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Tiefe Stille lag über der Grube; kein Ton drang zu uns; ohne eine Welle, ohne ein Plätschern lag das Wasser zu unsren Füßen – die Grube war voll, und wir waren durch das Wasser gründlicher und sicherer abgeschlossen, als durch eine Steinmauer.
Diese Totenstille wirkte weit fürchterlicher als der Höllenlärm, den die einbrechenden Fluten hervorgebracht hatten – wir waren lebendig begraben, und dreißig oder vierzig Meter Erde lasteten auf unsrem Herzen.
Die Arbeit beschäftigt und lenkt ab, die Ruhe dagegen brachte uns unsre Lage erst recht zum Bewußtsein und führte bei uns allen, selbst bei dem Magister, einen Augenblick völligster Mutlosigkeit herbei.
Plötzlich fühlte ich warme Tropfen auf meine Hand fallen – sie entquollen den Augen Carrorys, der stille vor sich hinweinte.
Im selben Augenblick ertönten schwere Seufzer auf der oberen Stufe und es murmelte jemand wiederholt: »Marius! Marius!« Das war Pagès, der an seinen Sohn dachte.
Die Luft war schwer, es sauste mir in den Ohren.
Sei es, daß der Magister diesen Zustand der Betäubung weniger schwer empfand als wir, sei es, daß er dagegen ankämpfen wollte – kurzum, er unterbrach das Schweigen mit den Worten: »Jetzt müssen wir aber auch einmal sehen, was wir an Nahrungsmitteln bei uns haben!«
»Glaubst du denn, daß wir lange hier eingeschlossen bleiben werden?« fragte der Onkel Gaspard.
»Nein, aber man muß doch seine Vorsichtsmaßregeln treffen! Wer hat Brot bei sich?«
»Ich,« entgegnete ich, »ich habe ein Stück Brot in der Tasche.«
»In welcher Tasche?«
»In meiner Hosentasche.«
»Dann ist es jetzt sicher das reinste Mus – aber zeig 'mal her!«
Aus der Tasche, in die ich am Morgen ein schönes, goldgelbes, knusperiges Stück Brot gesteckt hatte, zog ich nun eine Art Brotsuppe hervor, die ich enttäuscht weggeworfen hätte, wenn mich nicht der Magister zurückgehalten und gesagt hätte: »Behalte deine Suppe, denn so schlecht sie auch sein mag, wird sie dir doch in Bälde trefflich munden.«
Das war keine sehr tröstliche Prophezeiung, doch schenkte ihr im Augenblick niemand besondere Beachtung, und erst später fielen mir diese Worte wieder ein und bewiesen mir, daß der Magister sich über unsre Lage und über die Schwierigkeit unsrer Rettung völlig klar war.
»Sonst hat niemand mehr Brot?« fragte er.
Keiner antwortete.
»Das ist sehr bedauerlich,« fuhr er fort.
»Du hast wohl recht Hunger?« sagte Compeyrou.
»Es handelt sich dabei nicht um mich, sondern um Remi und Carrory, die das Brot bekommen hätten.«
»Warum hätte man es nicht unter uns alle verteilt? Das scheint mir ungerecht, denn vor dem Hunger sind wir doch alle gleich.«
»Diese Bestimmung geht nicht von mir aus, sondern sie ist Gesetz. Das Gesetz nimmt an, daß wenn bei einem Unglücksfall mehrere Personen bis zum Alter von sechzig Jahren umgekommen sind, der älteste der Ueberlebende gewesen ist, was heißt, daß Remi und Carrory vermöge ihrer Jugend dem Tod weniger Widerstand entgegensetzen können, als Pagès und Compeyrou.«
»Du selbst, Magister, bist ja über sechzig Jahre alt.«
»Ach, ich komme nicht in Betracht, und bin auch gar nicht gewöhnt, mich so vollzustopfen.«
»Also, wenn ich Brot gehabt hätte,« sagte Carrory nach einem Augenblick des Nachdenkens, »so wäre es für mich gewesen?«
»Für dich und für Remi.«
»Aber wenn ich es nicht hergegeben hätte?«
»So würde man's dir genommen haben – hast du nicht Gehorsam geschworen?«
Lange blieb er schweigend sitzen, dann zog er plötzlich ein Stück Brot aus seiner Mütze hervor.
»Da ist ein Stück!«
»Das ist ja eine ganz unerschöpfliche Mütze!«
»Gebt mir Carrorys Mütze her,« befahl der Magister.
Carrory wollte sich wehren, aber man nahm ihm seine Kopfbedeckung mit Gewalt und reichte sie dem Magister.
Dieser verlangte die Lampe und untersuchte den Inhalt der Mütze, die nicht nur als Speisekammer, sondern auch als Warenlager zu dienen schien, denn außer einer Pfeife und Tabak, einem Stück Bratwurst, drei frischen Nüssen und einer Zwiebel enthielt sie auch einen Schlüssel, ein aus einem Pfirsichkern verfertigtes Pfeifchen und kleine Würfel aus Hammelknochen.
»Das Brot und die Bratwurst werden heute abend zwischen dir und Remi verteilt!«
»Aber ich habe Hunger,« entgegnete Carrory mit weinerlicher Stimme, »ich habe jetzt gleich Hunger.«
»Heute abend wird er noch größer sein.«
»Wie schade, daß der Bursche keine Uhr in seinem Magazin hat, dann wüßten wir, welche Zeit es ist! Meine Uhr ist stehen geblieben!«
»Die meine auch, weil sie ganz naß geworden ist.«
Durch den Gedanken an die Uhr wurden wir in die Wirklichkeit zurückgerufen. Wie viel Uhr mochte es sein? Wie lange befanden wir uns schon in der schwebenden Strecke? Für die einen war es Mittag, für die andern sechs Uhr abends, das heißt also, die einen glaubten schon zehn, die andern erst fünf Stunden hier eingeschlossen zu sein. Im Lauf der Zeit sollte dieser Unterschied noch viel beträchtlicher werden, denn diese Meinungsverschiedenheit machte sich immer wieder geltend.
Wir waren nicht in der Stimmung, unnütz zu sprechen, und nachdem die Zeitfrage hinlänglich erörtert worden war, versanken wir alle in tiefes Schweigen und hingen unsern wenig erfreulichen Gedanken nach.
Trotz der Entschiedenheit des Magisters war ich von unsrer Rettung keineswegs überzeugt; ich hatte Angst vor dem Wasser, vor der Dunkelheit und dem Tod; die Stille ringsum drückte mich nieder, die ungleichmäßigen Wandungen der schwebenden Strecke lasteten so schwer auf mir, als wollten sie mich zermalmen. Also sollte ich Lieschen, Etiennette, Alexis und Benjamin nicht Wiedersehen? Wer sollte die Verbindung zwischen ihnen herstellen, wenn ich nicht mehr war? Und auch von Arthur, Frau Milligan und Mattia sollte ich für ewig geschieden sein? Würde man Lieschen je verständlich machen können, daß ich für sie gestorben war? Und Mutter Barberin, arme, liebe Mutter Barberin! So reihten sich meine Gedanken in trauriger Folge aneinander, und ein Blick auf meine Gefährten verriet mir von Zeit zu Zeit, daß ihre Betrachtungen die nämliche Richtung nahmen, wie die meinen, und doch waren sie an das Leben in der Grube gewöhnt und litten deshalb nicht unter dem Mangel an Luft, Sonnenschein und Freiheit!
Plötzlich ließ sich die Stimme Onkel Gaspards vernehmen: »Mir scheint,« sagte er, »daß man nicht an unsrer Rettung arbeitet.«
»Warum glaubst du das?«
»Wir hören nichts.«
»Vielleicht ist die ganze Stadt durch ein Erdbeben zerstört oder denken sie über Tage, wir seien doch alle verloren und es lasse sich nichts für uns thun.«
»Wie könnt ihr denn so etwas von euren Genossen denken,« antwortete der Magister vorwurfsvoll. »Ihr wißt doch, daß die Grubenarbeiter einander bei Unglücksfällen nie im Stich lassen und Leib und Leben einsetzen, um den Genossen zu retten. Oder wißt ihr das etwa nicht?«
»Das ist wahr.«
»Wenn das wahr ist, müßt ihr es auch glauben, wenn wir hier nichts hören; sie brauchen doch auch Zeit, die Rettungsarbeiten einzuleiten, und außerdem wissen wir ja gar nicht, wie's droben aussieht. Ich behaupte nicht, daß wir gerettet werden, aber ich behaupte, daß man an unsrer Rettung arbeitet.«
Er sagte dies in so energischem Ton, daß er hätte die Ungläubigsten und Aengstlichsten überzeugen müssen; gleichwohl entgegnete Bergounhoux: »Und wenn man uns für tot hält?«
»So wird trotzdem gearbeitet! Uebrigens können wir ihnen ja beweisen, daß wir am Leben sind; wir dürfen nur an die Wandung klopfen, so stark wir irgend können, dann pflanzt sich der Schall durch die Erde fort, und wenn man uns hört, so weiß man, daß Eile not thut, und außerdem gibt das Geräusch die Richtung an, in der gearbeitet werden muß.«
Ohne lange zu zögern, fing Bergounhoux, der große, schwere Stiefel trug, an, aus Leibeskräften das Signal zum Sammeln der Grubenarbeiter zu klopfen, und dieses Klopfen riß uns aus unsrer Betäubung auf. Würde man uns hören und uns antworten?
»Nun, Magister,« begann der Onkel Gaspard wieder, »und was thut man zu unsrer Rettung, wenn man uns hört?«
»Man kann zweierlei thun, und ich bin überzeugt, daß die Steiger beides versuchen: Einen Schacht niederbringen, um auf unsre schwebende Strecke zu gelangen, und das Wasser auspumpen.«
»O, einen Schacht niederbringen!«
»O, das Wasser auspumpen!«
Diese Unterbrechungen brachten den Magister aber gar nicht aus der Fassung.
»Wenn wir es nun, wie ich glaube, nur mit einer Ueberschwemmung zu thun haben, so können wir, falls eine Reihe günstiger Vorbedingungen eintreffen und zusammenwirken – schon in acht Tagen befreit werden, da wir uns ja auf der ersten Sohle befinden und gar nicht alles Wasser ausgepumpt zu werden braucht, um zu uns zu gelangen.«
Nun entstand eine lebhafte Erörterung über das Für und Wider dieser Behauptung. Unterdessen hing ich meinen eigenen Gedanken nach.
Acht Tage! Acht Tage sollten wir hier lebendig begraben bleiben! Wohl hatte uns der Magister von Bergleuten erzählt, die vierundzwanzig Tage verschüttet gewesen waren, aber das war doch nur eine Geschichte, während unser Fall eine wirkliche Thatsache war. Dieser Gedanke hatte sich meiner so völlig bemächtigt, daß ich kein Wort von der Unterhaltung der andern mehr vernahm und erst durch einen Ausruf Carrorys aus meinen Gedanken aufgeschreckt wurde.
»Horcht,« rief dieser, bei dem die tierischen Fähigkeiten weit mehr entwickelt waren, als bei uns, weil er beinahe auf einer Stufe mit dem Tiere stand.
»Was ist denn?«
»Man hört etwas im Wasser.«
»Du wirst einen Stein ins Rollen gebracht haben.«
»Nein, es ist ein dumpfer Ton.«
Wir lauschten alle, aber obgleich ich ein scharfes Ohr für die Geräusche des Lebens und der Erdoberfläche hatte, vernahm ich nichts; meine Kameraden, der unterirdischen Töne mehr gewöhnt, waren glücklicher als ich.
»Ja,« sagte der Magister, »im Wasser geht was vor.«
»Was denn, Magister?«
»Das weiß ich nicht.«
»Zuströmendes Wasser.«
»Nein, es ist kein anhaltendes Geräusch; es kommt stoßweiße und regelmäßig.«
»Stoßweise und regelmäßig! Kinder, dann sind wir gerettet! Das sind die Pumpen in den Schachten!«
»Die Pumpen in den Schachten!« Einstimmig wiederholten wir diese Worte und sprangen wie elektrisiert in die Höhe.
Nun befanden wir uns nicht mehr vierzig Meter unter der Erde, die Luft war nicht mehr zusammengepreßt, die Wandungen der schwebenden Strecke lasteten nicht mehr auf uns, das Ohrensausen hatte aufgehört, wir atmeten frei – wir waren trunken von Hoffnung und Freude.
Aber ach, unsre Hoffnung sollte sich nicht so schnell und nicht für uns alle erfüllen! Ehe wir wieder im Sonnenschein wandelten und den Wind in den Blättern rauschen hörten, mußten wir noch viele lange, qualvolle Tage, Tage der peinigendsten Angst und des Leidens in unsrem unterirdischen Gefängnis verleben.
*
Als wir am Montag morgen eingefahren waren, hatten sich dunkle, drohende Wolken am Himmel zusammengeballt, und gegen sieben Uhr war ein furchtbares, von einer wahren Sündflut begleitetes Gewitter zum Ausbruch gekommen. Die tief herniederhängenden Wolken hatten sich in dem Thalkessel gefangen und ergossen nun alles, was ihr Schoß an Regen barg, über das Thal; das war kein Platzregen, kein Wolkenbruch mehr, das war ein Wasserfall, eine Sündflut!
In wenig Minuten schwollen die Divonne und ihre Zuflüsse an, was leicht begreiflich erscheint, denn von einem steinigen Boden wird das Wasser nicht aufgesaugt, sondern fließt, der Abdachung folgend, dem Fluß zu. Durch das Hochwasser der Divonne zurückgestaut, fanden die Fluten des reißenden Gebirgsbaches La Truyère keinen Abfluß mehr und ergossen sich über das Grubenfeld. Diese Ueberschwemmung kam ganz plötzlich und völlig unerwartet, gleichwohl liefen aber die über Tage mit Auswaschen des Grubenklein beschäftigten Arbeiter, die durch das Unwetter gezwungen waren, sich unter Dach und Fach zu flüchten, keine Gefahr. Es war nicht die erste Ueberschwemmung von La Truyère, und da die Schachtöffnung – Mundloch oder Hängebänke genannt – sämtlicher drei Schächte sich in einer Höhe befand, die das Wasser nie erreichen konnte, hatte man nichts zu thun, als die Haufen aufgeschichteter »Stempel« zu bergen, die zur Zimmerung der Stollen bestimmt und vorbereitet waren.
Damit war denn auch der Obersteiger gerade beschäftigt, als er plötzlich sah, wie sich die Fluten wirbelnd und kreisend in einen Schlund hinunterstürzten, den sie sich gewühlt hatten; dieser Schlund lag am »Zutagestreichen« einer Kohlenader.
Die Fluten stürzen in die Grube, sie wühlen sich ihr Bett in dem Kohlenlager, während sie draußen sinken: die Grube wird überschwemmt, sie füllt sich, die Arbeiter werden ertränkt.
Der Steiger rennt nach dem Sankt Juliansschacht und befiehlt, daß man ihn hinunterlasse, aber im Begriff, in den Hund zu treten, hält er inne. Aus dem Innern der Grube dringt ein entsetzliches Getöse empor – das sind die herniederstürzenden Wasserfluten.
»Fahren Sie nicht ein,« warnen die Männer, die um ihn herumstanden.
»Hier,« sagte er zu einem, »gib diese Uhr meiner Tochter, wenn ich nicht wieder heraufkomme.«
»Vorwärts!« befiehlt er, der »Hund« senkt sich; dann wendet der Steiger nochmals den Kopf zurück nach dem Mann, dem er die Uhr übergeben hat, und sagt: »Sag ihr, daß ihr Vater sie im Geist umarmt!«
Der Hund ist unten angelangt; der Steiger ruft; fünf Bergleute kommen herbei, er schiebt sie in den Hund. Während sie zu Tage gefördert werden, ruft er abermals, aber vergeblich, denn seine Stimme ward durch das Tosen des Wassers übertönt.
Nun dringen die Fluten in die Stollen, und in dem nämlichen Augenblick bemerkt der Obersteiger einige Grubenlämpchen; bis an die Kniee im Wasser, eilt er auf sie zu und führt noch weitere drei Männer zurück. Der »Hund« ist wieder unten angelangt, er heißt die Männer einsteigen und will selbst zurück, den Lichtern entgegen, die er sieht, aber die von ihm geretteten Arbeiter ziehen ihn gewaltsam mit sich und geben das Zeichen zum Auffahren. Es ist höchste Zeit – die Wasser haben alles überschwemmt.
Da dies Rettungsmittel versagt, muß man es mit einem andern versuchen, aber mit welchem? Er hat beinahe niemand mehr zur Hand; hundertundfünfzig Arbeiter sind eingefahren, denn am Morgen waren hundertfünfzig Grubenlampen ausgeteilt worden, von denen sich nur dreißig im Lampenraum wieder vorfanden, also waren hundertundzwanzig Arbeiter in der Grube zurückgeblieben.
Im nämlichen Augenblick, wo der Obersteiger dies feststellt, erfolgen mehrere Explosionen; Erdklumpen und Steine werden zu beträchtlicher Höhe emporgeschleudert: die Häuser wanken wie bei einem Erdbeben – das sind die Gase und die Luft, die durch die Wassermassen in den schwebenden Strecken zusammengepreßt worden sind und nun über den Kohlenlagern, da wo die äußere Erdschicht zu schwach ist, die Erdrinde sprengen; die Grube ist voll, die Katastrophe ist eine vollkommene.
Unterdessen hat sich die Kunde in Varses verbreitet, und von allen Seiten strömt die Menge nach La Truyère: Arbeiter, Neugierige, Frauen und Kinder der ertränkten Bergleute. Sie fragen, suchen, fordern, und da man ihnen nicht zu antworten vermag, gesellt sich zum Schmerz der Zorn. »Man verbirgt uns die Wahrheit! Der Obersteiger ist schuld daran! Tod dem Obersteiger, Tod!« Und sie schickten sich an, die Kanzlei zu stürmen, wo der Beamte, des Tobens und Lärmens nicht achtend, über den Plan der Grube gebeugt, sitzt und sinnt, wo die Rettungsarbeiten am besten zu beginnen wären.
Glücklicherweise sind auch die Obersteiger der benachbarten Gruben an der Spitze ihrer Arbeiter herbeigeeilt und mit ihnen die Arbeiter aus der Stadt. Man sucht die Menge zu beruhigen, man spricht zu ihr – aber was kann man sagen? Es fehlen hundertundzwanzig Mann! Wo sind sie?
»Wo ist mein Vater?«
»Wo ist mein Mann?«
»Gebt mir meinen Sohn zurück!«
Die Stimmen sind gebrochen, die Fragen von Schluchzen erstickt. Was diesen Kindern, diesen Frauen, diesen Müttern zur Antwort geben?
Die zur Beratung zusammengetretenen Beamten finden nur das eine Wort: »Wir wollen alles versuchen – das Menschenmögliche soll gethan werden.«
Nun beginnt das Rettungswerk, es wird in der vom Magister vorhergesagten Weise begonnen; in allen drei Schachten sind die Pumpen thätig und werden Tag und Nacht nicht mehr stille stehen, bis zu dem Augenblick, wo sie den letzten Tropfen Wasser aus der Grube in die Divonne befördert haben.
Gleichzeitig beginnt man Stollen zu treiben. In welcher Richtung, wohin? Aufs Geratewohl, dem Zufall nach, da man ja nicht weiß, wo die etwa noch lebenden Arbeiter weilen. Die Obersteiger sind geteilter Meinung über die Zweckmäßigkeit dieser Maßregel, aber der Obersteiger von La Truyère besteht auf ihrer Ausführung, weil er hofft, die Verunglückten hätten sich wenigstens zum Teil in den alten Abbau geflüchtet und seien dort vor dem Wasser sicher. Jedenfalls will er alles versuchen, selbst auf die Gefahr hin, daß niemand dadurch gerettet werde, und läßt deshalb einen Gang treiben, der in gerader Linie auf den alten Abbau führt. Um Zeit zu sparen, wird der Gang so schmal angelegt als möglich, und jeweilig ist nur ein Häuer mit dem Abkohlen beschäftigt; die Kohlen, die er ablöst, werden von den übrigen, die eine Kette bilden, in Körben fortgeschafft, und sobald er ermüdet, löst ihn ein andrer Häuer ab.
Ohne Ruhe und ohne Rast wird Tag und Nacht an den doppelten Rettungsarbeiten, an den Pumpwerken und an dem zu treibenden Gang fortgeschafft.
Wurde schon denen, die über Tage an unsrer Rettung arbeiteten, die Zeit lang, wie viel mehr nicht uns, den unmächtigen Gefangenen.
Der ersten Freude über das durch die Pumpen verursachte Geräusch war gar bald ein Rückschlag gefolgt. Wohl wußten wir nun, daß wir nicht verlassen waren, daß man an unsrer Rettung arbeitete, aber würde das Wasser auch noch zur Zeit gehoben werden können?
Zu den geistigen Qualen gesellten sich nun auch noch körperliche: die Lage, in der wir uns auf unsren Stufen halten mußten, war furchtbar beschwerlich, wir konnten keine Bewegung mehr machen, um die steif gewordenen Glieder wieder geschmeidiger zu machen, und unsre Kopfschmerzen waren heftiger und unerträglicher geworden.
Carrory litt von uns allen am wenigsten; von Zeit zu Zeit sagte er: »Ich habe Hunger, Magister, gib mir Brot.«
Endlich entschloß sich der Magister, ihm und mir ein Stück von dem in der Ottermütze gefundenen Brot zuzuteilen.
»Das ist nicht genug,« erklärte Carrory.
»Das Brot muß lange reichen.«
Gar gerne hätten die Uebrigen an unsrem Mahl teilgenommen, aber sie hatten geschworen, zu gehorchen, und sie gehorchten.
»Wenn wir nichts zu essen kriegen, wollen wir wenigstens trinken,« sagte Compeyrou.
»Das kannst du nach Herzenslust, Wasser haben wir ja zur Genüge.«
»Trink den Stollen leer!«
Pagès wollte hinunter, aber der Magister gestattete es nicht.
»Du könntest leicht Gestein abbröckeln; Remi ist leichter und behender als du, er soll hinunter und uns Wasser heraufreichen.«
»Worin?«
»In einem Stiefel.«
Man gab mir einen Stiefel und ich schickte mich an, ins Wasser hinunterzugleiten.
»Halt,« sagte der Magister, »ich reiche dir die Hand.«
»Haben Sie keine Angst! Es thut nichts, wenn ich auch falle, ich kann schwimmen.«
»Ich will dich doch lieber an der Hand halten.«.
In dem Augenblick, wo der Magister sich in dieser Absicht nach vorne beugte, geriet er ins Rutschen, glitt auf der schiefen Ebene der schwebenden Strecke hinab und verschwand, mit dem Kopf voran, im Wasser. Die Lampe, mit der er mir hatte leuchten wollen, war ihm nachgerollt und ebenfalls untergesunken, so daß wir uns nun in tiefster Dunkelheit befanden und wie aus einem Mund laut aufschrieen.
Glücklicherweise war ich schon im Begriff gewesen, mich hinabzulassen, so ließ ich mich denn auf dem Rücken weiter gleiten und langte eine Sekunde nach dem Magister im Wasser an.
Auf meinen Reisen mit Vitalis hatte ich schwimmen und tauchen gelernt, und ich fühlte mich im Wasser so zu Hause als auf festem Boden, aber wohin sollte ich mich in diesem finstern Loche wenden? Wo suchen? Nach welcher Seite den Arm ausstrecken? Wo untertauchen?
Als ich mir diese Fragen stellte, umklammerte eine Hand krampfhaft meine Schulter und zog mich unter das Wasser hinab.
Ein kräftiger Stoß mit dem Fuß brachte mich wieder an die Oberfläche – die Hand hatte mich nicht losgelassen.
»Halten Sie mich fest, Magister, und heben Sie den Kopf in die Höhe, dann sind Sie gerettet.«
Gerettet waren aber weder er noch ich, denn ich wußte nicht, in welcher Richtung ich schwimmen mußte. Da kam mir ein glücklicher Einfall.
»Sprecht doch was, ihr andern,« rief ich.
»Wo bist du, Remi?«
Das war Onkel Gaspards Stimme, und sie deutete mir die Richtung an – ich mußte mich links halten.
»Zündet eine Lampe an.«
Als das Flämmchen aufleuchtete, brauchte ich nur den Arm auszustrecken und mich an das Gestein anzuklammern, während ich mit dem andern Arm den Magister nachzog. Es war höchste Zeit, denn er hatte Wasser geschluckt und war schon dem Ersticken nahe, doch ich hielt ihm den Kopf über Wasser, und bald kam er wieder zu sich.
Onkel Gaspard und Carrory beugten sich vor und streckten ihm die Hände entgegen, während Pagès, der von seinem Absatz auf den unsern herabgestiegen war, uns leuchtete. Der Magister wurde hinaufgezogen, und ich folgte ihm rasch. Schon hatte er das volle Bewußtsein wiedergewonnen. »Komm her,« sagte er, »laß dir einen Kuß geben – du hast mir das Leben gerettet!«
»Sie haben lang zuvor uns alle gerettet!«
»Bei alledem,« schrie Carrory, der über Gemütsbewegungen seine körperlichen Bedürfnisse nicht leicht vergaß, »bei alledem habe ich nichts zu trinken bekommen, und mein Stiefel ist verloren.«
»Ich will dir deinen Stiefel wieder suchen.«
Allein der Magister hielt mich zurück und verbot es mir.
»Nun, so gebt mir einen andern Stiefel, damit ich wenigstens etwas Wasser schöpfen kann.«
»Mir ist der Durst vergangen,« sagte Compeyrou.
»Wir müssen doch auf das Wohl des Magisters trinken!«
Damit ließ ich mich zum zweitenmal, aber mit mehr Vorsicht, ins Wasser hinabgleiten.
Wohl waren der Magister und ich dem Ertrinken glücklich entgangen, aber wir hatten nun die Unannehmlichkeit von Kopf bis zu den Füßen durchnäßt zu sein.
»Man muß Remi eine Jacke geben,« erklärte der Magister. Da niemand auf diesen allgemeinen Aufruf antwortete, fuhr er fort: »Niemand rührt sich?«
»Mich friert's selbst,« sagte Carrory.
»Und haben wir in unsern nassen Kleidern etwa warm?«
»Wäret ihr nicht ins Wasser gefallen!«
»Wenn die Sache so steht,« sagte der Magister, »so wird darum gelost, wer etwas von seinen Kleidern abgeben muß. Ich hätte, weiß Gott, für meine Person gerne darauf verzichtet, nun aber fordere ich Gleichheit.«
Da wir schon vorher alle im Wasser gestanden hatten – ich bis an den Hals, die Größten bis zu den Hüften – war dieser Kleiderwechsel kein besonders großer Gewinn; indessen bestand der Magister darauf, und ich erhielt, vom Glück begünstigt, die Jacke Compeyrous, dessen Beine so lang waren wie meine ganze Gestalt und dessen Jacke sich deshalb ganz trocken anfühlte. Ich wickelte mich hinein und wurde schnell wieder warm.
Nach diesem Zwischenfall, der uns für eine Weile aufgerüttelt hatte, befiel uns wieder die alte, mutlose Schlaffheit, und mit ihr kehrten auch die Gedanken an den Tod zurück, die aber auf meinen Gefährten schwerer zu lasten schienen als auf mir, denn während sie völlig wach blieben, schlief ich schließlich ein.
Da ich auf meinem Platze Gefahr lief, im Schlaf ins Wasser hinunterzurutschen, nahm der Magister, der dies sah, meinen Kopf unter seinen Arm und hielt mich fest. So schlummerte ich unter seinem Schutz, wie das Kind auf dem Schoß der Mutter. Er war nicht nur ein Mann von Kopf, sondern auch ein Mann von Herz. Als ich einmal halb aufwachte, veränderte er nur die Lage seines eingeschlafenen Armes und sagte dann halblaut: »Schlaf, mein Junge, schlaf. Hab keine Angst, Kleiner, ich halte dich sicher und fest.«
Und ohne Angst schlummerte ich weiter, denn ich wußte, daß er mich nicht loslassen würde.
Die Zeit verstrich, und immerwährend hörten wir die Pumpen mit ununterbrochenen, regelmäßigen Stößen weiterarbeiten.