Niklaus Manuel
Die Totenfresser
Niklaus Manuel

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5. Angebliche und wirkliche reformatorische Dichtungen Manuels vor 1523.
Der »Traum« von 1522.

Daß allerdings reformatorischer, kritischer Geist, in dem gelegentlich auch »Entrüstung den Vers gebar«, schon vor den ersten Berner Reformationswehen von 1523 die leidenschaftlich und dichterisch erregbare Seele des Malers und Kriegers Manuel erfüllte, läßt sich leicht denken und es ist uns davon auch ein vollgültiges poetisches Denkmal geblieben. Wir meinen nicht die Verse zu dem einst berühmten Totentanz, welchen Niklaus Manuel schon um 1518 an die Innenmauer des Predigerkirchhofs für die Insassen des Klosters und für die ihnen gewogenen Bürger Berns gemalt hatte und worin seither nur protestantische Verbohrtheit, die schon in dem jungen Künstler Manuel den schneidigen Pfaffenfeind sehen wollte, weil 23 Jahre nach seinem Tode ein beschränkter Schulmeister die Bilder der vom Tode geholten geistlichen Herren und Frauen in seinen holprigen Reimen so auslegte, den Ausdruck »ingrimmigen Hasses gegen die versunkene Klerisei« erblicken konnte: erst vor zwanzig Jahren hat Adolf Fluri (im Berner Taschenbuch 1901) ihr und uns den Star gestochen. Auch das erste uns erhaltene Gedicht Manuels, das derbe Spottlied auf die übermütigen Sieger von Biccocca, die deutschen Landsknechte, ist noch kein Erzeugnis und Zeugnis des Reformationskämpen Manuel, vielmehr nur eine kräftige Äußerung des Ärgers über die erlittene Niederlage, die lediglich auf die damals noch wenig gebräuchlichen Grabungs- und Deckungsarbeiten des Feindes zurückgeführt wird. Dagegen ist die wenig später – wahrscheinlich auf dem Heimweg aus Italien – entstandene Dichtung Manuels »Ein Traum« eine heftige dichterische Absage an die verhängnisvoll gewordene XXIX kriegerische Politik der Zeit, wie sie für ihn hauptsächlich in der Person des kürzlich verstorbenen Papstes Leo verkörpert ist und, wie er glaubt, auch künftig, wenn Gott nicht ein Einsehen tut, durch den päpstlichen Stuhl zum Verderben der Welt wird betrieben werden. Niklaus Manuels »Traum«, offenbar zunächst nur für den engeren Kreis der Waffengenossen und Freunde des Dichters bestimmt, und ungewollt durch einen derselben uns handschriftlich erhalten, ist ebenfalls durch den Fund Fritz Burgs uns wiedergeschenkt worden. Das Gedicht ist eine bilderreiche Betrachtung der Zeitereignisse, ein prophetisches Gesicht vom Weltkrieg und vom Papst und Kardinal, gerichtet gegen den Urheber der ganzen heillosen Verwirrung der jetzigen Welt, der samt seinem ersten Würdenträger mit Segnen und Fluchen, mit Verführung und Bestechung die Christenheit in zeitliches und ewiges Verderben geführt hat: des Papstes in Rom.

Am 1. Dezember 1521 war der streitbare Mediceer Leo X. gestorben; der päpstliche Stuhl, auf den statt des anfänglich in Aussicht genommenen Wallisers Schinner der in Spanien weilende Niederländer Hadrian berufen war, stund noch unbesetzt. Leo war es gewesen, der seit 1517 einen Tetzel und einen Samson als Ablaßkrämer ausgesandt, der neulich seine aus aller Welt geworbenen Scharen als Bundesgenosse des Kaisers dem Heere des Königs Franz und der mit ihm verbündeten zwölf eidgenössischen Orte entgegengestellt hatte. Nach viel verursachtem und erlittenem Kriegselend sind nun die Schweizer auf dem Heimwege. Da hat unser Maler und Dichter, den die Betrachtung der allgemeinen Verwirrung lange im nächtlichen Feldlager wachgehalten, einen Traum. Der Papst mit seinem großen Buch (den päpstlichen Dekretalien) führt Kampf gegen das kleine Buch (das Evangelium) und betrügt mit seinem Kardinal (Schinner) XXX einen großen Teil der Christenheit. Aber er macht diese durch seine ewigen Kriege unglücklich. Ob der richtenden Stimme Gottes und dem Abfall des Volkes stirbt der Papst eines jähen Todes. An der Himmelspforte, die er vergeblich mit seinen Schlüsseln zu öffnen versucht, wird er abgewiesen zusamt seinen Anhängern, die ohne Erfolg auf seine Ablaßbriefe pochen und diese dann auf die unsauberste Art behandeln. Nun wendet sich der »gekrönte Hut«, der »Schelm von Rom« nach der Hölle, wo man beschließt, ihn auf die Erde zurückzusenden, da er dort der beste Helfer des Teufels ist und nunmehr zwischen Frankreich, dem Kaiser, der Eidgenossenschaft und Venedig Streit erregen soll. Der Papst aber wendet ein, es sei droben schon einer da, sein Werk weiterzutreiben, und wird auf seine dringliche Bitte mit seinen Schafen von seinem Herrn, dem Teufel Lucifer, zu Gnaden angenommen. – Der Dichter erwacht vom Traum und wendet von der Welt und von der Hölle seine Gedanken dem Himmelreich zu, wo er neben dem Herrn die Himmelskönigin unter lobsingenden Engeln thronen sieht. Jetzt hört er ein Maultier schellen, einen Hahn krähen, seinen Hund bellen; er findet sich im Harnisch auf dem harten Boden liegen, neben ihm sein Bube, sein Roß und etliche große Kürißpferde, und die Läuse beißen ihn grimmig. Er erseufzt in Sehnsucht nach dem Himmelreich und wünscht von der Erde zu scheiden und durch Christum selig zu werden.

So der »Traum« Manuels von 1522, wie er in einer seinerzeit wahrscheinlich dem Büchsenmeister Fabian zu Bern gehörigen Abschrift uns ziemlich vollständig erhalten und erst vor siebenzehn Jahren aus der Hamburger Stadtbibliothek wieder ans Licht gezogen worden ist. Das ursprünglich wohl etwa 1000 Verse lange Gedicht ist in einer sonst bei Manuel nicht vorkommenden Form, in regelmäßigen iambischen und kreuzweise gereimten Zeilen XXXI geschrieben, hat aber trotzdem zweifellos ihn zum Verfasser. Unter einer Anzahl »Schimpfschriften«, die er i. J. 1529 sich brieflich von Zwingli zurückerbat, nennt er selbst einen »Traum«, offenbar als ein Werk seiner Feder; das eines Andern von 1522 hätte er kaum noch kurz vor 1529 dem Reformator zu lesen gegeben. Entstanden ist das Gedicht während des zwischen dem Tode Leos im Dezember 1521 und dem Regierungsantritt Hadrians VI. im folgenden August liegenden päpstlichen Interregnums auf einer Kriegsfahrt, und zwar, nach der gedrückten Stimmung und der anschaulichen Schilderung der Kriegsgreuel zu schließen, eher auf dem Rückzug aus Italien als auf der Hinreise, also im Mai 1522.

Erwachsen unter den großen politischen Ereignissen der Zeit, die sich in der Seele eines nahe Beteiligten aufs Lebendigste spiegeln, ist das Gedicht eine der merkwürdigsten Urkunden der Zeitgeschichte sowohl als der kräftigen Eigenart Manuels.


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