frage kam, bangte Du Breuils zartfühlendes Herz vor einem neuerlichen Bruch ihrer kaum erst wiedererstandenen Freundschaft. Die kaum vernarbte Wunde begann frisch zu bluten.
Sein Mißgeschick, das ihn gegen d'Avols Überzeugungen aufbrachte, ließ ihn dieselben absolut und ungerecht finden. Und doch fühlte er, vor die Notwendigkeit des Handelns gestellt, die alten Zweifel wieder in sich erwachen. Schon einmal hatte er sich geirrt, indem er sich der passiven Disziplin geopfert, und d'Avol mit seinem kühlen Verstand, seinem raschen Entschluß, hatte recht gehabt. Sollte er dem d'Avol von ehemals glauben, der sich gegen die Sklaverei des blinden Gehorsams empört, oder dem d'Avol von jetzt, dem Verfechter der streng erfüllten, militärischen Pflicht?
Welche war die höhere Pflicht? Bis ans Ende als Soldat dem Vaterlande dienen, durch die Tat, nicht nur in den Kulissen, an seinem Schreibtisch sitzend und sich mit der armseligen, aber beruhigenden Illusion tröstend, daß er so weniger Anteil an diesem verhaßten Kriege hatte? ... Oder dieser Soldatenpflicht, das Vaterland gegen die inneren und äußeren Feinde zu schützen, die natürlichen Menschenrechte vorziehen? ... Um seine Entlassung einkommen, und damit sich aus der Sackgasse befreien, in der er überall, wohin er sah, nur qualvolle Ursachen und tragische Wirkungen erblickte? Das wäre ehrlicher gewesen. Denn ob er hier oder dort sein Handwerk übte, ob mit der Feder oder mit dem Säbel, das Problem blieb dasselbe.
Er gestand Anina offen seine Bedenken. Er wunderte sich, die Resignation, mit der er bisher seine Aufgabe erfüllt, in der Überzeugung, keine Verantwortung zu tragen, weil er sie nicht übte, plötzlich in einem anderen Lichte zu sehen.
Jetzt, da er jede seiner bisherigen Handlungen mit strenger Genauigkeit prüfte, jetzt erschienen sie ihm ebenso wichtig, ja vielleicht noch bedeutungsvoller, als wenn er bei den Vorposten gekämpft hätte: den Krieg vorbereiten, oder ihn führen, war das nicht ein und dasselbe? Während der Soldat, der kombattante Offizier den Tod einzelner herbeiführt, besiegelt derjenige, der die Schlachtenpläne entwerfen hilft, das Schicksal von hunderten, von tausenden menschlicher Wesen.
Daß er nur aus Hang zu Ruhe und Frieden sich nicht von einer Lüge narren ließ! Daß die Fatamorgana seiner Liebe, ihres Glückes ihm nicht die blutige Wirklichkeit verhüllte! Wie in einer jähen Offenbarung sah die Rechtlichkeit seines Charakters sich vor eine unerbittliche Wahl gestellt: entweder rückhaltlos seinen Beruf als Offizier erfüllen, oder rückhaltlos sich von diesem Berufe lossagen.
Seit er nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft sich wieder in den Dienst des Vaterlandes gestellt, hatte er all seine Zeit und all seine Kraft seiner Aufgabe gewidmet; sollte er nun, da das Drama seinem Ende entgegen ging, fahnenflüchtig werden?
Unbewußt und im selben Augenblick, da er sich davon befreit glaubte, wirkte in ihm der Einfluß der Erziehung, die seinem Wesen den militärischen Stempel aufgedrückt, und verwischte in ihm die Erinnerung an die Bilder, die ihm mit blitzartiger Schnelligkeit und Deutlichkeit die furchtbare Kehrseite der menschlichen Gesellschaft mit ihrem Bodensatz von Unwissenheit und Elend gezeigt hatten.
Jetzt milderte sich langsam der Widerwillen, den die grausamen Worte seiner Kameraden, die Unerbittlichkeit der bürgerlichen Menge ihm eingeflößt hatten; ein Gefühl des Abscheus erfaßte ihn beim Anblick der in unglaublicher Verwirrung und Erniedrigung sich verzehrenden Hauptstadt, der Unfähigkeit und Uneinigkeit seiner Herren. Später schlug wohl auch fürs Volk die Stunde, da seine legitimen Ansprüche befriedigt wurden, – später, wenn der deutsche Schatten, der wuchtige Schritt des Siegers nicht mehr den Boden zerstampfte, den Horizont verdunkelte.
»Worin d'Avol nicht recht hat«, fuhr er fort, »das ist, wenn er die Gegenwart des Feindes einzuwenden versucht, der heimlich lügt und offen und ungeduldig die Bezahlung der Kriegsentschädigung fordert. Zugegeben, daß im Prinzip der Kommune ein Aufflammen des Patriotismus, in ihren Ursachen ein Ferment der Gerechtigkeit liegt, so spricht ihr doch ihre Fortdauer unter den verächtlichen Blicken des Feindes das unerbittliche Urteil ...«
Sie waren in die Allee de l'Automne eingebogen; vor ihnen lag das Bacchusbassin mit seiner Gruppe aus schwarzem Metall, seinem großen, halb mit Wasser gefüllten Becken, in dem einzelne vergilbte Blätter faulten. Am Rande des Bassins blieben sie stehen und suchten mit den Augen Claire de Grandpré. Sie saß zu Füßen einer Hermesstatue, deren Torso mit gelber Lepra überzogen war.
»Kommst du nicht weiter?« fragte Anina.
»Geh nur!« antwortete sie. »Ich bin müde, hole mich später von hier ab.«
Sie dankten ihr mit einem Lächeln und verloren sich zwischen den hohen Hagebuchhecken, unter den grünen Hallen der Saturnallee. Durch das dichte Laubwerk woben die Sonnenstrahlen zarte Streifen goldenen Staubes.
»Grandprér las mir gestern«, sprach Du Breuil, »das Manifest vor, worin Thiers den Parisern die bevorstehende Beschießung der Umfassungsmauern ankündigt und sie auffordert, freiwillig die Tore zu öffnen, da sie die von einer Handvoll Fanatikern unterdrückte Mehrzahl sind ... Einige Kanonenschüsse noch, und die Armee hält ihren Einzug. Möge Thiers' Verheißung sich bald erfüllen: der Friede, die natürliche Wiederherstellung der Ordnung ... Jede Hoffnung auf einen Erfolg vorheriger Unterhandlungen wäre eine Chimäre. Die Bemühungen der Liga des guten Poncet werden fruchtlos bleiben, und nicht einmal dazu führen, einen Waffenstillstand zugunsten der arg mitgenommenen südlich gelegenen Dörfer Montrouge und Vaures zu erlangen. Und der Kongreß von Bordeaux ist untersagt ...«
Picard hatte eben in der Kammer die Erklärung des Journal officiel kommentiert, welche die Verfechter und Förderer des Kongresses zu »wahren Usurpatoren der nationalen Souveränität« stempelte. »Die energischsten und strengsten Maßregeln sollten gegen jeden ergriffen werden, der sich an diesen verbrecherischen Bestrebungen beteiligte. Etwaige Versöhnungsversuche sollten in Zukunft »keine Spur von Sympathie oder Nachsicht finden.« Doch in dem dem Menschen angeborenen Bestreben, nur diejenigen Argumente festzuhalten, die mit der Ansicht, zu der er hinneigt, übereinstimmen, wies Du Breuil die allzu düsteren Befürchtungen von sich. Er dachte nicht daran, sich über die Inkonsequenz dieser Regierung zu wundern, die, nachdem sie Paris seinem Schicksal überlassen und geleert und es nun mit hundertfünfzigtausend Mann und Hunderten van Kanonen belagerte, die Pariser bat, das auszuführen, was ihr selbst noch nicht gelungen war; er wollte nichts anderes hören, als die beruhigenden Worte: »die Regierung wird die Kanonen nur abfeuern, um eines euerer Tore zu sprengen«; und ferner: »sobald die Tore geöffnet sind, werden die Kanonen ihr Feuer einstellen« ... Anina teilte seine Hoffnung; ein schneller Gewaltakt, und darauf die Tage der Ruhe und des Vergessens, die verheißene Ära: »Ruhe, Ordnung, Wohlleben und Frieden werden in euere Mauern wieder einziehen!« ...
So fügten sich die jungen Leute unmerklich, nicht ohne Trauer und Bangen, doch auch schon mit Hoffen und Mut in die Wendung ihres Geschickes. Die Macht der Gewohnheit, die edlen Seiten seines Berufes fesselten Du Breuil an diese Epauletten, die ihm die Vorteile der Stellung, die Freuden des Ehrgeizes symbolisierten, an diesen Säbel, dessen Klinge aus reinem Stahl, gleich seinem eigenen geläuterten Dasein, für die geduldige Arbeit der Revanche bereit war. Nicht ungestraft hatte er in Italien, in Mexiko und vor Metz den Rausch des Kampfes, die Solidarität im Unglück kennen gelernt. Der neue Mensch konnte nicht mit einem Schlage den alten abschütteln.
Vor ihnen lag das Saturnbassin, von smaragdgrünen Rasenflächen eingefaßt. In seiner klaren Wasserfläche spiegelten sich die fünf Statuen, die den Ausgang der geheimnisvoll dämmerigen Alleen bewachten. Wie lang die Tage schon wurden! Der Duft von Heliotropen, Petunien und Verbenen, der aus den Beeten des Jardin du Roi aufstieg, durchschwängerte die milde Luft. In wunderbarer Schönheit sank der Abend herab, die Marmorbilder, die Wipfel der Bäume mit rosigem Schimmer übergießend.
Schweigend wandten sie die Schritte. Schmerzliches Sehnen lastete auf ihnen. Was sie miteinander gesprochen, die Nachwirkung des ernsten Problems, das sie erwogen und beinahe schon gelöst, ohne es sich eingestehen zu wollen, die Erinnerung an vergangene Tage, die Erkenntnis von der Flüchtigkeit der Zeit bannte auf ihre Lippen all die Liebesworte, mit denen sie, sonst nicht gegeizt.
Selbst ihre Gefühle drängte eine seltsame Befangenheit in ihre Herzen zurück. Sie wagten es nicht, mit dem gewohnten Vertrauen in die Zukunft zu blicken. Vor einer Stunde noch hatte das Bewußtsein des unverlierbaren Besitzes ihrer Liebe die Trunkenheit des süßen und mächtigen Verlangens verliehen. Jetzt lichtete das Ungewisse der nächsten Zukunft eine dunkle Mauer zwischen ihnen auf. Unwillkürlich flüchteten sie zu den Minuten, die nicht mehr waren. Ihre Blicke, die so gern auf den Linien ihrer Gesichter, ihrer Gestalten geruht hatten, wandten sich voneinander ab oder trafen sich in schwermütiger Trauer. Sie vermochten nicht mehr, der Wonne des Augenblicks sich hinzugeben, das Entzücken, das in dem Druck der teueren Hand, in dem Lächeln der geliebten Lippen liegt, zu genießen.
Claire von Grandpré kam ihnen entgegen. Sie sprach ihnen ihre verständnisvoll freundschaftliche Teilnahme aus. Doch mit ihr trat die Macht der Konvenienz, die Tyrannei der Außenwelt wieder in ihre Rechte. Sie tauschten nur noch gleichgültige Worte, während sie ihr Denken und Fühlen in sich verschlossen.
»Mittwoch der 10. Mai«, seufzte Rose, an den Fingern abzählend ... »Sonntag, Montag, Dienstag ... Vier Tage, seit er fort ist!«
Unter der niederen Zimmerdecke verbreitete die Kupferlampe ihren traulichen Schein. An dem Werktisch, auf dem die Werkzeuge wie in sonntäglicher Ruhe in Reih und Glied geordnet lagen, saßen die beiden Frauen in ernstem Gespräch. Der Raum war kahl und sauber, die Formen standen auf den schwarzen Wandbrettern gereiht, die Häute hingen an den Wänden. Das Feuer im Herde war erloschen. Man fühlte den Hauch der Ordnung, der Leere und der Armut. Aus dem Hinterladen drang zuweilen das Geräusch eines trockenen Hustens, das Krachen eines Bettes unter der Last eines schweren Körpers herüber.
»Vater träumt!« flüsterte Therese.
Draußen lag tiefes Dunkel, nur schwach vom Licht der Kandelaber erhellt – eine linde, milde, duftende Frühlingsnacht, die mit ihrem Zauber die Herzen berauschte.
»Simon geht es etwas besser«, fuhr Therese fort, während sie unermüdlich die Nadel durch die Arbeit zog.
Das böse Fieber, das ihren Mann nach der Rückkehr aus Issy überfallen hatte, begann nachzulassen; er war eben schon zu alt für solche Strapazen! Und ohne dazu gezwungen zu sein ... Doch weit entfernt, ihn darum zu tadeln, bewunderte sie als tapfere Gefährtin ihn nur um so mehr und sorgte, daß er völlig erholt war, bevor er den Dienst wieder begann. Sie war ernstlich böse geworden, als am Sonntag bei den Klängen des Sammelsignals Simon, obwohl in Fieberfrost sich schüttelnd, aufstehen wollte, um mit Louis auszurücken – als wäre jetzt nicht an den anderen die Reihe gewesen, zur Verstärkung der durch das Feuer der Versailler dezimierten Kameraden nach Vaures zu eilen! Aber nein, unter dem Vorwand, daß nur wenige intakte Kompagnien disponibel waren, wurden immer dieselben zum Ausrücken kommandiert! And doch hätte man nach Issy wohl Anspruch auf einige Tage des Ausruhens gehabt.
Das waren harte Tage gewesen, die Börse leer, die Löhnung und die Unterstützungsgelder kaum hinreichend für ein Stück Fleisch. Dazu die teuere Arznei, die Almosen für die Verwundeten – da war es unmöglich, auszukommen. Glücklicherweise hatten Thédenat und seine Frau sie nicht verlassen. Gestern erst hatte die Villoir ihnen von Frau Thédenat ein Viertel gekochten Schinken gebracht.
Therese und Rose lebten dahin, auf ihre häuslichen Pflichten beschränkt, in fast völliger Unkenntnis des Dramas, das um Paris und Frankreich sich abspielte. Zu ihnen drangen nur vereinzelte ungewisse und widersprechende Gerüchte. In ihren Augen war die Kommune die unanfechtbare Regierung, eine Gemeinschaft wackerer Männer, die sich endlich mit den Interessen des Volkes befaßten und den wucherischen Kontors des Versatzamtes die notwendigsten Gegenstände entrissen, um sie den Armen zurückzugeben.
Bald würde man Kleidungsstücke und Matratzen den Dürftigen wiedererstatten können! Bald auch würde Therese den Ring aus vergoldeten Silber wieder an den Finger stecken können, den Simon an dem Tage, da sie sich fürs Leben vereinigt, geschenkt hatte. Dieser Ring hatte nicht das Oremus eines Priesters empfangen, sie hatten nicht der Unterschrift des Bürgermeisters bedurft, um einander als wackere Menschen anzugehören, treuer und unlösbarer als in vielen durch den Segen der Kirche geweihten Ehen ... Dann waren da noch andere Maßregeln, wie die Auszahlung der Pension an alle Witwen, ob legitim oder nicht; und obgleich sie diese Möglichkeit gar nicht ins Auge faßte, – wenn Simon starb, war ihr ganzes Dasein vernichtet –, war sie den Gewählten des Rathauses doch herzlich dankbar.
Und dann, – trotz des Getöses des Bombardements, an das man schon seit langem gewöhnt war, – schien das Leben leichter, in den Straßen herrschte froheres Leben und der Frühling war schöner denn je. An dem lärmenden Getriebe des Quartiers, des Boulevards Saint-Michel mit seiner Unzahl von Bierstuben hatte sich nichts geändert.
In ihren engen Wirkungskreis eingesponnen, ahnten Therese und Rose nicht, daß außerhalb dieses Winkels, der vom Pantheon bis Saint-Sulpice und von der Seine bis zum Luxembourg reichte, Paris, von Grund aus aufgewühlt, in den verschiedenen Stadtteilen die verschiedenartigsten Eindrücke bot, so verschiedenartig, daß jedes Viertel als eine Stadt für sich erschien: die Vorstädte von einer geschwätzigen Menge wimmelnd; die Boulevards noch belebt, doch einen fremdartigen Anblick gewährend mit den von Uniformen, Frauen und Abenteurern gefüllten Kaffeehäusern; die reichen Arrondissements beinahe verödet, die Straßen leer wie in den Sommer- und Ferienmonaten, die Kaufläden geschlossen.
Ebensowenig wußten sie etwas von den Todeskrämpfen, welche angesichts der von Stunde zu Stunde vorrückenden Armee von Versailles die gebrechliche Macht der Kommune erschütterten, an der ihr rührendes Hoffen, die Hoffnung von Tausenden von Wesen hing.
Sie ahnten merkwürdigerweise nichts von der endgültigen Ergebung von Issy, durch die falsche Erklärung der Kommune getäuscht. Am Abend des 8. hatten die letzten Verteidiger der Festung mit Ingenieur Rist und. Major Jullien die Ruinen verlassen. Es gab in dem ganzen Fort keine Stelle mehr, die von den Granaten verschont geblieben.
Sie wußten nichts von den Nachwirkungen dieses Ereignisses: der Tragikomödie, die sich auf den Brettern des Kriegsministeriums und des Rathauses abgespielt, wo Zentralkomitee und Kommune, Rossel und die Legionchefs, das Wohlfahrtskomitee und die Minorität vierundzwanzig Stunden lang sich in unentwirrbarem Durcheinander bekämpft hatten.
Nach einer Woche machtloser Anstrengungen, im Rathause durch Pyat insultiert, der ihn als »blonden Bazaine« bezeichnete, hatte der Kriegsdelegierte unter der Last seines Amtes und seiner Verantwortlichkeit zusammenbrechend und an der Sache verzweifelnd, beschlossen, mit den von ihm geschaffenen Regimentern wenigstens die Offensive zu versuchen, die allein noch Versailles aufhalten und beschäftigen konnte.
Am 7. wollte er bei Petit-Vauvers mit La Cecilia einen Angriff wagen. Doch man kam nicht einmal dazu, sich zu sammeln. Der ehemalige Präsident des Kriegsgerichtes, der früher die Leute zum Tode verurteilte, wenn er an ihre Schuld glaubte, begnügte sich jetzt mit einer kindischen Exekutive: er hatte den Feigen den rechten Ärmel abschneiden lassen, und alle diese Leute hatten geschluchzt.
Den 8., nachdem er daran gedacht, die Legionchefs, die sein Werk hinderten, erschießen zu lassen, hatte er von ihnen das Versprechen erlangt, auf dem Konkordienplatze fünfundzwanzig Bataillone zu fünfhundert Mann zusammenzubringen, von dort aus sollte man in die Schlacht ziehen. Am Abend jedoch zeigte es sich, daß die wenigsten ihr Versprechen gehalten hatten. Am Morgen des 9. sah Rossel sich genötigt, die Flinte ins Korn zu werfen: statt der erwarteten zweitausend Mann hatte sich kaum die Hälfte eingefunden.
Da hatte er der Kommune einen wuchtigen Abdankungsbrief geschrieben und etliche Kopien desselben, um jedes Band unwiderruflich zu durchschneiden, an die Zeitungen geschickt. Mit seinem soldatischen Freimut und der Deutlichkeit des Theoretikers brandmarkte er in Ausdrücken bitterster Enttäuschung und ätzender Ironie die Schwache der einen wie der anderen, die ein unübersteigbares Hindernis bildete. Da er dasselbe nicht zu beseitigen vermochte, zog er sich zurück und bat nur noch um die Ehre einer Zelle in Mazas.
Gleichzeitig erhielt er die Nachricht von der einige Stunden zuvor stattgefundenen Räumung von Issy; da griff er wieder zur Feder und schrieb die schlichten Worte nieder, die wie ein trockenes, hartes Todesurteil, wie der Ton der Totenglocke klangen: »Von dem Fort Issy weht die trikolore Flagge.« Sofort flatterte diese Kundmachung nach allen Richtungen und bedeckte in zehntausend Exemplaren die Mauern.
Das war ein doppelter Theatercoup, der die Kommune mitten ins Herz traf, das Zentralkomitee in Aufruhr brachte und dem bestürzten Paris, dem überraschten Frankreich die ganze lärmende Nichtigkeit des in den letzten Zügen liegenden Rathauses zeigte. Denselben Nachmittag tauschte man dort endlose, unnütze Reden, als Delescluze eintrat und die brutalen Nachrichten verkündete; mit seiner beschränkten Ehrenhaftigkeit, seiner patriotischen Empörung enthüllte er die Fehler und beschuldigte den Wohlfahrtsausschuß: derselbe sei seiner Aufgabe nicht gewachsen, machtlos und von dem ehemaligen Ruhm seines Namens erdrückt; mochte er verschwinden! Ein Sturm der Entrüstung brach los. Alle Wut des Hasses war entfesselt; eine Stimme verlangte die Verhaftung der Minorität; Gambon forderte die Abschaffung sämtlicher Zeitungen, als ob die Knebelung der Presse dem militärischen Mißgeschick abhelfen könnte; viele verlangten die Gefangennahme Rossels, des »Verräters, des Bestechers«, während andere ihn anflehten, sein Entlassungsgesuch zurückzunehmen.
Nach Stunden stürmischer Beratungen beschloß man, den Wohlfahrtsausschuß neu zu ernennen und ihm das Rathaus als ständigen Sitz anzuweisen; einen Zivildelegierten zum Kriegsdelegierten zu ernennen und ihm die Militärkommission beizugeben – indessen wurde E. Moreau vom Zentralkomitee als Zivilkommissär neben Rossel eingesetzt; – ferner, sich – ausgenommen in dringenden Fällen, – nur dreimal wöchentlich zu versammeln und die übrige Zeit in den Mairien zur Erledigung der laufenden Geschäfte zu verwenden. Endlich sollte, auf Besiniers Vorschlag, eine Kundmachung diejenige Rossels dementieren: »Es ist nicht wahr, daß von dem Fort Issy die trikolore Flagge weht. Die Versailler halten die Festung nicht besetzt und werden sie nicht besetzen« ... Indessen war sie seit dem Morgen schon in ihren Händen.
Am Abend war die Sitzung mit verstärkter Heftigkeit wieder eröffnet worden. Die Militärkommission forderte die Beibehaltung Rossels für weitere vierundzwanzig Stunden, drohte, andernfalls selbst abdanken zu wollen. Da ließ Pyat seinem giftigem Groll freien Lauf. Er hatte den Abwesenden mit Schmähworten überschüttet, sich dann zur Minorität gewandt und auch sie mit Vorwürfen und Anklagen bestürmt, sie der Feigheit, der Mitschuld an jedem Verrat bezichtigt. Da hatte sich wütender Lärm erhoben, so daß die Männer, die gemeinsam die Aufgabe übernommen hatten, Paris zu verteidigen, Aug' in Auge, Faust gegen Faust aufeinander losgingen.
Die Sitzung wurde aufgehoben. Pyat zog sich mit der Majorität zurück, der Saal leerte sich. Die Sozialisten warten, werden ungeduldig. Hinter einer Tür verhandeln die Revolutionäre. Man erbricht die Tür. Unter lautem Geschrei verlangt die Minorität ihr Recht und fordert die Gegenpartei auf, in den Sitzungssaal zurückzukehren; diese weigert sich und es wäre zu Tätlichkeiten gekommen, wenn sie nicht angesichts der entschlossenen Haltung der Minorität sich rechtzeitig noch eines besseren besonnen und den Saal wieder betreten hätten. Kaum jedoch saß Pyat im Fauteuil, als die Majorität ihre Schimpfreden von neuem begann und den Vorschlag machte, mit Rossel auch die »aufwieglerische« Minorität zu verhaften. Pyat ging zum Angriff über, von Malons Ausruf unterbrochen: »Sie sind der böse Geist der Revolution! Schweigen Sie!« Und Arnold erhob den Vorwurf: »Diese Leute von 1848 werden alles verderben!« Man schritt zur Abstimmung, nicht ohne daß die Tyrannen mit einem neuerlichen Skrutinium drohten, wenn das erste nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfiel. Die Namen Ranvier, Arnaud, Eudes, Gambon, Delescluze befriedigten sie; die Liste ging unbeantwortet durch.
Indessen war Rossel vom Zentralkomitee mit Deputationen bestürmt worden. Er gab dem Drängen nach und begab sich zur Nachmittagssitzung. Er erklärte sein Verhalten: er könne nicht alles tun, nicht zugleich Korporal und General sein, nicht die kampfesmüden Leute ins Feuer führen, während die anderen verhandelten ... Als er den Sitzungssaal verließ, um sich zum Diner zu Dombrowski zu begeben, wurde er von einem Boten eingeholt, der ihm berichtete, daß das Zentralkomitee ihn mit einer Majorität von zweiundzwanzig gegen sechs Stimmen zum provisorischen Diktator ernannt und von der Kommune die Vollmacht für ihn verlangt hatte. Ins Ministerium zurückgekehrt, empfing Rossel die Kriegskommission, die durch Avrial, Johannard und Delescluze – letzterer hatte den Verhaftungsbefehl in der Tasche – verstärkt worden war. Dessen wurde jedoch mit keinem Worte erwähnt und Rossel willigte ein, bis zum nächsten Tage zu bleiben, doch unter der Bedingung, nichts mehr zu unterzeichnen.
Den 10. baten ihn Avrial und Johannard, ins Rathaus zu kommen. Er brachte sie in seinem Wagen hin und wartete ruhig im Quästursaal, nicht als Gefangener und nicht frei. Wieder eine stürmische Sitzung, die mit kleinlichen Sorgen begann und mit den wichtigsten Beschlüssen endete: von der Prüfung der verschiedenen Sitzungssäle schritt man zur Ernennung Delescluzes als Zivildelegierten im Kriegsdepartement. Der alte Republikaner verlangte Rossels Erscheinen vor Gericht; Pyat seine Verhaftung und sofortige Berufung vor das Kriegsgericht. Die Majorität sanktionierte den Beschluß. Doch schon hatte Rossel bei der von seinem Freunde Charles Gerardin ihm überbrachten Nachricht, daß sein Schicksal von unwürdigen Richtern entschieden werden sollte, sich aus dem Staub gemacht. In Gerardins Begleitung verließ er ruhig den Saal und bestieg seinen Wagen. Auf dem Boulevard Saint-Michel trennten sich die beiden und verloren sich schattengleich in der dichten Menge.
Indessen wütete die große Batterie von Montretout – »der Schlüssel von Paris«, nannte sie stolz Thiers, – mit ihren siebzig Marinegeschützen gegen den Point-du-jour. Rechts und links dehnte sich die vorrückende Front der Versailler Armee. General Douay überschritt im Dunkel der Nacht die Seine und ließ seine Truppen vor Boulogne, den Bastionen gegenüber, Aufstellung nehmen; am Morgen waren die Laufgräben fertig, die Truppen dreihundert Meter von der Umwallung entfernt in Deckung. Bei Villancourt war eine Brücke geschlagen, eine schleunigst aufgefahrene Batterie sollte das Feuer der Kanonenboote unterhalb des Viadukts löschen. Am anderen Ende, gegen Bourg-la-Reine zu, erstürmte General Osmont in der Nacht vom 9. zum 10. die Barrikaden. Ein Regiment eroberte Vauves. Schritt für Schritt näherten sich die Truppen der Festung, um sie vollständig einzuschließen.
Die Diskussionen im Rathaus dauerten fort.
»Hörst du?« fragte Therese.
Im gelben Licht der Lampe hob Rose ihr reizendes Gesicht, dessen blumenhafter Teint durch Sehnsucht und Angst gebleicht war, während der Glanz der Augen etwas Fieberhaftes hatte. Sie hatte sich in den letzten Wochen merkwürdig verändert, die herrliche Frühlingssonne, der selige Rausch ihrer Liebe hatte ihre Schönheit zu voller Blüte entfaltet – eine im rauhen Winter der schrecklichen Belagerung gewelkte Blume, vom Hauch des Lenzes und des Glückes wachgeküßt. Die schmiegsame Gestalt war voller geworden. Wenn sie jetzt des Morgens vor dem Spiegel sich ankleidete und die weißen, schöngeformten Arme emporhob, um die dunklen Flechten aufzustecken und dabei der feste, keusche Busen sich streckte, dann dachte sie an Louis und war stolz auf ihre Schönheit. Er betrachtete sie jetzt mit anderen Augen, als früher; und in ihrer Unschuld empfand sie dabei eine köstliche, süße Verwirrung. Sie war sein mit ganzer Seele – wenn er es wollte, auch mit ihrem Körper ...
Sie lauschte:
»Mir ist's, als hätte Vater sich gerührt.«
Hinter der Wand ließ sich ein rauher Seufzer hören; Therese sprang auf.
»Wie geht's?« fragte sie, über das Bett geneigt, in dem unter einem Berg von Decken Simon ruhte, die mageren Glieder gestreckt, vom Fieber erschöpft. Er bewegte den struppigen Kopf, in dem die eingesunkenen Augen in starrem Glanze blickten. Er versuchte, sich aufzusetzen. O gewiß, es ging schon besser; bald würde er wieder aufstehen und ausrücken können. Der Gedanke, daß Louis und Anatole auf ihren Posten standen und ihre Pflicht taten, tröstete ihn. Sie hielten ihm indessen Platz. Die gute Sache zählte nicht allzuviele gute Soldaten! Oft waren die Namen Dury und Levidoff durch seine Träume geglitten. Er nahm einen Schluck Tee und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. Therese überredete ihn, sich auszustrecken und glättete ihm die durchwühlten Kissen ... Er sollte zu schlafen versuchen! Doch sein Kummer ließ ihm keine Ruhe; die Kommune schlecht bedient, schlecht verteidigt ...
Therese bemühte sich, ihn zu beruhigen. Er drückte die treue Hand, die ihn so viele Jahre gestützt, in schlimmen Tagen ihm beigestanden. Gewiß bereitete es ihr schwere Sorge, ihren Mann und die beiden Jungens, die sie wie eigene Söhne liebte, in Gefahr zu wissen, doch sie hatte sich tapfer beherrscht und hielt ihn mit ihrem Mut und Vertrauen aufrecht. Mit weicherer Stimme sprach er:
»Du bist eine gute Frau!«
Und in diesem schlichten Worte lag der Dank eines ganzen Lebens, der Ausdruck seiner Liebe und Treue, die unzerreißbaren Bande der Freude und der Leiden, die ihre beiden Existenzen in einer edlen, freien Vereinigung verschmolzen hatten.
Die Verehrung, die Therese ihrem Manne zollte, der Trost, den ihre hingebende Teilnahme ihm bot, – fanden ihresgleichen in gar vielen Arbeiterehen, in den Mansarden, in den Stätten der Armut. Gar viele, mit grauem oder blondem Haar, trugen unter ihrem Leinenkittel ein heldenhaftes Herz. Von ihnen galt, was einst ein Föderierter zu den Bürgerbataillonen, die am 24. März die Mairie von Meline bewachten, gesprochen hatte: »Glaubet mir, ihr könnt euch nicht halten, euere Frauen sind in Tränen und die unseren weinen nicht.« Diese Pariserinnen gingen täglich mit einem Suppentopf und einem Wäscheballen zu den Schanzen. Oft ergriffen sie an der Seite der Ihren das Gewehr. Kellnerinnen, darunter viele schöne Mädchen, gaben alles, was sie besaßen, den Branntwein für den Magen, die Schönheit ihres Leibes für Sinnenlust und Vergessen. Als Krankenwärterinnen neigten sie ihre von Mitleid leuchtenden Gesichter über die Verwundeten und verbanden die Wunden. Die Glut frommen Glaubens stählte ihren Mut. Hätten sie schreiben, unterschreiben können, zahllose Namen hätten die Aufgebote zum Krieg und verzweifelten Widerstand bedeckt, welche die Führerinnen der Frauenunion als Antwort auf das Friedensmanifest erlassen hatten und die mit der Leidenschaftlichkeit der von einem blinden Instinkt der Gerechtigkeit geleiteten Schwachen geschrieben waren.
Therese hatte die Tür geschlossen, damit Simon ungestört einschlafen könne und saß wieder unter der Lampe, als der Riegel der auf die Straße führenden Glastür leise klirrte. In der halbgeöffneten Tür zeigte sich ein verwegenes, blasses Gesicht. Sie wollten einen Schrei ausstoßen; Anatole legte den Finger auf die Lippen und winkte ihnen, hinauszukommen. Beide Frauen traf es wie ein Schlag: Louis! ... Rose stürzte, völlig außer sich, hinaus und fragte mit bebender Stimme:
»Was gibt's?«
»Nichts Ernstliches«, erwiderte Anatole. »Es ist nur, weil ich Vater nicht stören will ... Heute Nacht haben die Liniensoldaten Vauves angegriffen und Louis ist von einer Kugel an der Brust gestreift worden ... Sei ruhig, Schwesterchen ... Es war mehr Schrecken als Schmerz ... Aber der Große fürchtet, ihr könntet es von anderen erfahren und euch wer weiß was einbilden ... Dieser Kerl, dieser Rougeard, haßt uns und wäre imstande, euch einen Hieb versetzen zu wollen, indem er euch einen Schrecken einjagt ... Und da die Versailler uns heute, scheint es, in Ruhe lassen wollen, so hab' ich die Beine in die Hände genommen, und da bin ich!« ...
Aufs höchste erschreckt, bestürmten ihn die beiden Frauen mit Fragen, Rose in solcher Angst, Therese so erregt, daß er laut auflachte ... »Großer Gott, diese Weiber! ... Gestreift, sag' ich euch! Ein kleiner Riß da und da!« Er bezeichnete an sich selbst die Stellen. »Etwas Arnika und Umschläge ... Übermorgen ist alles wieder gut! So wein' doch nicht, Rose ...«
Schluchzend und mit verstörtem Ausdruck blickte sie Anatole an. Auch Therese betrachtete ihn prüfend, konnte jedoch nur bemerken, daß seine Bluse zerfetzt, sein Beinkleid bis zu den Knien zerrissen war. Seine Hände waren von Pulver geschwärzt, von der blassen Stirn perlte der Schweiß.
»Ja freilich, ich bin gehörig gelaufen ... Wie geht's Vater? ... Grüßt ihn von mir; ich muß zurück. Adieu, meine Herrschaften!«
Seine Stimme hatte einen Ton der Heiterkeit, der Rose gekünstelt schien. Man sagte ihr nicht die volle Wahrheit!
»Warte«, rief sie, »ich gehe mit dir.«
Und unbekümmert um Theresens Bedenken, um Anatoles Einwände, warf sie ein kleines Tuch um die Schulter und nahm heimlich aus einer Büchse ihre Ersparnisse, zwanzig Franks in Hundertsousstücken, davon eines ganz neu, mit dem Dreizack der Kommune. Sie umarmte die Mutter, die jetzt mit resignierter Zärtlichkeit ihren Entschluß billigte: »Die Kleine hatte recht, an ihrer Stelle hätte sie selbst nicht anders gehandelt.« Therese stopfte die Reste ihres Mittagessens – ein Stück gekochtes Fleisch – in Anatoles Tasche und brachte ihm ein Glas Wein heraus. Er schnalzte mit der Zunge:
»Das schmeckt! ... Auf Wiedersehen, Mutter!«
Sie waren schon fern, denn Rose schritt so schnell aus, daß Anatol ihr kaum zu folgen vermochte; er wandte sich noch einmal zurück, um Therese eine Kußhand zuzuwerfen. Feuchten Auges, mit wankenden Knien, von dem wehen Gefühl des Alleinseins überwältigt, blickte die Zurückbleibende ihnen nach.
Ein weiter Weg lag vor ihnen, die Straßen dunkel und menschenleer. Vor dem durch eine Kerze erleuchteten Schaufenster einer Apotheke blieb Rose stehen und betrat, schnell entschlossen, den Laden. Sie kaufte Verbandzeug, Wundsalbe und Saturnextrakt. Eine der dicken, blanken Münzen rollte auf den Ladentisch. Der Apotheker, den Kopf mit einer griechischen Mütze bedeckt, wog sie mit der Hand und untersuchte sie mißtrauisch. Der Taler trug, mit der Messerspitze eingeritzt, auf dem lorbeergeschmückten Kopfe Napoleons III. die unauslöschliche Bezeichnung: Sedan.
»Ist sie vielleicht nicht gut?« höhnte Anatole in herausforderndem Ton.
»Verzeihung, Bürger! sie ist vortrefflich.«
Nun begannen sie beinahe zu laufen. Auf den öden Boulevards erloschen die letzten Lichter der Weinstuben. Gruppen von Frauen huschten vorbei, Almosen suchend. Anatole fing zu hinken an, während Rose, von fieberhafter Erregung vorwärts getrieben, keine Ermüdung spürte. Glücklicherweise kam ein leer heimfahrender Milchwagen vorbei; Anatoles Bluse beruhigte den Bauer und dieser brachte die beiden bis zum Tor von Montrouge, das sie, nach langen Verhandlungen, passieren durften. Ein endloser Marsch durch die laue, sternenglitzernde Nacht ... Rosen war es, als wäre sie seit Jahrhunderten unterwegs und sollte nie ans Ziel gelangen. Endlich tauchten Lichter auf und Anatole flüsterte:
Eine Stimme rief: »Werda?« Andere warfen in gemeinen Ausdrücken das Losungswort hin. Rohes Lachen erklang. Ein Föderierter versuchte, mit Rose zu scherzen.
Da erschien auf der Schwelle einer erleuchteten Tür eine schlanke, vornehme Gestalt. Das Licht einer Fackel warf einen purpurnen Schimmer über das intelligente Gesicht, auf Pierre Durys schöne Augen, Anatole erklärte: seine Schwester habe durchaus mitkommen wollen. Sie glaubte, daß Louis ... Mit ernster Höflichkeit empfing sie der Leutnant: Simon ruhte in einem Nachbarhause aus; er war wohlauf und nur vorsichtshalber heute noch vom Dienst befreit. Diese Überraschung jedoch würde die beste Medizin für ihn sein und seine vollständige Genesung beschleunigen ...
Er und Anatole geleiteten Rose bis zur Schwelle und deuteten auf eine Glastür im Erdgeschoß. Ein dünner Lichtstrahl stahl sich durch die Spalte und ließ die Umgebung noch finsterer erscheinen. Die kleine, verlassene Villa lag in tiefem Schlafe. Den Blumen eines Beetes entströmte süßer Duft. Nur eine eingedrückte Mauer und die lose herabhängenden Fensterflügel verrieten die Nähe des Feindes. Rose zwang sich zur Ruhe. Alles still ringsum, kein Laut drang an ihr Ohr, als das stürmische Pochen ihres Herzens.
Sie öffnete die Tür. Eine Kerze verbreitete ihren gelblichen Schein. Aus dem Hintergrund eines Alkoven ließen regelmäßige Atemzüge sich vernehmen. Auf den Fußspitzen trat Rose näher. Ein Schauer durchlief sie, dem ein Gefühl köstlicher Erleichterung folgte. Das Hemd des Schläfers war mit Blut befleckt, doch auf seinen Zügen lag ein Ausdruck von Kraft und heiterer Seelenruhe und solche Schönheit, daß sie in stummer Anbetung die Hände faltete und den Atem anhielt. Doch schon öffnete er im Gefühl der Nähe eines geliebten Wesens die Augen und erblickte das liebliche, von schwarzem Haar umrahmte Antlitz, die weiche, schmiegsame Gestalt, die wie ein Traumbild vor ihm stand.
»Du!« rief er.
Ihm war, als träume er noch immer, er ergriff die heißen, schlaffen Hände und zog den teueren Körper eng an sich. In einem langen, glühenden Kusse fanden sich die beiden und um sie her versank die Welt mit ihrem eitlen Gefolge leeren Scheins. Es gab in dieser Stunde des Unglücks und der Gefahren nichts mehr außer ihnen, deren Seelen sich vermählten, deren Körper nach Vereinigung dürsteten.
Lachend wie Kinder, sagten sie sich kindische Dinge. Sie wollte ihn schnell verbinden und packte ihren Wundbalsam und ihre Binden aus. Während sie die blutige Brust mit einer kalten Kompresse wusch, durchzuckte sie ein scharfer Schmerz beim Anblick der Wunde, obgleich sie dieselbe sogleich als leicht und ungefährlich erkannte. Gerührt suchte er sie zu beruhigen: ihre bloße Berührung habe ihn geheilt! ... Eine vortreffliche Krankenpflegerin!
Sie setzte sich an den Rand des Bettes und betrachtete ihn, als wäre sie in Gefahr gewesen, ihn zu verlieren. Die Glut des Blickes entflammte ihn. Bis ins Innerste durch die Berührung des geliebten Körpers verwirrt, stammelte sie unzusammenhängende Worte und drängte ihn, zu berichten, was er seit ihrer Trennung getan, gesagt, gedacht hatte. Sie hörte kaum seine Antworten. Sie schwiegen, um nur noch der lauten Stimme ihres Instinkts zu lauschen. Stumm gaben sie sich der trunkenen Wonne des Augenblicks hin; durch das offene Fenster drang mit der frischen und doch linden Luft der fruchtbare Strom der schwellenden Frühlingssäfte herein. Sie waren wie berauscht von ihrer Liebe und dabei erzitterten ihre Herzen in unsagbarem Bangen. Es war die Ahnung von der Flüchtigkeit des Augenblickes, von der unwiederbringlich fliehenden Zeit, von der Nähe des ringsum lauernden Todes. Sie mischte in den Taumel ihrer Sinne, der sie einander in die Arme trieb, einen Hauch der Trauer.
»Komm!« flehte er.
Er umfing sie mit den Armen. Mit unwiderstehlicher Kraft erwachte in den Adern des Mannes die Brunst sinnlicher Begierde. Gehorsam, gezähmt wie eine glückliche Beute, schmiegte sie sich an ihn. Ihre Haare lösten sich, ihre Lippen fanden die seinen. So blieben sie eine Minute, eine kühnere Liebkosung ließ sie erröten; ein Schauer glitt über ihre ganze Gestalt.
»Warte!« flüsterte sie mit einem Kuß der Scham und der Verheißung.
Sie erhob sich jäh und blies das Licht aus, das sie störte wie ein unberufener Blick. Tiefes Dunkel umgab sie. Hastig entkleidete sie sich, wobei Louis ihr mit bebenden Händen half. Sie sanken aufs Bett. Das ewige Gesetz des Lebens erfüllte sich und schlicht, in der sieghaften Macht ihrer Jugend, in der Reinheit ihrer Liebe nahmen sie voneinander Besitz.
Als sie erwachten, geblendet und ermattet, drang helles Tageslicht durch die Scheiben. Die Frische des Morgens füllte das Zimmer und umhüllte sie mit einer Flut von Gold und Azur. Verliebt lächelten sie einander zu und in ihren Herzen, wie an dem strahlenden Himmel, stieg die Sonne des Friedens und der Freude auf.