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Am Morgen des 29. schritt Thédenat, den dichten, dem Louvre zuströmenden Gruppen folgend, den Quai Conti entlang und erfreute sich an der ruhigen Schönheit des Landschaftsbildes, des Anblicks der Inselspitze de la Cité mit ihren hohen Bäumen, die am Fuße der Pont-Neuf ihre smaragdgrünen Reflexe im sonnenglitzernden Wasser badeten, des Laubwerks des gegenüberliegenden, die edle Fassade des Louvre begrenzenden Quais; in der Ferne die Schieferdächer des Palastes, die grüne Masse der Tuilerien und unter den Brückenbögen den schimmernden Strom, dessen glatter, gleißender Spiegel unter dem festlich tiefblauen Himmel ruhig dahinfloß.
Ein Fest war denn auch diese Kundgebung der Freimaurer für dieses leichtlebige, an jedem Schauspiel sich ergötzende Paris, das, vom Hauch des Frühlings berauscht, sich seines Lebens freute trotz des Feuers auf der ganzen zurückeroberten Linie, trotz der mit erhöhter Erbitterung wiederaufgenommenen Schlacht in Neuilly und des wütenden Bombardements, das mit allen Batterien des rechten Versailler Flügels Issy zermalmte und Vaures in Schrecken hielt.
Von den beiden Forts war das erstere nur noch ein Trümmerhaufen, der aber trotzalledem unbeugsamen Widerstand leistete. Thédenat dachte an die Simons, die seit einer Woche in Issy standen; er hatte beim Fortgehen sich auf den Rat seiner Frau im Laden aufgehalten, um zu fragen, ob die beiden unglücklichen, einsamen Frauen nichts brauchten. Doch sie hatten mit ruhiger Würde abgelehnt. Immer noch verfolgte ihn der schmerzlich resignierte Blick der Mutter, Rosens verstörtes Antlitz mit den vom Weinen geröteten Zügen.
Von allen Seiten flutete die lärmende Menge den von Föderierten bewachten Portalen des Louvre zu und betrachtete bewundernd oder spöttelnd im Vorüberziehen die mit Abzeichen und Schärpen geschmückten Freimaurer. Unter Vorantritt ihrer Banner marschierten in corpore die Vertreter der Logen dem zum Versammlungsort bestimmten Karousselplatz zu. Unzufrieden über Thiers' Haltung, über die ausweichenden Antworten, welche ihre Versöhnungsversuche fanden, hatte ein Teil des großen Geheimbundes beschlossen, einen letzten Versuch zu unternehmen, bevor man sich definitiv der Kommune anschloß.
Trotz des Protestes des Rates der Großloge, welcher die Verantwortlichkeit dieser Kundgebung mißbilligte, hatten sich bereits mehrere tausend Angehörige der drei Riten, der Schottischen Loge, der Großloge und des Misraim, auf dem weiten Platze versammelt. Seit acht Tagen sprach man von nichts anderem, als von dem in der Zusammenkunft von Chatelet gefaßten Beschlusse: auf den Wällen die symbolischen Banner des Ordens aufzupflanzen als feierlichen Aufruf zur Verbrüderung, zum Frieden; wenn auch nur eine einzige Kugel sie traf, wollten sämtliche Ordensbrüder gegen den gemeinsamen Feind sich erheben ... Die Kommune hatte diese neuen Freunde, denen sie den ersten Beweis öffentlicher Sympathie verdankte, ehrenvoll empfangen; Jules Vallès hatte das Banner der Delegierten mit seiner roten Schärpe geschmückt. Heute war der große Tag, heute sollte eine Zeremonie stattfinden, wie man sie in solcher Großartigkeit seit der pomphaften Proklamation der von Paris Gewählten nicht mehr gesehen hatte.
Thédenat betrat die Brücke der Saint-Pères, kam aber nur bis zur Mitte. Ein ungeheueres Gedränge versperrte den Weg und übertönte mit seinem fröhlichen Lärm die festlichen Klänge der Musikkapellen. Der Karrousselplatz, der Square Napoleon waren derart überfüllt, daß die gestoßenen und zusammengepferchten Delegationen sich in den leeren Tuilerienhof retten mußten. Ein bejahrter Arbeiter, der auf einen Kandelaber geklettert war, von wo aus er durch die Portale blicken konnte, meldete dies den Umstehenden. Die Musik kam näher, und zugleich strömte eine neue Menschenflut herbei. Gegen die Brüstung gelehnt, hörte Thédenat die Worte des Berichterstatters auf dem Kandelaber: »Da kommt ein Bataillon aus der Rue de Rivoli ... Berittene Offiziere sind dabei! und Mitglieder der Kommune: eine, zwei, drei, vier, fünf Schärpen! ... Man drückt sich die Hände! man verbeugt sich! ... Jetzt gehen sie wieder! ...«
Behender, als man es seinem weißen Kopfe und seinem sechzigjährigen gebeugten Rücken zugemutet hätte, kletterte der Mann wieder herab. Mit seinem nägelbeschlagenen Stiefel stieß er an Thédenats Ellbogen; ohne sich mit einer Entschuldigung aufzuhalten, hinter der wogenden Menge der unter dem Portale sich drängenden Menge her und dem sich nach dem Rathause zu entfernenden Zuge folgend.
Eine Wirtschafterin mit dickem Leib, auf den sie ihre gefalteten Hände und ihren Armkorb stützte, mit großen Augen und verzückter Miene, nahm Thédenat zum Zeugen:
»Jetzt ist's doch gewiß, daß Versailles nachgeben muß! ... Sobald die Freimaurer auf unserer Seite stehen ...!«
»Was du sagst!« warf ein Gassenjunge dazwischen.
Das nichtssagende Gesicht der Gevatterin strahlte in Andacht und Verehrung. Was die Freimaurer eigentlich sind, wußte sie nicht; doch eben das Geheimnisvolle imponierte ihr, die mysteriösen Legenden, mit denen dies Wort umwoben war, der Ruhm dieser geheimen Macht erregten ihre Bewunderung. Diese Leute stammten von Salomon ab, sie machten die Könige zittern; sie regierten von ihren unterirdischen Stätten aus die Welt ... Thédenat lächelte.
Von ferne folgte er den Wogen der zurückstauenden Flut und überschritt den mit Neugierigen übersäten Karrousselplatz. Es hätte ihm Spaß gemacht, dem Empfang im Rathaus beizuwohnen, doch scheute er die Ermüdung und auch die Hohlheit dieser Zeremonie. Und zufrieden, sich unter das Volk zu mischen, dessen Berührung, dessen ursprüngliches, leichtgläubiges, prahlerisches Wesen, dessen leichtentfachten Enthusiasmus er liebte, wandte er sich nach links, dem Konkordienplatze, wo die große Barrikade des Bürgers Gaillard sich zu erheben begann, und den Champs-Elysées zu, in deren breiten, schattigen Alleen er sich so gerne erging.
Jawohl, leichtgläubiges Volk! Und leichtgläubig auch diese Männer voll Großmut und kindlichen Glauben, die sich einbildeten, mit dem Pomp ihres barocken Flitterwerks, mit den Emblemen ihrer Menschenliebe dem Angreifer imponieren und die wütenden Rachen der Kanonen zum Schweigen bringen zu können! Thédenat konnte nicht umhin, die heroische Selbstlosigkeit, das feste Vertrauen zu bewundern, welche diese Männer, zum großen Teile bejahrt und in gesicherten Lebensverhältnissen, drängten, sich denen zuzuwenden, die im voraus verurteilt und besiegt waren, dieser unfähigen und gewalttätigen Kommune, die vergeblich gegen das Chaos, aus dem sie hervorgegangen, ankämpfte, deren erste Aufwallung, deren dunkles Gefühl jedoch legitim waren und jedenfalls höher standen, als die greisenhafte Verblendung und die gehässige Verständnislosigkeit Thiers' und der Nationalversammlung.
Trauriges Los, für ein Ideal zu leben, den Glauben an eine bewußtere, bessere Menschheit in sich zu tragen und sich an der Ärmlichkeit der Seele, der Wildheit der Instinkte wundzureiben. Er dachte an die wütende Ohnmacht eines Jacquenne, an die Reinheit seiner Träume, und fühlte mehr Sympathie für diese Sucher nach dem Absoluten, die, der fernen Zukunft zustrebend, über die Hindernisse der Gegenwart strauchelten, als für die hartnäckig sich an die fossile Vergangenheit festklammernden Nachzügler und Rückschrittler.
Welch eine Rolle übernahm Thiers? Ein vor eine Riesenaufgabe gespannter Homunkulus, dessen großes Talent sich in der Diplomatie und in Geschäften zeigte, und das darin bestand, im Verein mit den Deutschen, zum Besten der Interessen Frankreichs, eine Situation zu entwirren, die zu verderben er vor allen anderen beigetragen hatte.
Gewohnt, mit seinem klaren Forscherblick das Dunkel der Geschichte zu durchdringen, unterschied Thédenat deutlich die verworrenen Fäden, welche die Ereignisse leiteten. Die Nationalversammlung hielt zu Thiers nur im Bewußtsein der Mitschuld an der allgemeinen Gefahr, duldete ihn als den einzigen, der imstande war, mit dem fremden und dem inneren Feinde fertig zu werden, und fürchtete weniger seine vorübergehende, durch die Ereignisse und den Mangel an Rettern bedingte Suprematie, als die ihm zugeschriebene Neigung zur Republik. Indem er den Delegierten der großen Städte und den Vertretern der Liga die Wahrung der republikanischen Form zusicherte, schien Thiers sich gegen den Vertrag von Bordeaux zu vergehen, welcher lautete: status quo bis zur Verfassung. Das bedeutete, nach dem arroganten Geständnis einiger und dem stillschweigenden Vorbehalt der Mehrzahl den ersten Schritt zur Monarchie. Daher diese beständigen Reibungen, dieses nutzlose Zerren an der Kette einerseits Thiers', der die Majorität aufforderte, ihn seines Amtes zu entsetzen, andererseits der grollend nachgebenden Majorität. Besonders lehrreich war die Sitzung vom 27., in welcher Thiers, mit rednerischem Schwung die Qualen seines Gewissens geschildert und seine Zweifel geäußert hatte, ob in diesem grausamen Kriege das Recht allein auf seiner Seite stand. Audren de Kerdrel stürzte auf die Tribüne, schalt die Langsamkeit der Unterdrückung, sprach in verschleierten, aber durchsichtigen Worten von dem Willen des Landes und errichtete auf der Vision der neubefestigten Gesellschaft die künftige Krönung des Gebäudes. Die Nationalversammlung hatte in langandauernder Erregung die restaurierte Monarchie begrüßt und auf ihrem Giebel die weiße Fahne aufgepflanzt.
Die Versöhnung! Es hatte Poncets jugendlichen Feuers bedurft, um daran zu glauben, während sie von allen Seiten verfolgt und verleumdet wurde, und Louis Blanc, der vor der Kammer als Antwort auf Dufaures Zirkular »Erbarmen mit dem leidenden und blutenden Frankreich« verlangte, von dem verdrießlichen Minister unwirsch angefahren wurde: später, wenn die Ordnung wieder hergestellt, wäre die Versöhnung am Platze! ...
Die Verheißungen der Republik! Die den Bürgermeistern und Gemeinderäten von Lyon, Marseille, Toulouse, Bordeaux, Nantes gegebene Versicherung, daß, wenn ein Komplott gegen die Stürzung des gegenwärtigen Regimes in der Nationalversammlung existierte, er, Thiers, sich an dessen Ausführung nicht beteiligen wollte! Wahrhaftig, das war es nicht, was die Rechte beunruhigen konnte! Was hatte die Republik mit dem zentralisierenden, beschränkten Begriff des Ex-Ministers Louis-Philipps gemein, der sich nur eine Republik ohne Republikaner und sich selbst als deren Präsidenten vorstellen konnte. Was kümmerte ihn die Republik! Geweihtes Wasser, mit dem er die Besucher verschwenderisch besprengte, so daß sie bekehrt von dannen gingen. Gute Worte, die indessen die Untätigkeit der großen Städte sicherten, ihm dadurch gestatteten, seine Truppen ungeteilt zusammenzuhalten und gegen Paris, das heißt gegen die Demokratie, den letzten Versuch zu wagen. Nachher würde man ja sehen ...
Paris niederschmettern, zertreten, das war die fixe Idee der Nationalversammlung und Thiers', der wollüstige Traum seiner Tage und seiner Nächte. Daher diese beständige, peinliche Sorge, alles zu vermeiden, was den Anschein hätte erwecken können, als ob er je die Soldaten von Paris als Kriegführende anerkennen würde. Courbet war ein Einfaltspinsel, daß er ihre Sanktionierung durch die europäischen Nationen durchsetzen wollte! Kriegführende töten sich ja gegenseitig auch, aber nach gewissen Regeln; ein besonderer Kodex stellt ihre gegenseitigen Rechte fest; man beobachtet gewisse Rücksichten. Denn auch der Krieg, diese furchtbare Geißel, hat seine Gesetze, die man gegen die Preußen gewahrt hatte. Diese rebellischen Franzosen als Kriegführende anerkennen, hieße vorerst sich selbst verurteilen und ferner sich des Rechtes begeben, sie zu züchtigen als außerhalb des Gesetzes stehende Verbrecher, als wilde Tiere, die man in den Käfig sperrt und erschießt. Kriegführende! Man hätte mit ihnen unterhandeln müssen, und das wollte Versailles um keinen Preis!
Diese Furcht war die Ursache der Weigerung, an der Befreiung des Erzbischofs und des Präsidenten Bonjean mitzuhelfen. Thédenat hatte vom alten De Flotte vertrauliche Mitteilungen erhalten und kannte das Wort, das Barthélemy-Saint-Hilaire in Gegenwart Barral des Montants entschlüpft war: »Die Geiseln! Die Geiseln! Die Geiseln! Wir können aber doch nichts dafür! Was ist da zu tun? Umso schlimmer für sie!« Einstimmig hatten der Ministerrat und die Kommission der Fünfzehn, darüber zu Rate gezogen, sich gegen den Tausch mit Blanqui ausgesprochen. Und darunter waren Männer wie die Herzoge Andiffret-Pasquier und Decazes, die Generäle Ducrot, Martin des Pallières, die Admiräle La Roncière und Jaurégniberry, der Akademiker Vitet ...
Thiers hatte gegen den Skandal eines solchen Handels laute Einsprache erhoben. Dieses Vorgehen würde die schlimmste Gefahr heraufbeschwören: die Rasenden brauchten dann nur noch Hand an das, was in Paris an ehrenhaften Elementen übrig war, zu legen, – freilich gab es in seinen Augen dort nur noch Briganten – um es hierauf gegen die schlimmsten Missetäter einzutauschen. Die Drohung erwidernd, hatte er verkündet, daß das Haupt der Henker für das der Opfer bürgen sollte. Jules Simon erklärte, daß die Geiseln in Sicherheit waren, und nur ein Befehl der Kommune sie dem Verderben ausliefern könnte, und angenommen, daß diese eines Tages wahnsinnig genug sein könnte, ein solches Verbrechen zu wollen, wären es niemals mehr als fünf Befreite, und zweitausend Geiseln blieben unter Androhung des Todes; Blanqui, in contumaciam verurteilt, wurde dann neuerdings vor Gericht gestellt; vorher ihn zu begnadigen, war unmöglich ...
Und dann, den Aufständischen einen solchen Führer ausliefern! Überdies erklärte Favre, daß keine Garantie eine solche Transaktion sanktionierte; und hatte sie selbst alle Garantien geboten, er verwarf sie doch prinzipiell, denn er war der Meinung, daß es sich selbst entehren hieße, einen solchen Tauschvertrag zu unterzeichnen, und sollte es dem Erzbischof und seinen Genossen auch den Kopf kosten. Er gestand es offen ein: das hieße das Recht der Kriegführenden anerkennen und die nationale Souveränität der Versammlung untergraben.
Die einzige Hoffnung, die vielleicht noch blieb, war nicht, wie die Union der syndikalen Kammern wünschte, daß beide Parteien die Waffen niederlegten und, die Kommune wie die Nationalversammlung, sich der Wiederwahl des Landes unterwarfen, auch nicht, wie der Temps präkonisierte, daß ein fünfundzwanzigtägiger Waffenstillstand erklärt und eine neue Kommune gewählt würde unter den Formen des von der Nationalversammlung votierten Gesetzes und mit dem Auftrag, über die Grundlagen der Aufrechterhaltung der Republik, der munizipalen Freiheiten und einer allgemeinen Amnestie zu unterhandeln. Ebensowenig waren es all diese individuellen Projekte, welche auf verschiedene Lösungen hinarbeiteten; gestern Henri Martin, heute Victor Considérant.
Nein, wenn es noch die Möglichkeit einer Rettung gab, dann lag sie darin, daß die großen Städte Thiers' Erklärungen nicht für bare Münze nahmen, nur auf das Gebot der Solidarität und die Stimme ihres Herzens hörten. Daß alle Widerstand leisteten, um Paris vor der Vernichtung zu schützen!
Am 25. hatte Bordeaux die Initiative ergriffen, um die Vertreter der Städte Frankreichs in einem Kongreß zu vereinigen. Sie sollten aus den künftigen Munizipalräten gewählt werden, die man am 30., in Ausübung des neuen Gesetzes in ganz Frankreich wählen sollte. So würde das allgemeine Stimmrecht sie, einer auf zwanzigtausend Einwohner, designieren, damit sie in geheimer Versammlung über die Mittel berieten, dem Bürgerkrieg Einhalt zu tun und die Republik zu befestigen. In diesem nationalen Bestreben, in diesem vereinigten Willen der Städte lag das letzte Rettungsmittel. Thédenat wiederholte sich, was ein Billett von Poncet, durch die auvergnatische Magd ihm überbracht, ihm gemeldet hatte. Ermattet und durch das Ausbleiben jeder Nachricht von Martial beunruhigt, teilte der Chemiker ihm mit, daß er die drei Delegierten von Bordeaux nach ihrer Ankunft aufgesucht habe. Ihre Berichte über die Sitzung der Liga lauteten ziemlich ungünstig. Thiers und Barthélemy-Saint-Hilaire hatten wieder einmal ihr höhnisches Ultimatum gestellt.
Gleichviel, wenn nur der Kongreß zustande kam und die großen Städte ihre Wünsche zum Ausdruck brachten! Denn trotz der schwulstigen Bulletins, mit denen Thiers die Provinz überschwemmte, hoffte Thédenat von der edlen Saat des Jahres 1789, von der Revolution den langsamen, aber stetigen Fortschritt des Jahrhunderts. Gewiß war von der Landbevölkerung, von den zu dem Stückchen Erde, das sie ernährte, heimgekehrten Bauern noch nichts zu erwarten, während aus den Städten, den großen Arbeiterzentren, die bei der Bewegung der Kommune gezittert hatten, und in denen die soziale Entwicklung gärte, vielleicht eine bedeutsame Tat hervorgehen konnte. Das Land würde sprechen und durch liberale Wahlen beweisen, daß es nicht eines Herzens mit dieser Nationalversammlung war, die, nur für den Frieden einberufen, in keinem tatsächlichen Zusammenhange mit dem Lande stand.
Thédenat war längst wieder zu Hause, als gegen ein Uhr unter lärmenden Zurufen und wüstem Gedränge der Zug, nachdem er den üblichen Paradeweg zurückgelegt, über den Bastillenplatz und die großen Boulevards bei der Madeleine anlangte.
Wie eine lange, bunte Schlange wand sich der Zug dahin: mehrere tausend Freimaurer, von blauen, roten, grünen, weißen, schwarzen, mit Gold und Silber gestickten Schärpen schimmernd. Die Rosenkreuzer trugen um den Hals das rote Band, die Kadoches-Ritter die gekreuzte schwarze Schärpe mit den Silberfransen. Fünf durch das Los gewählte Mitglieder der Kommune bestätigten durch ihre Gegenwart die offizielle Vereinigung. Von Bannern starrend, die von Würdenträgern der Logen getragen wurden, und deren Falten im Rhythmus der Schritte gleißten, wogte der Strom der Fußgänger und der Wagen unter dem Schwanken der Friedensfahnen. An der Spitze, von dem Ordensbruder Thirifocq und einem weißhaarigen Greise, welcher mit Beslay abwechselte, getragen, flatterten nebeneinander die große weiße Fahne der Loge von Vincennes, die in scharlachroten Buchstaben die Worte trug: » Laßt uns einander lieben!«, und die von der Kommune gespendete rote Flagge.
In einem offenen Fiaker, dessen Lenker unter einer im Peitschenhalter befestigten Fahne thronte, saßen drei Männer: im Fond ein greiser Freimaurer mit pergamentgelbem Gesicht, dem die weißen Haare aus Nase und Ohren wucherten und in breitem Strome über die eingesunkene Brust wallten. Neben ihm und ihn überragend Fernol mit dem wuchtigen Körper und dem schwarzen Bart. Auf der reichgestickten, neuen Uniform, die als einzige Zeichen des Kampfes große Sirupflecken trug, prangte die rotgoldene Schärpe des Zentralkomitees kreuzend, eine andere, ebenfalls goldgestickte, aber blaue Schärpe. Im Besitz seiner freimaurerischen und militärischen Ämter sich blähend, feierte der ehemalige Zimmermann voll Begeisterung die Schönheit der Zeremonie. Ihnen gegenüber auf dem schmalen Bänkchen saß Thérould zusammengekauert und gab seinem weichen Filzhut mit einem Faustschlag eine verwegene Form. Brennende Röte färbte seine vorspringenden Backenknochen und durchzog die Äderchen seiner von Alkohol glänzenden Augen.
»Euch, die von der Kommune, erstickt nicht die Freundschaft fürs Zentralkomitee! Zum Teufel, nein! ... Und sie tut doch, was sie kann! Möchte sehen, wie ihr euch an ihrer Stelle benehmen würdet!«
Ein verächtliches Lächeln, das über die stolzen Züge des Toulousaners glitt, bekundete, daß diese Eventualität, weit davon entfernt, Fernol zu erschrecken, ihm vielmehr verlockend erschien. Er dachte: Nur Geduld! der Wind kann sich drehen. Die mit dem Zentralkomitee verwachsene Nationalgarde, die Retterin vom 18. März, die Zuflucht der Zukunft, begann, dieser von Unfähigen ausgeübten Gewalt müde zu werden, in der ihre eigenen Mandanten untergingen. Es handelte sich nur noch darum, der richtigen Stunde zu harren, das Werkzeug war gefunden ... Im Komitee wie anderwärts begann man unter der Oligarchie der Direktion einen Mann von Willenskraft und Begabung herbeizusehnen, der fähig wäre, in einer Militärdiktatur die Ausführung auf sich zu nehmen. Fernol war einer von jenen, die aus verschiedenen Gründen, aus Gewohnheit des Gehorchens, aus Intelligenz und Patriotismus, Rossels Ansehen duldeten. Mit seiner dröhnenden Stimme erklärte er:
»Glücklicherweise haben Bürger Cornabasse und alle guten Brüder wie er sich zur Verteidigung von Paris erhoben! Die Welt soll sehen, auf welcher Seite Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu finden sind.«
Schweigend hüstelte der Greis in seinen wallenden Bart. Seine hoheitsvolle Miene, seine gedankenschwere Stummheit flößte seinen Gefährten Ehrfurcht ein. In wohlbedachten Worten und kühnen Schmeicheleien warben sie um den Beifall eines solchen Schiedsmannes. Doch, gleichsam in seinen Zeiten und Räumen schwebend, schien der Würdenträger in die Betrachtungen eines unerforschlichen Mysteriums versunken.
»Der Ballon ist nicht mehr zu sehen!« sagte Thérould, aufmerksam den Himmel betrachtend.
»Er ist schon fern!« erwiderte Fernol mit Grabesstimme.
In dem Augenblick, als der Zug sich ordnete, um das Rathaus zu verlassen, war ein Luftballon aufgestiegen, welcher die Aufschrift trug: Die Kommune an Frankreich.
In überschwänglichen Worten schilderten die beiden ihre mächtige Rührung, als vorhin, im Hofe Louis XIV., die Delegierten der Logen in feierlicher Weise von der versammelten Kommune empfangen worden waren. Die Vertreter von Paris, mit der Schärpe geschmückt, warteten auf der Höhe der Doppeltreppe aus weißem Marmor, über die vergoldete Rampe des geräumigen Vorplatzes gebeugt. Rot umgürtet, von roten Fahnen umgeben, überragte sie die Statue der Republik. Durch das riesige Fenster fiel goldiges Licht auf die mit Porphyrsäulen geschmückte Halle, auf den menschenwimmelnden Hof. Funkelnd reihten sich die Banner auf den Stufen, und unter den feierlichen Klängen der Marseillaise wurden nicht minder feierliche Reden gehalten. Nachdem Felix Pyat als Vertreter der Regierung in prunkhaften Worten, Beslay als Ehrenmann in gerührtem Tone gesprochen, hatte Léo Meillet die rote Fahne überreicht. Thirifocq hatte in seiner Antwort die Bedeutung dieses Tages erklärt; sie würden zu ihren Brüdern, den Soldaten, sagen: »Soldaten des gleichen Vaterlandes ... kommt und umarmt uns, der Friede sei geschlossen!«
Und wenn dieser Ruf ungehört verhallte, dann wollten die Freimaurer aller französischen Provinzen dem Beispiele folgen und überall, wo Truppen gegen Paris geschickt würden, sie von ihrem Vorhaben abzubringen suchen. Wenn aber die Versailler Kugeln nicht aufhörten, die Wälle zu treffen, dann wollten alle sich den Kriegskompagnien anschließen, um Paris zu verteidigen und mit Paris zu sterben.
Thérould erklärte dieses Glaubensbekenntnis als herrlich und erhaben. Innerlich jedoch ließ es ihn kalt, denn er erwartete von den Bemühungen dieser Greise nur geringen Erfolg.
Von Absynth verbrannt, von Gelagen und Lustbarkeiten übersättigt, lebte Thérould jetzt in täglich wachsender Zügellosigkeit seinen wachen Traum. »Kurz und gut!« Mit dieser Devise, die er bei jeder Gelegenheit anführte, bezeichnete er die überhasteten Handlungen, mit denen er seine Stunden ausfüllte. Er war eine verbrauchte Maschine, die nur unter dem Hochdruck des Alkohols noch funktionierte. Zuweilen, in Augenblicken klaren Bewußtseins, überlegte er und sah düsteren Blickes hinter sich die Jahre wilder Sinnlichkeit, vor sich das tragische Unbekannte. Der Absinth des Abends, der Wermut am Morgen verscheuchten diese Anwandlungen. Dann stürzte er sich um so ungestümer wieder dem tollen, roten Karneval, dem Vergessen des Augenblicks, den flüchtigen Liebesabenteuern in die Arme und berauschte sich an der warmen Luft dieses Frühlings mit den goldverklärten Tagen, den linden, sternenklaren Nächten. Im Grunde blieb er ein guter Kerl, der seine Beförderung bei der Polizeipräfektur – Rigault, mächtiger denn je in seinem neuen Amte als Generalprokurator der Kommune, hatte ihn zum Direktor irgend einer Abteilung ernannt – benutzte, um unentgeltlich jedem, der sein Mitleid zu erregen wußte, Passierscheine auszustellen. Blacourt aber hatte er schön ablaufen lassen, als »dieser Freßsack der Belagerung, dieses Schwein!« ... zu ihm gekommen war, um einen Paß von ihm zu erbetteln.
Mit Augurmiene brütete der Greis ihm gegenüber in seinen endlosen Bart. Obgleich er von Zeit zu Zeit mit einem Kopfschütteln, einem Lächeln an dem Gespräch teilzunehmen schien, dachte er in Wirklichkeit an gar nichts, höchstens daran, daß die Sonne zu warm schien und im Falle eines Platzregens sein neuer Überrock, der einzige, den er besaß, durchnäßt würde. Das war die einzige Sorge seiner kindisch gewordenen Seele.
Vergeblich bemühte sich Fernol um seine Gunst; er, der sich keinen anderen als rednerischen Kämpfen aussetzte, bewunderte den Mut des Greises, der, seine Seidenfahne schwenkend, den Kugeln und Granaten entgegenging und sein Leben wagte.
Der Wagen rollte durch die Rue Royale; der Zug hatte sich in mehrere Kolonnen geteilt, die alle dem Triumphbogen und den Toren entgegenstiebten. Im Faubourg Saint-Honoré sammelte sich wieder eine dichte Menge: Gleichgültige, bewundernde oder spottende Zuschauer, und vor allem Frauen. Fernol erregte mit seinen Schärpen die Heiterkeit einer Gruppe: »Da schaut, dieser Bänderkram!«
Gegen drei Uhr – der Himmel hatte sich inzwischen getrübt – löste sich unter dem unausgesetzten Hagel der Kugeln und Granaten, die einen Bruder der Schottischen Loge verwundeten, eine Gruppe von hundertzwanzig Männern aus dem Gros der unter dem Triumphbogen und dem Zugang zu den Alleen angesammelten Manifestanten. Die Delegierten der Logen und die siebzig Bannerträger betraten unter Vorantritt der Parlamentärfahne die Avenue der Grande-Armee. Die kleine Gruppe verlor sich in der Ferne.
Fernol und Thérould suchten im Gewoge der Flaggen diejenige ihrer Gefährten zu erkennen. Das Feuer der Geschütze hörte erst auf, als längs des Walles, von der Porte Bineau bis zur Porte Maillot die Flaggen aufgepflanzt waren. Der Greis mit dem wallenden Barte hatte mit Hilfe eines unerschrockenen jungen Burschen die seine in Reih und Glied befestigt und verbrachte hier, gleich den anderen, die Nacht, in seinem neuen Überrock frierend und über dem edlen aber machtlosen Wahrzeichen wachend.
Erst am Abend erfuhr man durch einen der drei Parlamentäre, die bei den Vorposten von General Montaudan empfangen worden waren, die erste Phase der Unterhandlungen. Selbst dem Freimaurerorden angehörend, hatte der General beim Anblick der Banner die Feindseligkeiten eingestellt; mehr konnte er nicht tun; ein Wagen sollte die beiden anderen Delegierten nach Versailles bringen, wo Thiers ...
Während die Hauptführer der Freimaurer in einem Hause der Avenue de Wagram ihre Rückkehr erwarteten, die Nacht verstreichen, den Morgen dämmern sahen, genossen im Fort Issy auf den Trümmern einer kasemattierten Deckung einige Nationalgardisten einer kurzen Ruhe und streckten, auf dem Boden liegend und in die von den Matrosen während der Belagerung zurückgelassenen Decken gehüllt, mit offenen Augen ihre halbgelähmten, todmüden Glieder.
Nach fünf Tagen unausgesetzten Bombardements, nach einem endlosen Orkan, der die Granaten in verheerenden Schauern aus den ehemaligen preußischen Schulterwehren blies, nach vier ruhelosen, schlaflosen Nächten, waren die letzten Stunden so heiß gewesen, daß die Überlebenden der Garnison, eine Handvoll Männer, sich versammelt hatten, um in kurzem, tierischen Schlummer ihr Fieber, ihr Bangen zu betäuben. Die Brustwehre stürzten in die Gräben; längs des zerstörten Walles stand kein Geschütz mehr; über den Trümmern der Forts, über den Ruinen der Kasernen stieg eine regenschwere Dämmerung auf, einen trüben Morgen verkündend.
Seit dem 15. spieen von der Terrasse von Meudon, von Moulin-de-Pierre, Chatillon, Brimborion, von Breteuil, von der Diogeneslaterne und der Brücke von Sevres aus fünfundzwanzig Belagerungsgeschütze ihr verheerendes Feuer; von sechzig Kanonen hatte jede einzelne mehr als vierhundert Schüsse abgegeben. Am Abend des 26. erstürmten, nach einem Bombardement, das den ganzen Tag hindurch Issy mit Kugeln überschüttet hatte, zwei Regimenter der Division Faron die Moulinaux, welche den vorgeschobenen Posten zwischen dem Strom und dem Fort bildete und den Zugang zur Festung hinderte. Häuser und Barrikaden wurden aus der Erde gerissen, der Boden war mit Leichen bedeckt. Seit langer Zeit fanden, den Haß schürend, bei den Vorposten, zwischen den Rekognoszierungspatrouillen tägliche erbitterte Gefechte statt. Versailles war nur noch achthundert Meter von den Glacis entfernt.
Den 27. und 28. dauerte unter Sonnenschein und zeitweise strömendem Regen die Kanonade fort, die Anlage einer zweiten Parallele deckend. Diese mündete auf die Positionen, gegen welche die Föderierten ein erbittertes Kleingewehrfeuer richteten. Endlich, den 29., eroberten die Brigaden Derroja, Berthe und Paturel in einer durch verdoppelte Anstrengungen der Batterien vorbereiteten Attacke in ehrlichem Kampfe den Friedhof, die Pariser Laufgräben und den Park, während zwei Kompagnien sich des Gutshofes Bonamy bemächtigten, wo sie dreißig Mann töteten und fünfundsiebzig gefangen nahmen. Ohne daß das Fort es ahnte, war Versailles bis auf kaum dreihundert Meter vorgerückt.
Aus dem Schlafe aufgeschreckt, weniger durch die ganz nahe krachenden Flintenschüsse, als durch den Schmerz, den seine von einem großen Steinsplitter herrührende Quetschwunde an der Seite ihm verursachte, richtete sich der alte Simon mit einem Seufzer auf. Er reckte seine erstarrten Beine, seine schweren Arme. Er hatte einen bitteren Geschmack im Munde, sein Bart war mit Kot bespritzt, das Gesicht von Pulver geschwärzt. Plötzlich flammten seine Augen auf: der ganze wütende Taumel dieser Kampfeswoche ergriff ihn wieder mit voller Macht.
Er tastete nach dem neben ihm liegenden Schläfer. Der Junge war so müde, Vater und Sohn hatten, als sie den Lärm vernahmen, die Flinten gepackt und waren zum nördlichen Tor gestürzt, um sich unter die beim Park stehenden wackeren Männer zu mischen. Man tat, was man wollte, jeder schlug sich, wie es eben kam, die Befehle der Offiziere wurden nicht befolgt, der Kommandant Mégy hatte den Kopf verloren. Kein übler Mensch vielleicht, dieser Mégy, berühmt geworden durch den Pistolenschuß, mit dem er vor dem Kriege einen mit seiner Verhaftung beauftragten Kerl niedergestreckt hatte, aber als Gouverneur nicht tüchtig genug! Seine Oberstenuniform, sein verwegenes Gesicht vermischten sich in Simons Gehirn mit anderen Bildern. Nach erbittertem Handgemenge waren sie vor einer Stunde zurückgekehrt und hatten sich, völlig erschöpft, auf dem Boden ausgestreckt.
Wo war Anatole? Der Vater lauschte auf das Geknatter der Chassepots. In regelmäßigen Schüssen antwortete die schwache und hartnäckige Stimme dem Getöse der Versailler, die ganz nahe, hinter ihren frisch aufgeworfenen Schulterwehren, den Glacis gegenüber, unausgesetzt ihre Geschosse entsendeten. Der Junge amüsierte sich jedenfalls in Gesellschaft seiner Kameraden.
Simons Blick schweifte über das Bild der Zerstörung und suchte das von roten Blitzen durchzuckte Dunkel zu durchdringen. Im Osten stieg der blasse Schimmer des neuen Tages empor. Hie und da ging ein Zittern über die rings umher ruhenden Leiber; das Blech der Feldflaschen blitzte; von Zeit zu Zeit ward das Stammeln eines lauten Traumes, das unbewußte Stöhnen eines Verwundeten vernehmbar. Der Schuster stopfte seine Pfeife, um mit dem Duft seines geliebten Tabaks diesen Geruch von Schmutz und Feuchtigkeit von sich fernzuhalten. Die Kohlenglut im rauchenden Ofen zuckte unter dem Hauch der gleichmäßigen Atemzüge.
Von tiefer Traurigkeit erfaßt, überdachte er die gegenwärtige Lage: die Kommune gefährdet, die Reaktion zur Herrschaft gelangt. Woran dachten Cluseret und die Kommissionen? Sie eine ganze Woche ohne Ablösung, ohne Verstärkung hier zu lassen! Wohl war der Delegierte vor zwei Tagen hier gewesen, hatte hier einen Tadel geäußert, dort einen Befehl erteilt; doch sprechen ist leichter, als handeln. Bildeten sie alle sich ein, daß es genügte, zu reden? Wenn die Gesättigten der Nationalversammlung, die Generäle von Badingue, und hinter ihnen die Reichen, die Fetten, all das, was man die Gesellschaft nennt, wieder einmal mit Kartätschen das Volk zerschmetterten!
Er dachte an das Fort, das, unter dem von allen Seiten niederprasselnden, mörderischen Hagel, mit einer erstickenden Staubwolke und umherfliegenden Trümmern angefüllt war; er sah die zertrümmerten, verbrannten Geschütze wieder vor sich, unermüdlich wieder auf ihre Lafetten gehoben und in die zerstörten Schießscharten zurückgebracht, die Kumpane, die dort ihr Leben gelassen und unter eiligst aufgeworfenen Erdhaufen faulten.
Bontrot, der Mechaniker, ein Stückrichter ersten Ranges! Er war gleichzeitig mit seiner Kanone umgekommen; eine Kugel hatte mit dem Erz der Kanone auch das Gehirn des Mannes gesprengt. Der Bauzeichner Larizelle, der immer sang und den eine in die Kehle gedrungene Kugel für immer stumm gemacht hatte. Und der kleine Huvin, genannt der Panther von Montrouge, mit den pomadisierten Schmachtlocken, ein schlechter Kerl vielleicht, der aber doch Mut im Leibe hatte! Zum Henker, man bewegte sich nicht unter Herzogen und Marquisen! Aber es war nicht seine, Simons, Schuld, wenn die seinen Herren wie Martial Poncet sie im Stich ließen und der Pöbel unter sich blieb!
Immerhin gab es doch Ausnahmen... Wer hatte jene beiden jungen Leute, die dort, Arm in Arm plaudernd, die Deckung entlang schlenderten, den Leutnant und den einfachen Gardisten – gezwungen, sich unter die rote Flagge zu stellen? Freundlichen Blickes folgte Simon ihren vornehmen Gestalten.
Nein, dieser junge Bürger, den sie an Martials Stelle gewählt hatten, Pierre Dury, der Kandidat der Philosophie und der Rechte, war kein Arbeitersohn, war nicht durch ein Dasein der Erniedrigung und des Elends der Empörung in die Arme getrieben worden; der Dreiundzwanzigjährige, vor dem eine ruhige und gesicherte Zukunft lag, hatte sich voll ehrlicher Begeisterung in den Hochofen der Revolution gestürzt. Jedermann liebte seine offenen Züge, seine klaren, jedem frei ins Antlitz blickenden Augen, seine warme, hinreißende Rede.
Und dieser Prinz Levidoff, unter dessen mädchenhaftem Teint und flachsblonden Haaren sich eine unbeugsame Energie, eine eiserne Seele und stahlfeste Nerven verbargen! Er hatte mehr als einmal Thédenats Vorlesungen im College de France gehört, war der eifrigste Besucher der Kollegien über Philosophie, Chemie und andere schöne Dinge auf ie und, wenn man dem Leutnant glauben durfte, gelehrt wie die Gelehrtesten. Es hieß, daß er in seiner Schneeheimat einen Palast und unbegrenzte, mit Dörfern besäete Domänen besaß ...
Sie waren nicht die einzigen, die selbstlos der Sache der Armen dienten; da war auch noch der wackere Vater Pontois – Simon suchte ihn mit dem Blicke ... richtig, er stand ja seit gestern abend auf Wache! – der Uhrmacher aus der Rue Saint-Jacques, ein wohlhabender, unterrichteter Mann, er öffnete nur selten den Mund, war pünktlich und gewissenhaft bei jeder Arbeit und tapfer im Feuer. Der Anblick solch selbstloser Hingebung bestärkte Simon in seiner Überzeugung, daß das Recht auf Seite seiner Partei sein müsse! Und Wut erfaßte ihn bei dem Gedanken, daß der am 18. März so leicht errungene Sieg ihnen entschlüpfte, daß der erstickende Kreis um Paris und die allein inmitten der Gleichgültigkeit des Landes, unter dem Feuer der verfluchten Kanonen Widerstand leistende Revolution sich enger und enger schloß! Wenn man daran dachte, daß dieser trübselige Morgen vielleicht der letzte war, der die rote Flagge von dem Fort flattern sah, daß man bald diese zerschossenen Mauern, diese zusammenstürzenden Erdwälle verlassen mußte, während die Kasematten noch reiche Mengen an Lebensmitteln, Kugeln und Kartätschen bargen, und die steinernen Mauermäntel fast unversehrt waren!
Das Knattern des Gewehrfeuers dauerte fort. Louis lag in ruhigem Schlafe. Simons Pfeife erkaltete allmählich. In dumpfer Träumerei, mit immer schwerer werdenden Augenlidern betrachtete er den langsamen Anbruch des Morgens, die auf und ab wandelnden Gestalten Levidoffs und des Leutnants.
Pierre Dury, der den Kragen seines Mantels aufgeschlagen hatte, wandte seinem neuen Freunde sein von der Kälte bleich gewordenes Gesicht zu, in dem die Augen freundlich und heiter leuchteten; die vollen, roten Lippen unter dem seinen, blonden Barte lächelten. Neben ihnen streifte zischend ein Kugel vorbei:
»Nein, es ist nicht persönliche Furcht, was mich Ihre Auffassung zu absolut finden läßt. Ich weiß, was wir aufs Spiel setzen; diese Kugel mahnt uns nur zu lebhaft daran! Ich weiß, daß wir dank der Entkräftung unserer Führer und unserer Leute gezwungen sein werden, die Festung zu verlassen, daß wir heute Issy, morgen Vaures, übermorgen Paris verlieren werden ... Ich weiß, welche Schlacht die Straßen mit Strömen von Blut füllen wird! Und das schreckt mich nicht, ruhig ergebe ich mich in alle Konsequenzen, und finde an diesem heißpulsierenden Leben eine ebenso tiefinnere Freude, wie Sie. Zum ersten Male seit der dumpfen Betäubung, in die das Kaiserreich Frankreich versenkt, seit dem fruchtlosen Aufflammen während der Belagerung empfinde ich das berauschende Bewußtsein, voll und ganz zu fühlen und zu handeln. Nur frage ich mich, ob ich mit eben diesem Ungestüm unserer Sache diene, ob ich nicht vielmehr damit den Fortschritt aufhalte ... Ich frage mich, ob wir dem höheren Sinne der Revolution getreu handeln, ob wir nicht den Weg verrammelt haben, statt ihn zu ebnen. Unterliegen wir, so ist es die Vergangenheit, die alles löst und bedeckt ...«
Levidoff zuckte die Achseln und sprach leise mit seiner ruhigen, tonlosen Stimme. Das Gesicht blieb unbewegt, nur die breiten Nasenflügel bebten. Obgleich er jünger als Dury schien, lag doch in seiner frühreifen Kälte eine absolute Sicherheit. Seine slavische Intelligenz, die sich im Jünglingsalter schon dank einer ungeheueren Belesenheit Künste und Wissenschaften angeeignet hatte, drang, an reine Spekulationen und den Gebrauch der verschiedenen Philosophien gewohnt, bis auf den streng logischen Grund der Ideen. Es galt, reinen Tisch zu machen, bevor man mit dem Neubau beginnen konnte.
»Kind!« sagte er. »Was gilt ein, was gelten tausend Menschenleben? Ein Erdbeben wird kommen und die Erschütterung wird so lange dauern, bis das alte Gebäude zusammenstürzt. Sehen Sie, es gibt ein höheres Gesetz, dem nichts sich entziehen kann, dem Menschen und Dinge sich beugen müssen. Das ist die Bewegung, das aus dem Tode neuerstehende Leben, das langsame, aber stetige Drängen der Menschheit nach einem gerechteren, brüderlicheren Ideal ... Die Leute der Vergangenheit sagen: Ebbe und Flut, Stagnation, es gibt keinen Fortschritt, nicht einmal in der Wissenschaft ... Selbstsüchtige Lügen! Blasphemien! ... Es gab eine Zeit, da tief unter dem Menschen der Sklave stand! Und die Welt ist fortgeschritten seit der Zeit, da in Ninive Hunderte von menschlichen Lasttieren unter Peitschenhieben die riesigen Granitblöcke, die gigantischen geflügelten Stiere schleppten ... Wie die Demokratie immer höher steigt, so wandelt sich und schafft die Wissenschaft. Eine immer größere Anzahl von Menschen gelangt zur Bildung, zum Wohlstand. Eines Tages werden diese Privilegien das Los aller sein ... Dann wird es keine Kirchen und keine Könige mehr geben ... Die Gewissen werden von allem Zwang befreit sein ... Die Herrschaft der Gerechtigkeit wird der Herrschaft der Gewalt folgen. Um dieses Ziel zu erreichen, schnell zu erreichen, gilt es, zu wagen. Die gewaltsamste Tat ist die beste. Je stärker der Stoß, je mehr werden wir den Zusammensturz der alten Gesellschaft mit ihren egoistischen Sitten, ihren veralteten Gesetzen beschleunigen.«
So plauderten die beiden miteinander mit dem Vertrauen und der Begeisterung ihrer Jugend. Und Dury ließ sich von der ernsten Überzeugung dieses Revolutionärs mit fortreißen, der, von hoher Geburt und großem Vermögen, alles verließ, um in die Reihen dieser Männer aus dem Volke zu treten, das so verschieden war von ihm und seiner Rasse, diesem tragischen Heute sich zu weihen, dessen Schoße das Morgen ihrer Träume entstehen sollte.
Plötzlich wird das Getrappel herbeieilender Schritte, Geschrei und Zurufe laut. Simon springt auf. Der Leutnant und Levidoff eilen Anatole entgegen, der ihnen von weitem schon zuruft:
»Vater! Die Versailler sind da!«
Atemlos erklärt er: man focht, ohne sich zu sehen. Allmählich jedoch tauchten in den Laufgräben gegenüber der Angriffsfront, bis auf den Friedhof, sich hin und her bewegende Rothosen auf ... Ein Schritt noch, und sie fingen die Garnison wie in einer Mausefalle.
In einer Sekunde verbreitete sich die Nachricht und weckte die Schläfer. Aus den Winkeln der Trümmer, aus den Kasematten, in denen der Generalstab sich verborgen hielt, stürzten drängend und kopflos die Leute herbei. Und plötzlich gab es für diese dreihundert erschöpften, von Ermattung und Fieber trunkenen Leute keinen Führer mehr, dessen Stimme sich hätte Gehör verschaffen können. Die einen schrien Verrat, die andern wollten, daß man sich zur Wehr setzte. »Nur zu!« schrie einer. »Daß wir diesen Wilden in die Klauen fallen! Ich habe keine Lust, mich wie ein Hund totmachen zu lassen!« ... Man erinnerte an die drei Gefangenen, die neulich, bei Belle-Epine, auf der Stelle von einem Offizier durch Revolverschüsse niedergestreckt worden waren. Das wirkte beruhigend auf einige. Vergeblich erließ Dury, von den Simons, Levidoff und Pontois umgeben, seine Befehle. Man suchte nach Mégy, jedermann wollte raten. Der Leutnant befahl den Geniearbeitern, ihre Werkzeuge zur Hand zu nehmen und einige unbedingt notwendige Reparaturen auszuführen; sie verweigerten den Gehorsam.
Simon wandte sich zu den Gardisten:
»Braucht's denn gar solcher Überlegung, um ein paar Erdsäcke herbeizuschleppen? Vorwärts, Leute, ein Handgriff ...«
Das Beispiel wirkte. Kaum jedoch hatte ein Häuflein Männer einige Säcke auf den Rücken geladen, als eine Gewehrsalve das Geländer wegriß. Auf allen Gesichtern malte sich Furcht und Entsetzen. Aufpasser meldeten, daß die Versailler immer näher rückten. Sie wandten sich der Seine zu, um die Festung zu umzingeln. Unter Streitigkeiten, unter dem Fassen und Verwerfen aller möglichen Entschlüsse verging die Zeit. Ein Artillerist wurde von einer Kugel am Kopfe getroffen, als er eben im Begriff war, ein in den Trümmern einer Schießscharte stehen gebliebenes Geschütz zu richten, und fiel wie ein Stück Holz um. Das erhöhte noch die Panik. Umsonst verschwendete Levidoff Bitten und Vorwürfe, die Entscheidung war unwiderruflich.
Nach langem, tapferen Widerstande, der tausendmal dem Tode getrotzt hatte, gaben die Nerven plötzlich nach. Trotz Durys Vorstellungen schürte die Kompagnie der Simons die Tornister und rangierte sich, ihre Gewehre ergreifend, hinter den Trümmern einer Kaserne, um zum letzten Male Rat zu pflegen. Einer der Leute, Rougeard, der verschwunden war, erschien wieder:
»Man räumt die Festung. Befehl des Kommandanten Mégy. Die Marinesoldaten verstopfen die Kanonen.«
Louis tauschte mit seinem Vater einen schmerzlichen Blick und sagte leise:
»Man hat getan, was man konnte. Hier können wir nichts mehr helfen. Wir müssen jetzt an die Frauen denken, die unser bedürfen!«
Düster schweigend, stimmte Simon zu. Der Lärm schwieg jetzt, es war totenstill geworden.
Als um elf Uhr die letzten Männer der Besatzung längs des Querwalles, gegen den das Feuer nun mit verdoppelter Gewalt wütete, abmarschierten, fanden sie unter dem Nordtor zwei Burschen in hitzigem Streit. Die Simons, die sich bis zum letzten Augenblicke nützlich erweisen wollten, hatten, als man davon sprach, die Festung ln die Luft zu sprengen, die Pulverfässer herbeirollen geholfen; eines derselben hatte man aufs Geratewohl unter der Wölbung liegen lassen. Dann entfernten, als die Kompagnie abrückte und Mégy verschwunden war, auch sie sich, von der Panik mitgerissen, die Tapfere und Feiglinge bis zu den Toren der Befestigungen trieb, andere in die Häuser und Gärten von Issy drängte, wo zerstreute Bataillone sich noch hielten.
Der alte Simon und Louis waren kaum bis zur Kirche gelangt, als sie Anatoles Verschwinden bemerkten; sie wandten sich zurück, als sie ihn von ferne kommen sahen, von Dury geführt und sich schnäuzend, um seine Tränen zu bemänteln.
»Er wollte,« erklärte Dury, »mit seinem Kameraden, dem kleinen Dufour, zurückbleiben, um beim Eindringen der Versailler das Pulverfaß anzuzünden. Sie rauften sich um die Ehre, die Lunte in Brand stecken zu dürfen. Dufour sagte: »Du hast Eltern« ... Und da führe ich einen fort. Der andere ist mir zwischen den Fingern durchgerutscht.«
Ohne den Dank abzuwarten, wandte sich der junge Mann und kehrte in die Festung zurück, wo Levidoff hartnäckig durch die Keller streifte, um, die Minenkammern zu suchen.
Dieser regnerische Sonntag war einer der melancholischsten, welche Poncet in dieser langen Reihe trauriger Sonntage verlebt. Er war als einer der ersten in der Rue de Wagram gewesen, um Thiers' Antwort an die Parlamentäre der Freimaurerschaft zu erfahren, und war von der Nachricht ihrer Niederlage nicht überrascht gewesen. Innerhalb weniger denn fünf Minuten hatte der Chef der Exekutivgewalt sie abgewiesen, denselben Abend noch sollte das Feuer gegen Neuilly wieder aufgenommen werden. Bangen Herzens und von Sorge um den Sohn erfüllt, den er so gerne in Sicherheit gewußt hätte, war Poncet hierauf zu Thédenat gegangen, wo er seine Frau vorfand. Es war ein trübseliges Frühstück gewesen, das die vier in dem traulichen kleinen Speisezimmer vereinigte.
Als Thédenat und Poncet sich in den Hof des Louvre begaben, wo die Allianz der Departements in einem großen Meeting ihre Zugehörigkeit zur Kommune manifestieren sollte, rieselte ein feiner Regen herab. Unbestimmte, unheilvolle Gerüchte, von erregten Gruppen kolportiert, verbreiteten die Nachricht von der Räumung von Issy.
»Das ist der Anfang des Endes«, sprach Thédenat. »Wenn die munizipalen Wahlen heute nicht in ganz Frankreich eine republikanische Richtung einschlagen, so daß Versailles statt eines ohnmächtigen, seinen Zorn reizenden Peitschenhiebes den Keulenschlag empfängt, der seiner Macht ein Ende bereitet, wenn der Kongreß von Bordeaux nicht zustande kommt, ist Paris verloren. Von außen allein kann jetzt noch Rettung und Hilfe kommen. All diese wackeren Leute aus den Departements, die das Bürgerrecht erworben oder durch längeren Aufenthalt Pariser Art angenommen hatten, und die Millière um sich gruppiert hat, bedeuten für die Kommune, und mehr noch für ihre legitimen Prinzipien bis für ihre zusammengestückelte Macht, eine vergebliche Hilfe. Eine rührende, aber fruchtlose Hingebung! In den Augen von Versailles sind sie verdächtig, im voraus verurteilt: ein Haufen von Narren mehr im Käfig.«
Poncet schüttelte den Kopf: auch jene vermochten nichts in dieser Sache! Er betrachtete mit Thédenat den geräumigen Hof, in dessen Mitte, über den fünf- oder sechstausend Provinzialen, auf einer roten Tribüne das Komitee der Allianz thronte. Etiketten an den Hüten, irrten Leute durch die Gruppen, nach den Weisungstafeln suchend, welche in großen Buchstaben die korrespondierenden Namen trugen: Vendée, Savoyen, Aveyron, Nièvre. Man sah in dem einer Riesenlandkarte vergleichbaren Hof des Louvre die Bürger sich, in Departements geteilt, auf ihren geographischen Plätzen gruppieren. Ein Miniaturbild Frankreichs. Schwach klangen die Reden durch den weiten Raum. Der Regen schwemmte die großherzigen Worte weg.
Als die Manifestanten sich nach dem Rathause zu in Bewegung setzten, Nationalgardepiketts und rote Fahnen an der Spitze, prasselte der Regen in Strömen nieder. Poncet und Thédenat suchten in einem überfüllten Kaffeehaus Schutz.
Wie an einem gewöhnlichen Sonntag verschleierte dichter Tabaksqualm die hohen Fenster und Spiegel. Kellner eilten vorbei, schäumende Bierkrüge in den Händen balancierend. Die Unterhaltung nahm ihren gewohnten Gang. Während viele politische Gespräche führten und die letzten Dekrete der Kommune kommentierten, saßen die meisten, friedlich scherzend, an den Spieltischen und vergnügten sich bei Ramsch oder Manille oder legten lachend die harmlosen Dominosteine.
Ein Mann mit dickem Hängebauch, dessen Finger mit einer dicken, über der Weste prangenden Goldkette spielten, lobte mit wichtiger Miene Avrials Gesetzentwurf (Zurückstellung sämtlicher Gegenstände unter dem Wert von zwanzig Franks durch die Pfandleihanstalt), den Erlaß, welcher den Brotherren die Einziehung von Strafgeldern untersagte, und jenen anderen, der trotz der Reklamationen der in ihrer Arbeit gehinderten Arbeiter selbst alle Nachtarbeit in den Backhäusern untersagte. Als menschenfreundlicher Rentier hielt er sich an die Theorie der Prinzipien, ohne danach zu fragen, ob sie vorteilhaft oder auch nur ausführbar seien.
Ein Anderer äußerte, wahrend er sich die fettglänzende Glatze trocknete, in versteckten Worten – denn man war von Spionen umgeben – seine Entrüstung über die bevorstehende Demolierung der Kapelle Bréa, welche kürzlich beschlossen worden war, während der als einer der Urheber des Mordes von 1848 verurteilte Bürger Nourry so bald als möglich von der Kommune aus Cayenne befreit werden sollte. Poncet und Thédenat blickten sich lächelnd an: mit welch illusorischen Spielereien suchten die Herren von Paris über die Nichtigkeit ihrer Handlungen hinwegzutäuschen!
Sie horchten. Ein langer, dürrer Kerl, eine rechte Don Quichottegestalt, perorierte: Der Bürger Jourde hatte recht daran getan, von den großen Eisenbahngesellschaften die zwei Millionen zu fordern, welche diese dem Staate noch als Rückstand von den Steuern schuldeten.
»Ist denn die Kommune der Staat?« protestierte der Mann mit der Glatze. »Man täte gut daran, die Löhnungskasse zu revidieren! Ich kenne einen Hauptmann, der drei Mann hat und die Löhnung für dreißig bezieht! Es kommen skandalöse Mißbräuche vor; eine große Menge Gardisten treiben einen förmlichen Handel mit ihrer Equipierung und ihren Uniformen, die doch Eigentum des Volkes sind.«
»Man täte besser«, meinte der Don Quichotte und schlug dabei mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten, »den Schwätzer Beslay seines Amtes bei der Bank zu entsetzen und in die Kassen zu greifen ...«
»Ja«, dachte Poncet, »das wäre der Gewaltstreich richtiger Revolutionäre.«
Thédenat und er waren im Interesse des Fortschritts und einer langsamen Entwicklung froh, daß die kleinen Heberts und Marats des Rathauses noch nicht diesen anarchistischen Versuch gewagt hatten, welcher die Adern des Landes geöffnet und es in seinem Herzen, dem Eigentum, getroffen hätte. So hätte man vielleicht, wie eine Partei es in der Presse, im Rat und in den Delegationen verlangte, besonders nach dem 18. März, Versailles terrorisieren und es zu Unterhandlungen zwingen können. Doch um welchen Preis! Glücklicherweise hatte der alte Beslay die unmittelbare Gefahr gezeigt: den Bankerott. Die Bank in den Händen der Kommune, ihr Bargeld konfisziert, das bedeutete nichts anderes, als die totale Entwertung der plötzlich den Markt überschwemmenden Banknoten zu bloßen Papierfetzen, zu Assignaten. Wie hätte man dann die Zahlung der Kriegsentschädigung, die kommerziellen Transaktionen sichern sollen? Dieser Zusammenbruch des öffentlichen Vermögens hätte unfehlbar die Intervention Deutschlands zur Folge gehabt, gegen die Bismarck sich vor kurzem auf der Tribüne des Reichstages gewehrt hatte.
Der Qualm wurde immer dichter, die Reihen der Bierkrüge immer größer, gleichgültig schwirrten die Stimmen durcheinander ... Draußen empfing sie wieder die ewig näselnde Musik der Almosensammler: »Für die Witwen und Waisen, wenn's beliebt!« Man sprach von nichts als von Issy; wie während der Belagerung bei der Nachricht von Le Bourget, zogen Bataillone auf den Place de Greve und forderten mit lautem Ungestüm nähere Aufklärung. Thédenat und Poncet folgten in der Absicht, Jacquenne zu suchen. Sie betraten das Gebäude.
Zur selben Stunde warf sich Cluseret, der bei den kopflosen Nachrichten aus dem Fort, dessen Garnison er unterwegs in voller Auflösung traf, spornstreichs fortgeeilt war, in das Dorf, drängte mit den Resten der Bataillone Wetzel die Versailler Tirailleure zurück und drang bis zu den Laufgräben vor. In Zivilkleidung und weichem Hut warf er seine Befehle zwischen das Gewehrfeuer und gab sich unerschrocken dem feindlichen Feuer preis. La Cecilia und seine Verstärkungen eilten herbei; mit ihrer Hilfe drang der Delegierte in die große, verlassene Ruine, die Versailles, die Gunst des Augenblicks nicht zu nützen verstehend, unbesetzt gelassen hatte. Unter der Wölbung des Tores wartete noch immer der kleine Dufour, auf dem Pulverfasse sitzend und die Streichhölzchen in der Tasche bereit haltend.
Die Festung schien völlig leer, doch nach und nach tauchten aus den Trümmern einige Tapfere auf, unter ihnen Levidoff und Dury, unbeugsame Entschlossenheit in den bleichen Zügen. Allmählich trafen weitere Verstärkungen, sowie die schleunigst vom Rathaus entsandten Kanonen ein und besetzten von neuem die einstürzenden Bastione, das barrikadierte, von Kugeln zerrissene Dorf.
Der Überfall war bereits abgeschlagen, als sein Gegenstoß Paris und das Rathaus in Aufruhr versetzte. Es war wie ein siedender Dampfkessel. Die Empfangsreden, die Dankreden des Komitees der Allianz, das Gemurmel der beunruhigten Bataillone und vor allem der heiße Kampf, der seit zwei Tagen die Meinungen spaltete und der jakobinischen und blanquistischen Majorität die sozialistische Minorität entgegenstellte, füllten die Säle, die Zofe und Treppen mit einem brausenden Durcheinander von Uneinigkeit und Erregung. Poncet und Thédenat, von Gruppe zu Gruppe geschickt, in die Winkel der Säle zurückgedrängt, wohnten in den Kulissen dem Drama bei, das sich hinter der Tür des Sitzungssaales abspielte.
Je schneller die Ereignisse einander jagten, je tiefer ward die Kluft zwischen den beiden Tendenzen, so unlösbar sie auch in gewissen Punkten miteinander verschmolzen waren: einerseits die alten und die jungen Nachahmer des Jahres 1793, trotz des großen offiziellen Manifests Anhänger einer zentralen, dominierenden Gewalt, die alle Gewalttätigkeit besiegen mußte, – andererseits die Sozialisten, zwischen Kommunismus und Altruismus schwankend, weniger exaltiert, von einer Regierung des Volkes durch das Volk, von dem anarchischen Ideal der freien Vereinigung der Gemeinden träumend. Unter den ersteren Weißbärte aus dem Jahre 48, Delescluze und Pyat, jugendliche Sektierer wie Rigault und Grousset, die Unwissenden der Klubs und der Bataillone.
Alle einmütig bereit, sich auf jene zu stürzen, die bei der ersten, dann bei der zweiten exekutiven Kommission die Stange gehalten hatten und noch hielten, um sich gegenseitig der Schwäche und der Unfähigkeit zu beschuldigen, wenn sie sich nicht, wie Vermorel und Pyat, in persönlichen Streitigkeiten zersplitterten; alle das Schiff unter sich krachen fühlend, der nach einem Retter, jener nach einem politischen Heilmittel suchend. Seit dem 28. disputierte man in geheimem Komitee über Miots Vorschlag: Gründung eines Komitees des öffentlichen Wohles. Tags vorher hatten die Delegierten der Ministerien, Cluserets und seiner Nonchalance überdrüssig und erschreckt über das Überhandnehmen der militärischen Desorganisation, Rossel zu sich beschieden und ihn über die Lage und seine Meinung befragt. Von der ruhigen Klarheit seiner Antworten begeistert, hatten sie beschlossen, ihn zum Nachfolger Cluserets zu ernennen.
In dem steinernen Bienenstock, in dem die Lampen angezündet worden und die fieberhafte Geschäftigkeit dieses scheidenden Tages herrschte, erkannten Thédenat und Poncet an dem Zuschlagen der Türen, dem wüsten Stimmenlärm und dem aufgeregten Kommen und Gehen den dumpfen Nachhall der Ereignisse. Sie sahen Pindy, den Kommandanten des Rathauses, vor der Tür des Sitzungssaales Cluseret verhaften; er zeigte ihm eine unterzeichnete Ordre und führte ihn, der von der Wiedereinnahme von Issy noch ganz staub- und kotbedeckt war, inmitten eines Piketts von Nationalgardisten fort. Sie wußten bereits, daß Rossel am Nachmittag seine Ernennung zum Kriegsdelegierten angenommen hatte. Ohne Jacquenne angetroffen zu haben, verließen sie das Gebäude, von dem Schauspiel, das sich dort vor ihnen abgespielt hatte, peinlich berührt. Alles kündete eine neue Phase. In dem Anfall eines hitzigen Fiebers glich die Kommune jenen Kranken, welche Heilung zu finden hoffen, wenn sie die Ärzte und die Arzeneien wechseln.
Dunkel lagen die Quais und die Brücken; in den spärlichen Kandelabern blinzelten die kleinen gelben Lichter. Durch die feuchte Luft drang dumpf und traurig der Lärm der Kanonade gegen Süden und Westen hin. Von den Ternes und dem Etoile her war der Himmel von Feuerschein gerötet. Angstvoll befragten sich die in Gruppen sich sammelnden Leute. Unheilvolle Gerüchte schwirrten durcheinander: »Die Granaten haben den Brand entzündet. Die Versailler haben das Feuer gegen Neuilly wieder begonnen. Die Freimaurer haben bei Anbruch des Abends fast alle ihre Banner weggenommen. Neue Verstärkungen besetzen Issy ...« Der Widerschein brennender Häuser tauchte den nächtlichen Himmel in blutigen Purpur. Immer noch donnerten die Kanonen ... Mit einem schweigenden Händedruck trennten sich die beiden Freunde.