Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Jahre sind dahingegangen – zahlreiche, aber kurze Jahre, denn sie haben sich aus lauter schönen, glücklichen Tagen aneinandergereiht.
In diesem Augenblick wohne ich in England in Milliganpark, der alten Burg meiner Väter.
Der heimatlose, verlassene Knabe, der jedem Zufall preisgegeben, ohne Leitstern in das wilde Meer des Lebens hinausgeschleudert worden war, hat jetzt nicht nur eine Mutter, einen Bruder, die er liebt, und von denen er geliebt wird – er hat auch Ahnen, die ihm einen in seinem Vaterland geachteten Namen und ein schönes Vermögen hinterlassen haben.
Der arme Tropf, der als Kind in Scheunen, Ställen oder im Freien in Feld und Wald hat übernachten müssen, ist jetzt der Erbe eines alten, historischen Schlosses, das von den Fremden besichtigt und in den Reisehandbüchern besonders gerühmt wird.
Etwa zwanzig Meilen westlich von dem kleinen Ort, wo ich mich, verfolgt von den Dienern der Gerechtigkeit, einschiffte, erhebt sich das Haus meiner Väter auf halber Höhe eines Berges, der ein kleines, trotz der Nähe des Meeres schön bewaldetes Thal beherrscht. Es steht auf einem freien Platz, hat die Gestalt eines Würfels und ist an jeder seiner vier Ecken mit einem großen runden Turm versehen. Die beiden nach Süden und Westen gelegenen Seiten des alten Gebäudes sind von Glycinen und Kletterrosen umrankt, während die Nord- und Ostseite von Epheu überwuchert werden, dessen Stämme so dick als der Leibesumfang eines Mannes aus der Erde Hervorkommen und sein hohes Alter bekunden; die Gärtner müssen viele Sorgfalt darauf verwenden, daß der üppige Wuchs dieser Ranken die Arabesken und Laubgewinde nicht ganz bedecken, die kunstvoll in die weißen Steine der Fenstereinfassungen und Fensterkreuze gehauen sind. Ein riesiger Park umgibt das Schloß: er steht voll alter Bäume, die nie von Axt oder Messer berührt worden sind, und wird von schönen, silberklaren Bächlein durchrieselt, denen die Wiesen ihr saftiges Grün zu verdanken haben. In den großen, uralten, ehrwürdigen Buchen nisten Krähen, die mit ihrem Gekrächze den Beginn und das Ende des Tages verkündigen.
Das ist das alte Schloß Milliganpark, das ich mit meiner ganzen Familie, mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Frau bewohne.
Während der sechs Monate, die wir hier hausen, habe ich gar manche Stunden in dem alten Archiv verbracht, wo ich über einen großen, vom Alter geschwärzten Eichentisch gebeugt, mit Schreiben beschäftigt bin. Indessen sind es nicht die hier verwahrten alten Urkunden und Familienpapiere, die mich hier festhalten, sondern es sind meine Erinnerungen, die ich ordne und zusammenstelle.
Wir stehen vor der Taufe unsres Sohnes, des kleinen Mattia, und diese Festlichkeit wird in dem Hause meiner Väter alle meine Freunde aus den bösen Tagen vereinigen, und jedem von ihnen will ich als Zeichen der Dankbarkeit für die Liebe, die sie dem armen verlassenen Knaben geschenkt haben, eine Erzählung der Abenteuer und Schicksale verehren, mit denen sie selbst verwoben sind. Sobald ich ein Kapitel vollendet hatte, schickte ich es dem Lithographen in Dorchester, und gerade heute erwarte ich die für meine Gäste bestimmten autographierten Abdrücke meines Manuskriptes.
Diese Zusammenkunft hier ist eine Ueberraschung, die ich ihnen allen, hauptsächlich aber meiner Frau bereite, die ihren Vater, ihre Schwester, ihre Brüder und ihre Tante unerwartet wieder sehen soll. Sie ahnt noch nichts, nur meine Mutter und mein Bruder sind im Geheimnis. Wenn nicht irgend ein unvorhergesehener Zwischenfall unsre Berechnungen zu Schanden macht, werden sie heute nacht unter meinem Dache schlafen und mir wird die Freude zu teil, sie noch heute um meinen Tisch versammelt zu sehen.
Ein einziger freilich wird bei diesem Feste fehlen, denn soweit auch die Macht des Reichtums reicht – sie vermag denen, die nicht mehr sind, das Leben nicht zurückzugeben. Mein lieber, alter Herr, wie glücklich wäre ich gewesen, dir einen ruhigen Lebensabend zu bereiten! Du hättest Pfeife, Schafpelz und Samtrock abgelegt, du hättest nicht mehr zu sagen brauchen: »Vorwärts, meine Kinder!« Du hättest, geehrt und geachtet, dein schönes, weißes Haupt wieder aufrecht getragen und deinen Namen wieder angenommen: Vitalis, der Vagabund, wäre wieder Carlo Balzani, der berühmte Sänger geworden. Aber was der unbarmherzige Tod dir selbst zu erweisen verhindert hat, habe ich wenigstens für dein Gedächtnis gethan, und in Paris auf dem Kirchhof Mont Parnasse steht der Name Carlo Balzani auf dem Grabmal, das dir meine Mutter auf meine Bitte errichtet hat, und deine nach Bildern aus deiner Glanzzeit angefertigte Bronzebüste ruft die Erinnerung an deinen Ruhm bei denen wach, die dir einst Beifall geklatscht haben. Ein Abguß dieser Büste ist für mich gemacht worden und steht hier vor mir; während ich die Erinnerungen an meine ersten Prüfungsjahre niederschrieb, haben meine Augen beim Gang der Ereignisse gar häufig die deinen gesucht. Glaube mir, ich habe dich nicht vergessen und werde dich nie vergessen; wenn ich armes, ausgesetztes Kind auf meiner gefährlichen Bahn nicht gestrauchelt habe und nicht gefallen bin, so habe ich es nur dir, mein alter Herr, nur deinen Lehren und deinem Beispiel zu verdanken, und bei jedem Fest wird dir pietätvoll dein Platz gewahrt bleiben – wohl kannst du mich nicht mehr sehen, aber ich werde dich vor Augen haben.
Aber hier kommt meine Mutter durch die Bildergalerie auf mich zu, und ich sehe sie vor mir so vornehm, so sanft und so gut, wie sie mir erschien, als ich sie das erste Mal unter der Veranda des »Schwan« erblickte; nur der Schatten von Trübsinn, der damals beständig über ihrem Antlitz lag, ist gewichen.
Sie lehnt sich auf Arthurs Arm, denn jetzt ist es nicht mehr die Mutter, die die schwankenden Schritte des Sohnes stützt, jetzt ist es der Sohn, ein schöner, kräftiger, in allen körperlichen Uebungen gewandter junger Mann, der mit liebevoller Aufmerksamkeit seiner Mutter den Arm bietet. Ja, trotz der düsteren Prophezeiung meines Onkels James Milligan ist das Wunder geschehen: Arthur ist am Leben geblieben und wird es auch bleiben.
Einige Schritte hinter ihr sehe ich eine alte Frau in der Tracht einer französischen Bäuerin kommen, die ein ganz kleines, in einen weißen Kaschmirmantel gehülltes Kindchen auf dem Arm trägt; die alte Bäuerin ist Mutter Barberin, und das Kindchen gehört mir, ist mein Sohn, der kleine Mattia.
Nachdem ich damals Mutter Barberin wiedergefunden hatte, wollte ich haben, sie solle bei uns bleiben, aber sie hatte es nicht angenommen.
»Nein,« hatte sie zu mir gesagt, »nein, mein kleiner Remi, im Augenblick ist mein Platz nicht bei deiner Mutter. Du mußt jetzt viel lernen, damit du durch deine Bildung ebensogut ein vornehmer Herr wirst, als durch deine Geburt. Was soll ich dabei thun? Laß mich ruhig nach Chavanon zurückkehren, wir brauchen deshalb doch nicht auf ewig getrennt zu sein. Du wirst groß werden, dich verheiraten und Kinder kriegen, und wenn mir Gott so lang das Leben läßt und du mich haben willst, so komm' ich dann und zieh' dir deine Kinder auf. Ihre Amme kann ich nicht mehr werden, wie ich die deine war, weil ich bis dahin ganz alt sein werde, aber das Alter wird mich nicht hindern, ein Kind gut zu pflegen; man hat Erfahrung, und man braucht nicht mehr viel Schlaf. Und dann werde ich auch dein Kind sehr lieb haben und mir's gewiß nicht stehlen lassen, wie man einstens dich gestohlen hat.«
Es geschah, wie Mutter Barberin es wünschte: kurze Zeit nach der Geburt unsres Kindes holte man sie in Chavanon und sie hat ihr Dorf, ihre Freunde und ihre Kuh – einen Sprößling der unsren – verlassen, um zu uns nach England zu kommen. Unser kleiner Mattia wird von seiner Mutter genährt, aber von Mutter Barberin wird er versorgt, gepflegt, herumgetragen, unterhalten und verwöhnt, und sie erklärt, er sei das schönste Kind, das sie je gesehen habe.
Arthur hält eine Nummer der Times in der Hand und legt es mit der Frage, ob ich es schon gelesen habe, auf meinen Arbeitstisch: als ich verneine, deutet er mit dem Finger auf eine Wiener Korrespondenz und ich lese: »Sie haben in London in Bälde die Ankunft Mattias zu erwarten, denn trotz des unerhörten Erfolges, den seine Konzerte hier gehabt haben, will er uns verlassen, um Zusagen in England nachzukommen, die er nicht brechen will. Von seinen Konzerten habe ich Ihnen schon gesprochen, er hat das größte Aufsehen erregt, sowohl durch seine Kraft und Eigenart als Virtuos, wie auch durch sein Talent als Komponist. Mit einem Wort: Mattia ist der Chopin der Geige.«
Ich bedurfte dieses Artikels nicht, um zu wissen, daß der kleine Straßenmusikant, mein Kamerad und Schüler, ein großer Künstler geworden ist: habe ich ja doch Mattia heranwachsen und sich entwickeln sehen, und wenn er, bei dem Unterricht, den Arthur, er und ich gemeinschaftlich bei unsrem Hauslehrer hatten, auch im Lateinischen und Griechischen keine erklecklichen Fortschritte machte, so leistete er um so mehr bei den Musiklehrern, die ihm meine Mutter hielt. Es gehörte nicht viel dazu zu erraten, daß er die Prophezeiung unsres Freundes Espinassous, des Haarkünstlers und Musikers von Mendes, wahrmachen würde; trotzdem erfüllt mich dieser Wiener Bericht mit stolzer Freude, denn Mattia ist ja mein andres Ich, mein Gefährte, mein Freund, mein Bruder. Seine Triumphe sind auch die meinen, wie ja auch mein Glück das seine ist.
In diesem Augenblick bringt mir ein Bedienter folgendes soeben eingetroffene Telegramm:
»Es mag sein, daß dies die kürzeste Ueberfahrt ist, aber jedenfalls ist sie nicht die angenehmste: ob es angenehme überhaupt wohl gibt? Wie dem auch sei, ich bin so krank gewesen, daß ich erst in Red Hill so viel Kraft finde, Dich zu benachrichtigen. Ich habe Christina auf der Durchreise m Paris mitgenommen, und wir kommen um vier Uhr zehn in Chegford an. Schicke uns einen Wagen.
Mattia.«
Als ich Christina erwähnte, blickte ich Arthur an, aber er wandte seine Augen ab und sah erst wieder auf, als ich mit dem Telegramm zu Ende war.
»Ich habe nicht übel Lust, selbst nach Chegford zu fahren,« sagte er; »ich lasse den Landauer anspannen.«
»Das ist ein ganz vortrefflicher Gedanke, dann sitzt du auf dem Rückweg Christina gegenüber.«
Ohne etwas zu erwidern, verließ er das Zimmer, und ich wandte mich zu meiner Mutter.
»Wie du siehst, macht Arthur kein Hehl aus seiner Empfindung. Das läßt tief blicken.«
»Sehr tief.«
Aus diesen beiden Worten klang mir etwas wie Unzufriedenheit heraus, und ich stand auf, setzte mich neben meine Mutter, nahm ihre beiden Hände in die meinen, küßte sie und sagte in französischer Sprache, deren ich mich immer bediene, wenn ich recht zärtlich, wie ein kleiner Junge, mit meiner Mutter sprechen will: »Liebe, einzige Mama, du mußt nicht betrübt sein, weil Arthur Christina liebt. Es ist ja wahr, diese Liebe wird ihn abhalten, eine ›gute Partie‹ zu machen, was ja nach der Meinung der Welt nur eine Heirat ist, bei der sich Geburt und Reichtum vereinigen. Aber zeigt denn mein Beispiel nicht, daß man sehr glücklich, so glücklich als irgend möglich werden kann, auch ohne daß die Frau, die man liebt, von vornehmer Herkunft ist oder große Reichtümer besitzt? Darf denn Arthur nicht ebenso glücklich werden als ich? Solltest du wirklich die Nachsicht, die du für mich hattest, weil du dem Kind, um das du dreizehn Jahre getrauert hast, nichts versagen kannst, nicht auch für deinen andern Sohn haben? Bist du wirklich gegen einen deiner Söhne gütiger als gegen den andern?«
Sie fuhr mir mit der Hand über die Stirn, küßte mich und sagte: »Ach, der gute Junge, der gute Bruder! Welcher Schatz von Liebe ruht nicht in dir!«
»Natürlich! Ich habe ja einstens so große Ersparnisse gemacht! Aber jetzt handelt es sich nicht um mich, sondern um Arthur. Sag doch 'mal, wo er eine reizendere Frau finden kann, als Christina! Ist sie nicht ein wahres Wunder an Schönheit? Und ist sie nicht, dank der Erziehung, die sie genossen hat, seit wir sie in Lucca geholt haben, in der Lage, sich ihren Platz in der Gesellschaft – und zwar einen hervorragenden Platz in der anspruchsvollen Gesellschaft – zu wahren und würdig auszufüllen?«
»Du siehst in Christina eben die Schwester deines Freundes Mattia!«
»Das ist wahr, und ich gebe ohne Umschweife zu, daß ich von ganzem Herzen eine Heirat wünsche, durch die Mattia in unsre Familie käme.«
»Hat Arthur über seine Gefühle und Wünsche mit dir gesprochen?«
»Ja, liebe Mama,« sagte ich lächelnd, »er hat sich an mich, als das Haupt der Familie, gewendet.«
»Hat ihm seine Unterstützung zugesagt.«
Aber meine Mutter brach die Unterhaltung ab.
»Da kommt deine Frau,« sagte sie; »wir können ein andermal über Arthur reden.«
Meine Frau! Der freundliche Leser hat wohl längst erraten, auch ohne daß ich es sagte, wer sie ist? Meine Frau ist das kleine Mädchen mit den verwunderten Augen und dem ausdrucksvollen Gesicht; es ist Lieschen, das kleine Lieschen, so schön, so anmutig, so duftig als immer. Lieschen ist nicht mehr stumm, aber ihre eigenartige, durchsichtige, fast himmlische Schönheit ist ihr, Gott sei Dank, geblieben.
Lieschen hat sich von meiner Mutter, die sie unter ihren Augen hat erziehen und unterrichten lassen, nie mehr getrennt, sie ist ein schönes junges Mädchen geworden und besitzt in meinen Augen alle denkbaren Vorzüge und Tugenden, denn ich liebe sie. Ich habe meine Mutter gebeten, mir Lieschen zum Weib zu geben, und nach lebhaftem auf die Verschiedenheit der äußeren Verhältnisse gegründetem Widerstand hat sie mir meine Bitte nicht abzuschlagen vermocht, was einige unsre Verwandten sehr geärgert und empört hat. Drei davon sind indessen, durch Lieschens Anmut gewonnen, schon wieder mit uns ausgesöhnt, und der vierte erwartet zu diesem Zweck nur noch einen Besuch von uns, bei dem wir uns entschuldigen wollen, daß wir so glücklich sind, und dieser Besuch ist auf morgen festgesetzt.
»Nun,« sagte Lieschen, als sie eintrat, »was geht denn hier eigentlich vor? Man spricht im Geheimen miteinander; eben fährt Arthur nach Chegford auf die Station, und den Break hat man nach Ferry geschickt. Ich bitte euch, was ist denn das für ein Geheimnis?«
Wir lächelten, antworteten aber nicht.
Nun schlang sie einen Arm um den Hals meiner Mutter, küßte sie liebevoll und sagte: »Da du mit im Komplott bist, liebe Mutter, so bin ich unbesorgt und im voraus überzeugt, daß du, wie gewöhnlich, an unsrem Glück gearbeitet hast. Aber neugierig bin ich deshalb kein bißchen weniger.«
Die Zeit war vorgerückt, und der Break, den ich für Lieschens Familie nach Ferry geschickt hatte, konnte von einem Augenblick zum andern eintreffen. Da ich sie mit ihrer Neugierde ein wenig foppen wollte, nahm ich ein Fernrohr, durch das wir die auf hoher See vorüberziehenden Schiffe zu beobachten pflegten, zur Hand; aber statt nach dem Meer, richtete ich es auf den nach Ferry führenden Weg.
»Sieh nur 'mal durch dies Fernrohr,« sagte ich zu ihr, »dann wird deine Neugier sofort befriedigt sein.«
Wohl blickte sie in das Glas, da aber von dem Break noch keine Spur zu sehen war, sah sie nichts als die weiße Landstraße.
Nun hielt ich mir das Glas vor die Augen: »Wie, du hast nichts erblickt durch dieses Glas?« sagte ich in dem Marktschreierton, mit dem einstens Vitalis das Publikum herbeizulocken pflegte, »und das Glas ist doch von geradezu wunderbarer Güte! Es trägt meine Blicke über Land und Meer, bis hinüber nach Frankreich. Dort sehe ich in der Nähe von Sceaux einen Mann in weißem Haar zwei Frauen drängen, die bei ihm sind. ›So eilt euch doch,‹ sagt er, ›wir werden sicher den Zug versäumen, und dann komme ich zu spät zur Taufe meines Enkels in England; spute dich doch ein wenig, Katharine, ich bitte dich! In den zehn Jahren, die wir jetzt zusammen leben, bist du nicht ein einziges Mal rechtzeitig fertig geworden! Wie? Was sagst du, Etiennette? Du bist eben immer noch das Fräulein Polizeidiener! Ich mache Katharine ja nur ganz freundliche Vorwürfe? Als ob ich nicht wüßte, daß sie die beste Schwester ist, wie du, Tiennette, die beste Tochter von der Welt bist! Wo findet man eine zweite Tochter, die sich, wie du, nicht verheiratet, um den alten Vater zu pflegen, und die auch als erwachsen der Schutzengel bleibt, der sie schon als Kind für ihre Geschwister war?‹ Ehe er geht, erteilt er nun noch seine Anweisungen, damit seine Blumen während seiner Abwesenheit gewiß gepflegt werden: ›Vergiß nicht, daß ich selbst Gärtner war und genau Bescheid weiß,‹ sagt er zu seinem Knecht.«
Nun drehte ich das Glas nach einer andern Richtung und fuhr fort: »Jetzt erblicke ich einen Dampfer, einen großen Dampfer, der von den Antillen zurückkehrt und auf Havre zusteuert. An Bord befindet sich ein junger Mann, der von einer botanischen Entdeckungsreise aus der Gegend des Amazonenstromes kommt und, wie man sagt, eine in Europa noch ganz unbekannte Flora mit heimbringt. Die in den Zeitungen veröffentlichte Beschreibung des ersten Teiles seiner Reise ist sehr interessant. Der Name des jungen Mannes, Benjamin Acquin, ist schon berühmt; für den Augenblick hat er aber nur den einen Gedanken, zu wissen, ob er in Havre das nach Southampton bestimmte Schiff noch erreichen und mit seiner Familie in Milliganpark Zusammentreffen kann. Mein Glas ist vortrefflich – ich folge ihm: er hat das Southamptoner Schiff erreicht – er kommt!«
Wieder verändert das Fernrohr seine Richtung: »Ich sehe nicht nur,« sagte ich, »ich höre auch! Zwei Männer, ein alter und ein junger, sitzen im Eisenbahnwagen. ›Wie interessant diese Reise für uns sein wird,‹ sagte der Alte. ›Sehr interessant, Magister!‹ – ›Nicht nur, daß du deine Familie Wiedersehen wirst, Alexis, und daß wir Remi, der uns nicht vergißt, die Hand drücken dürfen – wir besuchen auch die Bergwerke in Wales. Du kannst dort allerlei Beobachtungen machen und dann bei deiner Rückkehr allerlei Verbesserungen in La Truyère vorschlagen, was die Stellung, die du dir bereits durch deine Arbeit geschaffen hast, noch mehr befestigen und dir noch mehr Ansehen erwerben wird; ich für meinen Teil werde neue Proben heimbringen und meine Sammlung bereichern können, die die Stadt Varses so freundlich angenommen hat. Welcher Jammer, daß Gaspard nicht hat mitkommen können!‹«
Ich wollte fortfahren, aber Lieschen war an mich herangetreten, hatte meinen Kopf in beide Hände genommen und verschloß mir den Mund mit ihren Küssen.
»O, die liebe Ueberraschung!« sagte sie mit bewegter Stimme.
»Du mußt dich bei Mama bedanken, nicht bei mir! Sie hat alle die Menschen hier vereinigen wollen, die gegen ihren verlassenen Sohn so gut und lieb waren, und wenn du mir den Mund nicht geschlossen hättest, würdest du erfahren haben, daß wir auch den wackeren Bob, den berühmtesten Showman Englands, und seinen Bruder, den Kapitän der ›Mondfinsternis‹, erwarten.«
In diesem Augenblick hören wir Räder rollen; gleich darauf auch von der andern Seite her; wir eilen ans Fenster und sehen den Break, auf dem Lieschen ihren Vater, ihre Tante Katharine, ihre Schwester Etiennette und ihre Brüder Alexis und Benjamin erkennt; neben Alexis sitzt ein schneeweißer, ganz gebeugter Greis – der Magister. Von der entgegengesetzten Richtung nähert sich nun auch der offene Landauer, aus dem Mattia und Christina winken. Hinter dem Landauer kommt ein Kabriolett, von Bob selbst gefahren; dieser hat ganz das Aussehen eines Gentleman, während sein Bruder noch immer der rauhe Seemann ist, der uns in Isigny landete.
Rasch eilen wir die Treppe hinab, um unsre Gäste am Fuß der Freitreppe zu empfangen.
Bei Tisch dreht sich die Unterhaltung natürlich um die Vergangenheit.
»Kürzlich traf ich in einem der Spielsäle zu Baden einen Herrn mit spitzen, weißen Zähnen, der trotz seiner Verluste immer lächelte. Er hat mich nicht erkannt und mir die Ehre erwiesen, einen Gulden von mir zu fordern, um ihn nach einer ganz unfehlbaren Berechnung zu setzen; es war eine Art Geschäftsverbindung, hat aber kein Glück gebracht, denn Herr James Milligan verlor.«
»Warum erzählst du denn das vor Remi, lieber Mattia?« sagte meine Mutter. »Er ist im stände und schickt seinem Onkel auch noch eine Unterstützung.«
»Gewiß, liebe Mama.«
»Wo bliebe dann die Sühne?« fragte sie.
»In der Thatsache, daß mein Onkel, der alles dem Reichtum geopfert hat, denen, die er verfolgte, seinen Lebensunterhalt verdanken muß.«
»Ich habe Nachrichten von seinen Mitschuldigen,« sagte Bob.
»Von dem greulichen Driscoll?« fragte Mattia.
»Nicht von ihm selbst, der wohl noch immer jenseits der Meere weilt, aber von der Familie Driscoll. Die Frau ist tot; sie ist eines schönen Tages verbrannt, weil sie sich, statt auf den Tisch, ins Feuer legte, und Allen und Ned sind kürzlich zur Deportation verurteilt worden, und werden also in Bälde ihren Vater wiederfinden.«
»Und Kate?«
»Die kleine Kate versorgt ihren noch immer lebenden Großvater. Sie wohnen miteinander in Red Lion Court; der Alte hat Geld, und sie sind nicht unglücklich.«
»Wenn sie empfindlich gegen die Kälte ist, kann sie mir leid thun,« sagte Mattia und lachte hellauf; »der Alte mag's nicht leiden, daß man seinem Kamin zu nahe kommt.«
Jeder schaltet sein Wort ein, während wir in dieser Weise die Vergangenheit heraufbeschwören. Wir haben ja alle gemeinschaftliche Erinnerungen, und tauschen sie so gerne aus, sie sind ja das Band, das uns verbindet.
Nach Tisch zieht mich Mattia in eine Fensternische und sagt: »Du, ich habe einen Gedanken! Wir haben so oft für Gleichgültige Musik gemacht, daß wir es wohl auch einmal für die thun können, die wir lieben.«
»Gibt's denn für dich noch immer keine Freude ohne Musik? Mußt du sie immer und überall dabei haben? Denke doch auch ein bißchen an die Angst unsrer Kuh!«
»Willst du dein neapolitanisches Lied spielen?«
»Mit tausend Freuden, denn es hat Lieschen die Sprache wiedergegeben.«
Nun ergreifen wir unsre Instrumente; Mattia nimmt aus einem schönen mit Samt ausgeschlagenen Kasten eine alte Violine, um die wir gerne zwei Franken bekämen, wenn wir sie verkaufen müßten, und ich ziehe eine Harfe hervor, deren Holzrahmen durch den Einfluß vieler Regengüsse seine natürliche Farbe wieder angenommen hat.
Man bildet einen Kreis um uns, aber in diesem Augenblick präsentiert sich auch ein Hund, ein Pudel – Capi. Er ist sehr alt geworden, der gute Capi, und er ist auch taub, aber sein gutes Auge ist ihm geblieben; von dem Kissen aus, auf dem er ruht, hat er seine Harfe erkannt, und nun kommt er, eine Untertasse in der Schnauze, zu der »Vorstellung« herbeigehinkt: er will bei dem »verehrlichen Publikum« einsammeln und versucht, auf seinen Hinterpfoten zu gehen; aber die Kräfte versagen ihm, dann setzt er sich und verbeugt sich feierlich vor der »Gesellschaft«, wobei er seine Pfote aufs Herz legt.
Nachdem unser Lied zu Ende ist, erhebt sich Capi und sammelt ein, so gut es eben gehen will. Jeder legt seine Gabe in die Untertasse, und Capi, ganz verwundert über diese Einnahme, bringt sie mir; es ist die schönste, die er je gemacht hat – nichts als Silber- und Goldstücke: hundertsiebzig Franken!
Wie in früheren Zeiten küsse ich ihn auf die Schnauze, und die Erinnerung an damals, wo er mich in meinem Elend tröstete, bringt mich auf einen Gedanken, den ich sofort den übrigen mitteile: »Diese Summe ist die erste Einlage zu der Gründung eines Heims für die kleinen Straßenmusikanten; meine Mutter und ich geben das übrige.«
»Liebe, gnädige Frau,« sagte Mattia und küßte meiner Mutter die Hand, »ich bitte, gönnen Sie mir einen kleinen Anteil an Ihrem Werk! Wenn Sie es gestatten, soll der Ertrag meines ersten Konzertes in London der Einnahme Capis beigesellt werden.«
Ende.
*
Von vorliegendem Roman ist in K. Thienemanns Verlag in Stuttgart eine Ausgabe für die Jugend erschienen unter dem Titel: »Heimatlos«. Nach H. Malots preisgekröntem Roman »Sans famille« für die Jugend bearbeitet. Autorisierte Übersetzung. Ein stattlicher Geschenkband von 331 Seiten mit 50 Text- und 16 Tondruckbildern. 4. Auflage. Elegant gebunden Mk. 6.–