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Herr James Milligan erschien nicht wieder in Red Lion Court, wenigstens sahen wir ihn trotz all unsrer Wachsamkeit nicht mehr.
Nach den Feiertagen mußten wir wieder bei Tag ausgehen, und somit beschränkte sich unsre Aussicht, ihn zu sehen, auf den Sonntag, den wir denn auch meistens zu Hause zubrachten; statt zu unsrer Erholung spazieren zu gehen – warteten wir. – Ohne alles zu sagen, was uns umtrieb, hatte Mattia seinen Freund Bob gefragt, ob es nicht möglich sei, die Adresse einer Frau Milligan, die einen gelähmten Sohn habe, oder wenigstens die des Herrn James Milligan zu ermitteln, aber Bob hatte gesagt, dazu müsse man erst wissen, welche Frau Milligan das sei oder welchen Beruf oder welche gesellschaftliche Stellung Herr James Milligan habe, denn in London und in England überhaupt führten eine Menge Menschen diesen Namen.
Daran hatten wir nicht gedacht! Für uns gab es eben nur eine Frau Milligan, und das war die Mutter Arthurs, und nur einen Herrn Milligan – seinen Onkel.
Nun fing Mattia wieder an zu drängen, wir sollten nach Frankreich zurückkehren, und damit lebten unsre alten Erörterungen wieder auf.
»Du willst also ganz darauf verzichten, Frau Milligan auszufinden?« fragte ich ihn.
»Nein, gewiß nicht, aber es ist gar nicht bewiesen, daß Frau Milligan noch in England ist.«
»Aber auch ebensowenig, daß sie in Frankreich ist.«
»Das ist mir aber wahrscheinlich: da Arthur krank gewesen ist, hat ihn seine Mutter sicher in ein besseres Klima gebracht, wo er sich schneller erholen kann.«
»Das gibt's doch nicht nur in Frankreich!«
»Nein, aber in Frankreich ist Arthur schon einmal gesund geworden, deshalb hat ihn seine Mutter sicher wieder dorthin gebracht, und jedenfalls wünsche ich dringend, daß du von hier fortgehst.«
Meine Lage war derart, daß ich Mattia nach dem Grund dieses Wunsches gar nicht zu fragen wagte, denn ich hätte sicher etwas zu hören bekommen, was ich nicht hören wollte.
»Mir ahnt nichts Gutes,« fuhr Mattia fort, »laß uns machen, daß wir von hier fortkommen, – Du wirst sehen, daß sonst irgend ein Unglück über uns hereinbricht.«
Aber obgleich sich die Gesinnung meiner Familie gegen mich keineswegs geändert hatte, und mein Großvater nach wie vor wütend nach mir spuckte, obgleich mein Vater nur mit mir sprach, um mir seine Befehle zu erteilen, und meine Mutter nie einen Blick für mich hatte, konnte ich mich doch nicht entschließen, Mattias Rat zu folgen, denn ich getraute mich nicht, seiner immer wiederholten Behauptung, ich sei nicht der Sohn »des Driscoll«, Glauben zu schenken, obwohl ich selbst meine Zweifel hegte.
Langsam schleppte sich die Zeit dahin; Tag um Tag, Woche um Woche verstrich und endlich kam der Zeitpunkt heran, wo die ganze Familie London verlassen sollte.
Die beiden Wagen waren frisch angestrichen und mit so viel Waren beladen worden, als sie irgend fassen konnten, und diese sollten nun während der schönen Jahreszeit verkauft werden.
Es grenzte geradezu ans Wunderbare, was sich alles in diesen Wagen unterbringen ließ: Stoffe aller Art, Strumpfwaren, Hauben, Umschlag- und Taschentücher, Strümpfe, Unterhosen, Westen, Knöpfe, Faden, Baumwolle, Wolle zum Stricken und Sticken, Nadeln, Scheren, Rasiermesser, Ohrgehänge und Ringe, Seifen und Pomaden, Wichse, Plätteisen, Pulver gegen Pferde- und Hundekrankheiten, Fleckenwasser, Mittel gegen Zahnweh, zum Haarfärben und zur Beförderung des Haarwuchses.
Waren wir gerade zu Hause, so sahen wir auch, wie die nächtlicherweile in den Red Lion Court geschafften Warenballen aus dem Keller heraufgeschafft wurden.
Endlich waren die Wagen voll und nun wurden Pferde gekauft – wann und wo wußte ich freilich nicht, aber wir sahen sie kommen – und alles war zur Abreise bereit. Mattia und ich allein hatten keine Ahnung davon, was aus uns werden solle, ob wir bei dem Großvater in London zurückbleiben, wie Allen und Ned Kaufleute werden, oder die Wagen der Familie als Musikanten begleiten und in Städten und Dörfern spielen sollten.
Da mein Vater gefunden hatte, daß wir mit Harfe und Geige ziemlich viel verdienten, beschloß er, daß wir Musikanten bleiben sollten, und that uns seinen Willen den Abend vor der Abreise kund.
»Wir müssen bei der ersten Gelegenheit entfliehen und nach Frankreich zurückkehren,« erklärte Mattia.
»Warum denn nicht eine Reise durch England machen?«
»Weil ich dir sage, daß dann ein Unglück über uns hereinbricht.«
»Wir haben Hoffnung, in England Frau Milligan zu finden.«
»Ich glaube, daß dies in Frankreich viel wahrscheinlicher ist.«
»Wir können es ja einmal in England versuchen und nachher weiter sehen.«
»Weißt du, was du verdienst?«
»Nein.«
»Daß ich dich verlasse und allein nach Frankreich zurückkehre.«
»Du hast ganz recht, und ich bitte dich, das zu thun; ich weiß wohl, daß ich nicht das Recht habe, dich hier zurückzuhalten. Geh zurück, suche Lieschen auf und sage ihr ...«
»Daß du eben so dumm als schlecht bist, wenn du glaubst, ich verlasse dich, solange du unglücklich bist,– denn du bist unglücklich, sehr, sehr unglücklich. Was habe ich dir denn gethan, daß du auf einen solchen Gedanken kommst? Sag mir doch, was ich dir gethan habe – gelt, nichts? Also vorwärts marsch!«
Wiederum ziehen wir draußen auf der Landstraße dahin, aber diesmal kann ich nicht thun und lassen, was ich will, und hingehen, wohin ich will. Trotzdem verlasse ich London mit einem Gefühl der Erleichterung, denn ich habe nun doch wenigstens die Fallthür hinter dem Hause in Red Lion Court nicht mehr ewig vor Augen. Wie oft war ich des Nachts aus dem Schlaf aufgeschreckt und hatte geglaubt, einen rötlichen Lichtschirm durch mein kleines Fenster fallen zu sehen – wohl war es eine Art Alpdrücken, eine Sinnestäuschung; aber einmal hatte ich das Licht wirklich gesehen und das war mehr als genug, um es unaufhörlich wie eine glühende Flamme vor Augen zu haben.
Nun wandern wir hinter den Wagen drein und atmen statt der übelriechenden, ungesunden Düfte von Bethnal-Green die reine Luft der schönen ländlichen Gegenden, durch die wir ziehen, und lassen unsre Augen ausruhen auf dem frischen Grün, während der Gesang der Vögel unser Ohr erquickt.
Noch am Tag unsers Abmarsches sah ich, in welcher Weise der Verkauf der Waren, die so wenig gekostet hatten, bewerkstelligt wurde. Wir waren in ein großes Dorf gekommen, und man hatte die Wagen auf dem Marktplatz nebeneinander aufgefahren. Eine der aus mehreren Abteilungen bestehenden Wagenseiten wurde heruntergelassen, so daß die ganze Auslage vor den Augen des Beschauers lag und die Neugierde der Käufer erregen konnte.
»Bitte die Preise zu beachten, bitte die Preise zu beachten,« rief mein Vater, »eine solche Gelegenheit kommt Ihnen nicht wieder! Ich bezahle meine Waren nie, und kann sie deshalb billig geben! Ich verkaufe sie nicht, ich verschenke sie! Unerhört billige Preise! Unerhört billig! Kaufen Sie ein, meine Herrschaften, kaufen Sie ein!«
Gleich darauf hörte ich Leute, die die Preise angesehen hatten, im Weggehen sagen: »Die Waren müssen gestohlen sein!«
»Er sagt es ja selbst!«
Hätten Sie zufällig mich angesehen, so würde ihnen die Schamröte, die mir ins Gesicht stieg, verraten haben, wie richtig ihre Vermutung war.
Mattia hatte mich beobachtet, und obwohl er für gewöhnlich diesen Punkt nicht offen zu berühren wagte, sagte er doch am Abend: »Du, wie lang willst du denn diese Schande noch ertragen?«
»Sprich mir nicht davon, wenn du mir diese Schande nicht noch peinlicher machen willst.«
»Das will ich gewiß nicht, aber ich will, daß wir nach Frankreich zurückkehren, denn du wirst sehen, daß es in aller Bälde ein Unglück gibt. Du mußt doch begreifen, daß eines schönen Tages die Polizei sich erkundigen wird, wie es der Driscoll ermöglicht, seine Waren so billig zu verkaufen! Was glaubst du denn, daß dann geschehen wird?«
»Mattia, ich bitte dich ...«
»Da du selbst die Augen nicht aufmachen willst, muß ich es eben für dich thun, und ich will dir sagen, was dann geschieht: man verhaftet uns alle, auch dich und mich, obgleich wir nichts gethan haben. Wie können wir beweisen, daß wir unschuldig sind? Wie sollen wir uns verteidigen? Esten wir etwa nicht das Brot, das mit dem durch die gestohlenen Waren erlösten Geld bezahlt worden ist?«
Dieser Gedanke, der mir nie gekommen war, traf mich wie ein Keulenschlag.
»Aber wir verdienen doch unser Brot selbst,« stammelte ich, um mich dieses Gedankens zu erwehren.
»Das ist wahr,« sagte Mattia, »aber ebenso wahr ist es auch, daß wir in enger Verbindung mit Leuten leben, die das ihre nicht verdienen, und dies allein ist maßgebend; und wir werden verurteilt werden, wie wenn wir es selbst gethan hätten. Es wäre mir sehr widerwärtig, als Dieb verurteilt zu werden, aber wenn das dir geschähe, so wär's mir noch viel schmerzlicher. Ich bin ja nur ein armer Teufel und werde das zeitlebens bleiben, aber wie peinlich wäre es für deine Familie – ich meine deine rechte Familie – wenn du sie wiederfändest und sie hörte, daß du verurteilt worden seiest. Außerdem können wir, so lange wir im Gefängnis sitzen, Frau Milligan nicht davon benachrichtigen, was Herr James Milligan gegen Arthur im Schilde führt. Wir wollen uns also davon machen, so lange es noch Zeit ist.«
»Mach du dich davon!«
»Immer kommst du mir wieder mit der nämlichen Dummheit! Entweder entfliehen wir miteinander, oder werden beide gefaßt, wofür dann du die Verantwortung zu tragen haben wirst. Wenn du wenigstens den Leuten, bei denen du so eigensinnigerweise bleiben willst, nötig wärst, so würde ich dich verstehen und deinen Eigensinn schön finden, aber du bist ihnen keineswegs unentbehrlich – sie haben bisher ohne dich gelebt, und werden's nachher wohl auch wieder können.«
»Laß mir wenigstens noch einige Tage Zeit zur Ueberlegung, dann wollen wir sehen.«
»Beeile dich! Ich wittere die Gefahr, wie der Menschenfresser im Märchen das Menschenfleisch!«
Noch nie hatten Mattias Bitten und Beweisführungen einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, und ich schalt mich feige, daß ich zu keinem Entschluß kommen konnte und selbst nicht wußte, was ich wollte; aber nun bewirkten äußere Umstände, was ich nicht zu thun gewagt hatte.
Schon mehrere Wochen waren vergangen, seit wir London verlassen hatten, und wir hatten eine Stadt erreicht, wo Pferderennen stattfinden sollten, was sich in England immer zu einem wahren Volksfest gestaltet. Auf dem Rennplatz treffen schon einige Tage zuvor Seiltänzer, Zigeuner und herumziehende Kaufleute ein und halten hier eine Art von Messe ab. Auch wir hatten uns beeilt, rechtzeitig jene Stadt zu erreichen und uns unsern Platz dort zu sichern – Mattia und ich als Musikanten, die Familie Driscoll als Kaufleute.
Allein statt auf den Rennplatz zu gehen, schlug mein Vater in der Stadt selbst seinen Kram auf, vermutlich weil er hoffte, dort bessere Geschäfte zu machen.
Da wir früh am Tag angekommen waren und man unsrer bei dem Auslegen der Waren nicht bedurfte, begaben Mattia und ich uns nach dem Rennplatz, der sich in der Nähe der Stadt auf einer Heide befand. Hier waren viele Zelte errichtet worden, und schon von weitem bemerkte man kleine Rauchsäulen, die die Lage und Grenze des Rennfeldes bezeichneten, und bald langten wir durch einen Hohlweg auf der sonst so öden, heute aber durch Bretterbuden, Zelte, Wagen und dergleichen bedeckten Heide an. In manchen der Buden waren Wirtschaften, ja selbst Gasthöfe eingerichtet, aber viele biwakierten auch einfach im Freien, und um die Lagerfeuer drängte sich das in malerische Lumpen gekleidete fahrende Volk.
Als wir an einem dieser Feuer, über dem ein Kochtopf brodelte, vorüberkamen, erkannten wir unsern Freund Bob, der entzückt war, uns hier zu treffen. Er war mit zwei Genossen zu den Rennen gekommen, um einige Vorstellungen in Kraft- und Taschenspielerstückchen zu geben, aber die Musikanten, auf die er gerechnet hatte, waren nicht gekommen, was ihre Einnahmen beträchtlich schmälern würde. Nun schlug er uns vor, an die Stelle der ausgebliebenen Musikanten zu treten, die Einnahme sollte zwischen uns fünfen geteilt werden und selbst für Capi etwas dabei abfallen.
Mattia warf mir einen Blick zu, aus dem ich ersah, wie viele Freude ich ihm mit Annahme dieses Vorschlages machen würde, und da wir thun konnten, was wir wollten, vorausgesetzt, daß wir eine gute Einnahme heimbrachten, schlug ich ein, und es wurde abgemacht, daß wir uns Bob und seinen Freunden zur Verfügung stellten. Als wir aber in die Stadt zurückkamen und ich meinem Vater unsre Abmachung berichtete, sagte er: »Ich brauche Capi morgen selbst; ihr könnt ihn also nicht mitnehmen.«
Diese Worte beunruhigten mich sehr – wollte man Capi wieder zu irgend einer Schändlichkeit mißbrauchen? Sofort zerstreute mein Vater mein Mißtrauen wieder, indem er sagte: »Capi mit seinem scharfen Gehör und seiner großen Wachsamkeit ist mir zur Bewachung der Wagen nötig, denn bei dem großen Menschenandrang könnten wir sehr leicht bestohlen werden. Ihr müßt also allein mit Bob spielen, und wenn eure Vorstellungen bis spät in die Nacht hinein dauern sollten, was mir sehr wahrscheinlich ist, so kommt gleich vom Festplatz aus in die ›Große Eiche‹, wo wir übernachten wollen, denn ich gehe mit Einbruch der Nacht hier weg.«
Das Wirtshaus zur »Großen Eiche«, wo wir die vergangene Nacht verbracht hatten, war eine Meile von dem Städtchen auf freiem Feld in einer öden, unheimlichen Gegend gelegen und wurde von einem wenig Vertrauen erweckenden Ehepaar betrieben. Für uns war nichts leichter, als den Weg dorthin zu finden, selbst mitten in der Nacht, nur war es lästig, daß er ein wenig weit war nach einem ermüdenden Tagewerk.
Doch konnte ich meinem Vater, der nie einen Widerspruch duldete, dies Bedenken nicht entgegenhalten, und es blieb bei seiner Anordnung.
Am andern Morgen band ich Capi, nachdem ich ihn spazieren geführt und ihm zu fressen und zu saufen gegeben hatte, selbst an der Achse des Wagens fest, den er bewachen sollte, und begab mich dann mit Mattia nach dem Rennplatz. Sobald wir dort eingetroffen waren, begannen wir zu spielen, und das dauerte ohne Unterbrechung bis zum Abend fort; meine Fingerspitzen schmerzten mich, als steckten mir Tausende von Dornen drin, und Mattia hatte so viel auf seinem Klapphorn geblasen, daß er gar keine Luft mehr bekam, trotzdem mußten wir immer weiter spielen, denn Bob und seine Kameraden wurden es nicht müde, ihre Kunststücke aufzuführen, und wir durften uns nicht schwächer zeigen als sie. Als es endlich nacht wurde, glaubte ich, wir könnten ausruhen, aber wir vertauschten nur unser Zelt mit einer großen Bretterbude, worin sich auch eine Schenke befand, und nun fing's wieder von vorne an. So ging's weiter bis Mitternacht, endlich brachte ich wohl noch Töne auf meiner Harfe hervor, aber ich wußte nicht mehr, was ich spielte, und Mattia war sich ebenso wenig klar darüber. Wohl zwanzigmal hatte Bob verkündigt, daß dies die letzte Vorstellung sei, und ebenso oft hatte er immer wieder vorne angefangen.
Waren wir schon müde, so mußten unsre Kameraden, die mit viel mehr Kraftaufwand arbeiteten, erschöpft sein, und in der That war ihnen auch schon dies und jenes Stückchen mißglückt. Plötzlich fiel eine große Stange, die sie zu einer ihrer Vorstellungen brauchten, Mattia auf den Fuß und that ihm so weh, daß er laut aufschrie. Sofort bemühten Bob und ich uns um ihn, denn wir fürchteten schon, der Fuß sei zerschmettert. Glücklicherweise erwies sich die Verletzung als nicht so schlimm, denn der Knochen war heil geblieben, obgleich er eine starke Quetschung davongetragen hatte und die Fleischteile stellenweise zerfetzt worden waren. Da Mattia nicht gehen konnte, so wurde beschlossen, daß er bei Bob im Wagen übernacht bleiben solle, während ich mich allein nach der »Großen Eiche« aufmachen wollte, denn ich mußte doch erfahren, wohin die Familie Driscoll am nächsten Morgen ihre Schritte lenken würde.
»Geh nicht,« bat Mattia immer wieder, »morgen brechen wir miteinander auf.«
»Und wenn wir dann in dem Wirtshaus niemand mehr vorfinden?«
»Um so besser! Dann sind wir frei.«
»Wenn ich die Familie Driscoll verlasse, so will ich's nicht auf diese Weise thun; übrigens hätten sie uns bald genug eingeholt – wie weit glaubst du denn, daß wir mit deinem Fuß laufen werden?«
»Dann gehen wir morgen früh miteinander, wenn du willst; aber geh du jetzt nicht allein!«
»Warum denn nicht?«
»Ich weiß nicht, ich habe Angst um dich.«
»Laß mich doch gehen – ich verspreche dir sicher, morgen früh zurückzukommen.«
»Und wenn man dich davon abhält?«
»Damit man mich nicht zurückhalten kann, laß ich dir meine Harfe hier – die muß ich dann doch haben!«
Und trotz Mattias Angst um mich machte ich mich sorglos und unbekümmert auf den Weg. Vor was hätte ich mich denn auch fürchten sollen? Was konnte man von einem armen Teufel, wie mir, auch wollen?
Wenn ich aber auch nicht den Schatten einer Angst empfand, so fühlte ich mich doch sehr ergriffen, denn es war das erste Mal, daß ich ohne Mattia und ohne Capi ganz mutterseelenallein durch die Stille der Nacht dahinwandern mußte, und selbst der Mond mit seinem fahlen Gesicht schien mich traurig anzublicken.
Trotz meiner großen Ermüdung schritt ich tüchtig aus und langte bald bei dem Wirtshaus zur »Großen Eiche« an, aber ich mochte mich nach unsern Wagen umsehen, so viel ich wollte, – ich fand sie nicht. Zwei oder drei elende Planwagen; eine große Bretterbude und zwei Transportwagen, aus denen das Gebrüll wilder Tiere ertönte, als ich vorüberkam, das war alles, was ich entdeckte – die schön bemalten Wagen der Familie Driscoll aber sah ich nirgends.
Als ich um das Haus herumging, entdeckte ich einen Lichtschein hinter dem Oberlicht einer Thür und klopfte an diese, weil ich daraus schloß, daß noch nicht alles zu Bett sei. Der Wirt mit der Galgenphysiognomie öffnete selbst und leuchtete mir mit der Laterne voll ins Gesicht. Ich sah, daß er mich erkannte, aber statt mich eintreten zu lassen, hielt er seine Laterne hinter sich auf den Rücken, blickte sich um und horchte vorsichtig hinaus; dann erst sagte er: »Eure Wagen sind fort, und dein Vater hat befohlen, daß du die ganze Nacht durch gehen und womöglich in Lewes wieder mit ihm zusammentreffen sollest. Glückliche Reise!«
Damit schlug er mir die Thür vor der Nase zu.
Während meines Aufenthaltes in England hatte ich englisch genug gelernt, um diesen Satz verstehen zu können, gleichwohl hatte das Wort »Luiß«, das wichtigste von allen, gar keinen Sinn für mich, denn ich wußte nicht, daß es gleichbedeutend war mit »Lewes«, welchen Namen ich schon auf der Karte gelesen hatte. Allein, wenn ich es auch gewußt hätte, wäre es für mich doch unmöglich gewesen, sofort dorthin aufzubrechen und Mattia im Stich zu lassen. So müde ich auch war, blieb mir doch keine andre Wahl, als auf das Rennfeld zurückzukehren.
Wieder machte ich mich auf den Weg, und nach anderthalb Stunden streckte ich mich in Bobs Wagen auf einer guten Schütte Stroh neben Mattia aus und erzählte ihm mit ein paar Worten, was geschehen war, dann schlief ich todmüde ein.
Einige Stunden Schlaf hatten mich wieder gekräftigt, und am Morgen, als ich erwachte, war ich ganz bereit, nach Lewes aufzubrechen, vorausgesetzt, daß Mattia in der Lage war, mitzukommen.
Ich verließ den Wagen und lenkte meine Schritte auf Bob zu, der vor mir aufgestanden und damit beschäftigt war, sein Feuer anzumachen: ich sah ihm zu, wie er, auf allen Vieren kauernd, aus Leibeskräften unter den Kochtopf blies, als ich plötzlich Capi zu erkennen glaubte, der von einem Polizeidiener an der Leine geführt wurde.
Einen Augenblick stand ich ganz starr vor Staunen und fragte mich, was dies zu bedeuten habe, aber Capi hatte mich erkannt und sich losgerissen, und war mir mit einigen Sätzen an den Hals gesprungen.
Nun trat der Schutzmann zu mir heran und sagte: »Gehört dieser Hund dir?«
»Ja.«
»Dann verhafte ich dich.« Damit packte er mich fest am Arm.
Diese Bewegung hatte, nebst den Worten des Polizeidieners, Bob veranlaßt, aufzustehen; nun sprang er herbei.
»Und warum verhaften Sie diesen Jungen?« fragte er.
»Sind Sie sein Bruder?«
»Nein, aber sein Freund.«
»Heute nacht sind ein Mann und ein Knabe vermittelst einer Leiter in die Sankt Georgs-Kirche eingestiegen; sie haben diesen Hund bei sich gehabt, um im Falle der Gefahr von ihm gewarnt zu werden, falls sie gestört würden, was denn auch wirklich geschehen ist; in ihrer Bestürzung haben sie keine Zeit mehr gehabt, den Hund mitzunehmen, als sie durch das Fenster entwichen, und da er ihnen nicht folgen konnte, hat man ihn in der Kirche gefunden. Ich war überzeugt, daß ich mit Hilfe des Hundes die Diebe entdecken würde, und nun habe ich schon einen davon. Wo ist der Vater jetzt?«
Ich weiß es nicht, ob die Frage an Bob oder mich gerichtet wurde, aber jedenfalls beantwortete ich sie nicht, denn ich fühlte mich völlig vernichtet.
Immerhin begriff ich, was geschehen war, oder glaubte es wenigstens zu begreifen. Nicht zur Bewachung der Wagen hatte er Capi behalten, sondern weil er sich auf dessen Wachsamkeit verlassen konnte, während er den Kirchenraub beging, und die Wagen hatte ich nicht mehr in dem bezeichneten Wirtshaus vorgefunden, weil der Diebstahl entdeckt worden war und sie schleunigst das Weite hatten suchen müssen.
Aber ich hatte im Augenblick Nötigeres zu thun, als an die Schuldigen zu denken; mochten sie sein, wer sie wollten, ich konnte mich verteidigen und meine Unschuld beweisen, ohne sie anzuklagen, denn ich konnte über die Verwendung meiner Zeit genaue Rechenschaft geben.
Unterdessen war auch Mattia durch den Wortwechsel geweckt worden, aus dem Wagen getreten und auf mich zugehinkt.
»Erkläre ihm, daß ich unschuldig bin,« sagte ich zu Bob, »denn ich bin ja bis ein Uhr morgens bei euch hier gewesen, dann bin ich nach dem Wirtshaus zur ›Großen Eiche‹ gegangen, wo ich mit dem Wirt gesprochen habe, und dann hierher zurückgekehrt.«
Bob übersetzte meine Worte dem Polizeidiener, aber dieser schien keineswegs so überzeugt zu sein, wie ich erwartet hatte – ganz im Gegenteil.
»Um ein Viertel nach ein Uhr ist man in der Kirche eingestiegen,« sagte er; »dieser Junge ist, wie er behauptet, hier um ein Uhr, oder einige Minuten vor ein Uhr fortgegangen, hat also ganz gut um ein Viertel nach ein Uhr mit den Dieben in der Kirche sein können.«
»Man geht nicht in einer Viertelstunde von hier nach der Stadt,« sagte Bob.
»O ja, wenn man läuft,« entgegnete der Schutzmann; »wer beweist mir außerdem, daß er hier um ein Uhr fortgegangen ist?«
»Ich! Ich kann es beschwören!« rief Bob.
»O, Sie,« sagte der andre, »man wird erst einmal feststellen müssen, welchen Wert Ihr Zeugnis hat!«
Nun wurde Bob böse und sagte würdevoll: »Sehen Sie sich vor, ich bin englischer Bürger!«
Der Schutzmann zuckte die Achseln.
»Wenn Sie mich beleidigen, schreibe ich an die Times,« sagte Bob.
»Unterdessen nehme ich den Jungen mit, er kann sich ja dann vor dem Richter verantworten.«
Mattia fiel mir um den Hals, aber nicht, wie ich glaubte, um mich zu küssen, sondern um mir als praktischer Junge ins Ohr zu flüstern: »Halte den Kopf hoch – wir lassen dich nicht im Stich!« Dann erst küßte er mich.
»Behalte Capi bei dir,« bat ich französisch Mattia; aber der Polizist hatte mich verstanden und sagte: »Nein, nein, ich behalte den Hund! Er hat mir diesen finden helfen und wird mir auch den andern noch auftreiben.«
Das war schon das zweite Mal, daß ich verhaftet wurde, aber die Scham, die mich zu ersticken drohte, war diesmal viel größer, denn es handelte sich nicht wie damals um eine Lappalie, sondern um einen sehr ernsten Fall, und selbst wenn ich unschuldig erfunden wurde, hatte ich doch den Schmerz, diejenigen mit Recht verurteilen zu sehen, für deren Mitschuldigen man mich hielt.
Von dem Polizeidiener geführt, mußte ich an all den Neugierigen vorübergehen, die sich angesammelt hatten, aber diesmal wurden mir nicht wie in Frankreich Spottreden und Drohungen nachgerufen, denn die Leute hier waren keine Bauern, sondern fahrendes Volk, das selbst in ständigem Krieg mit der Polizei lebt.
Das Gewahrsam, in das ich gebracht wurde, war diesmal ein ganz regelrechtes Gefängnis mit einem festvergitterten Fenster, dessen bloßer Anblick schon jeden Gedanken an Flucht im Keim ersticken mußte. Das Mobiliar bestand aus einer Bank zum Sitzen und aus einer Pritsche zum Liegen.
Lange saß ich ganz gebrochen auf der Bank und dachte zusammenhanglos über meine Lage nach, denn ich war völlig unfähig, zwei Gedanken folgerichtig aneinanderzureihen. Wie fürchterlich war die Gegenwart, wie entsetzlich lag die Zukunft vor mir!
»Halte den Kopf hoch, wir lassen dich nicht im Stich!« hatte Mattia gesagt, aber was vermochte ein Kind wie Mattia? Wenn man im Gefängnis sitzt, hat man nur einen einzigen Wunsch, den, wieder herauszukommen, und wie vermochten Bob und Mattia, auch wenn sie alles für mich thaten, mir hier herauszuhelfen?
Ich ging ans Fenster und betastete die Eisenstangen, die es kreuzweise nach außen verwahrten, und fand, daß sie in die fast meterdicken Mauern eingelassen und verlötet waren; der Fußboden war mit großen Steinen gepflastert und die Thüre mit Eisenblech verkleidet.
Von der Thür kehrte ich wieder ans Fenster zurück, das auf einen langen, schmalen Hof hinausging, der von einer mindestens vier Meter hohen Mauer eingeschlossen wurde.
Selbst mit Hilfe der treusten Freunde war an kein Entkommen zu denken.
Für den Augenblick kam für mich alles darauf an, wie lange ich in diesem Gefängnis sitzen mußte, ehe ich dem Untersuchungsrichter vorgeführt wurde, der über mein Schicksal zu entscheiden hatte. Würde es mir wohl gelingen, trotz Capis Anwesenheit in der Kirche, meine Unschuld zu beweisen und mich zu verteidigen, ohne jene des Verbrechens zu bezichtigen, die ich nicht anklagen durfte?
Für mich hing alles davon ab – dadurch allein konnten mir Bob und Mattia zu Hilfe kommen, daß sie unanfechtbare Zeugenaussagen zusammenbrachten, durch die endgültig bewiesen wurde, daß ich um ein Viertel nach Eins nicht in der Sankt Georgkirche gewesen sein konnte. Brachten sie diesen Beweis bei, was mir keineswegs unmöglich erschien, so war ich gerettet, trotz des stummen Zeugnisses, das mein armer Capi gegen mich ablegen mußte. Ja, wenn Mattia nicht den zerquetschen Fuß gehabt hätte, dann würde er keine Mühe gescheut haben, dann wäre er hin und her gelaufen und hätte Zeugen zusammengesucht, aber in seinem jetzigen Zustand konnte er vielleicht den Wagen gar nicht verlassen, und wer wußte, ob Bob ihn ersetzen wollte?
All diese Aengste und Sorgen ließen mich trotz der Anstrengungen des gestrigen Tages nicht einschlafen und erregten mich so, daß ich auch keinen Bissen essen konnte, dagegen aber an einem fort meinem Wasserkrug zusprach, ohne den bitteren Geschmack in meinem Mund wegspülen oder meinen Durst löschen zu können.
Als ich den Schließer in mein Gefängnis treten sah, hatte ich eine gewisse Befriedigung, ein leises Aufflackern von Hoffnung gefühlt, denn seit ich eingesperrt war, war ich immer nur von der einen Frage erfüllt: wann werde ich von dem Richter vernommen und wann werde ich meine Unschuld beweisen können, denn damals wußte ich noch nicht, daß in England niemand länger als einen Tag ohne Verhör gefangen gehalten werden darf. Da ich also meine Frage nicht selbst beantworten konnte, richtete ich sie an den Gefängniswärter, der gar nicht böse aussah und mir auch erwiderte, ich würde jedenfalls in der morgigen Sitzung vorgeführt werden.
Durch meine Frage war der Schließer aber auf den Gedanken gekommen, mich seinerseits auszufragen, denn da er mir geantwortet hatte, war es doch nicht mehr als billig, daß ich ihm ebenfalls Rede und Antwort stand.
»Wie seid ihr denn in die Kirche hineingekommen?« fragte er.
Natürlich beantwortete ich diese Frage mit den feurigsten Beteuerungen meiner Unschuld; aber darauf hatte er nur ein Achselzucken, und als ich ihn wieder zu versichern anfing, ich sei ganz gewiß nicht in der Kirche gewesen, ging er zur Thür und sagte mit einem Blick auf mich halblaut: »Ach du lieber Gott, wie verderbt sind doch die Londoner Buben!«
Das ging mir furchtbar nahe, denn wenn dieser Mann auch nicht mein Richter war, so wäre mir's doch lieb gewesen, wenn er an meine Unschuld geglaubt hätte, denn wie konnte ich hoffen, den Richter zu überzeugen, wenn mir das nicht einmal bei dem Schließer gelang, der aus meinem Blick und meinem Ton hätte ersehen müssen, daß ich die Wahrheit sprach. Glücklicherweise mußte der Richter, wenn auch nicht mir, so doch wenigstens den Zeugen Glauben schenken, die hoffentlich für mich auftreten würden.
Bei alledem blieb mir nichts übrig, als möglichst gelassen den nächsten Tag abzuwarten, aber selbst wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, vergesse ich diese entsetzliche Nacht nicht, die ich damals durchgemacht habe. Ach, warum war ich ein solcher Narr gewesen und hatte Mattias Ahnungen und Furcht nicht beachtet!
Am andern Morgen trat der Schließer mit Krug und Waschbecken in meine Zelle und forderte mich auf, mich zu waschen, falls ich Lust dazu hätte, denn ich müsse bald vor dem Richter erscheinen, und ein anständiges Aeußere sei die beste Verteidigung für einen Angeklagten.
Nachdem ich mich etwas zurecht gemacht hatte, war es mir nicht mehr möglich, mich ruhig auf einer Stelle zu halten, und ich rannte wie ein gefangenes wildes Tier in seinem Käfig, in meinem Gefängnis auf und ab.
Gerne hätte ich mir meine Verteidigung und meine Antworten im voraus überlegt, aber ich war nicht im stande dazu, und statt mich mit meiner augenblicklichen Lage zu beschäftigen, dachte ich über alles mögliche tolle Zeug nach, das mir gerade durch meinen müden Kopf fuhr.
Der Schließer kam wieder und hieß mich ihm folgen; ich ging neben ihm her, und nachdem er mich durch mehrere Gänge geführt hatte, machte er eine kleine Thür auf und sagte: »Geh da hinein!«
Warme Luft schlug mir ins Gesicht, ein dumpfes Summen drang in mein Ohr; ich trat ein und befand mich auf einer kleinen Erhöhung im Gerichtssaal.
Obgleich ich, wie von einer Art Hallucination befallen dastand, obgleich ich meine Schläfen pochen fühlte, als wollten sie zerspringen, erfaßte ich mit einem einzigen Blick meine ganze Umgebung – den Gerichtssaal und die Menschen darin.
Der große, hohe Saal hatte breite Fenster und bestand aus zwei Abteilungen, von denen die eine für den Gerichtshof bestimmt, die andre dem Publikum geöffnet war.
Auf einem erhöhten Platz saß der Richter, etwas unter ihm drei andre Diener der Gerechtigkeit, ein Gerichtsschreiber, ein Schatzmeister, zur Empfangnahme der Geldstrafen, und der Staatsanwalt: vor meinem Platz saß ein Herr in Robe und Perücke – mein Anwalt.
Wie kam ich zu diesem Verteidiger? Hatten Mattia und Bob ihn für mich bestellt? Der Augenblick war zur Erwägung dieser Frage nicht günstig – ich hatte einen Anwalt, das genügte!
Auf einer andern Erhöhung bemerkte ich Bob mit seinen beiden Freunden: den Wirt der »Großen Eiche« und andre, mir unbekannte Leute; diesen gegenüber sah ich den Polizeidiener, der mich verhaftet hatte, inmitten andrer Personen, und nun merkte ich, daß dies die Plätze der Zeugen waren.
Der dem Publikum freigegebene Raum war überfüllt; über ein Geländer gelehnt, entdeckte ich Mattia, und als sich unsre Blicke grüßend trafen, fühlte ich sofort meinen Mut zurückkehren, denn ich wußte, daß ich verteidigt werden würde und daß mir nun die Pflicht oblag, mich nicht selbst aufzugeben, sondern auch zu verteidigen, und nun konnten mir auch all die auf mich gerichteten Blicke nichts mehr anhaben.
Der Staatsanwalt ergriff das Wort und legte den Thatbestand in Kürze dar – er schien es sehr eilig zu haben. In der Sankt Georgskirche war ein Einbruch verübt worden; die Diebe, ein Mann und ein Kind waren vermittelst einer Leiter und einer eingedrückten Fensterscheibe in die Kirche eingestiegen; sie hatten auch einen Hund bei sich gehabt, um gewarnt zu werden, falls sie überrascht würden; ein verspätet Heimkehrender, der um ein Viertel nach ein Uhr an der Kirche vorüberkam, hatte mit Staunen einen schwachen Lichtschimmer wahrgenommen, hatte gelauscht und verdächtiges Krachen gehört; sofort hatte er den Küster geweckt und war dann mit diesem und einigen andern Leuten zurückgekommen; nun hatte der Hund Laut gegeben, und die erschrockenen Kirchenräuber waren mit Hinterlassung ihres Hundes, der die Leiter nicht zu erklimmen vermochte, durch das Fenster entwichen, während man die Thür aufschloß. Dieser Hund war von dem Fahnder Jerry, dessen Eifer und Umsicht nicht genug zu loben war, auf den Rennplatz geführt worden, wo er dann auch seinen Herrn, der kein andrer war als der Angeklagte, richtig erkannt hatte; dem zweiten Einbrecher war man ebenfalls auf der Spur.
Der Staatsanwalt schloß mit einigen weiteren Bemerkungen, die meine Schuld darthun sollten; als er schwieg, rief eine kreischende Stimme: »Stille!« und dann begann der Richter, ganz als ob er mit sich selbst spräche, ohne sich nach mir umzusehen, nach meinem Namen, Alter und Gewerbe zu fragen.
Ich erwiderte englisch, ich heiße Francis Driscoll und wohne bei meinen Eltern in London in Red Lion Court, Bethnal-Green. Dann bat ich, mich der französischen Sprache bedienen zu dürfen, da ich in Frankreich erzogen worden und erst vor wenigen Monaten nach England gekommen sei.
»Bilde dir nicht ein, du könntest mich hinters Licht führen,« sagte der Richter streng, »ich verstehe Französisch.«
Nun erzählte ich französisch, was ich zu sagen hatte, und suchte zu erklären, daß ich ganz unmöglich um ein Uhr in der Kirche gewesen sein könne, da ich mich ja bis zu dieser Zeit auf dem Rennplatz, und um zweieinhalb Uhr im Wirtshaus zur »Großen Eiche« befunden hätte.
»Wo warst du denn um ein Viertel nach ein Uhr?« fragte der Richter.
»Unterwegs.«
»Das ist eben zu beweisen! Du sagst, du habest dich auf dem Wege nach dem Wirtshaus befunden, und die Anklage behauptet, du seiest in der Kirche gewesen und seiest mit deinem Spießgesellen an der Kirchenmauer zusammengetroffen, wo er mit einer Leiter auf dich gewartet habe; und erst nach dem Mißglücken eures Anschlages seiest du ins Wirtshaus zur ›Großen Eiche‹ gegangen.«
Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, zu beweisen, daß dies ganz unmöglich sei, aber ich sah wohl, daß der Richter nicht überzeugt war.
»Wie willst du die Anwesenheit deines Hundes in der Kirche erklären?« fragte der Richter weiter.
»Die kann ich nicht erklären, denn sie ist mir selbst ein Rätsel, da ich meinen Hund nicht bei mir gehabt, sondern des Morgens selbst unter einem unsrer Wagen festgebunden habe.«
Mehr wollte ich nicht sagen, denn ich mochte niemand eine Waffe gegen meinen Vater in die Hand geben, obgleich Mattia mir ein Zeichen gab, fortzufahren.
Nun wurde ein Zeuge aufgerufen, den man aufs Evangelium schwören ließ, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu sagen.
Dieser, ein kurzes, dickes Männchen, trotz seines roten Gesichtes und seiner bläulichen Nase von überaus majestätischem Wesen, war der Küster von Sankt Georg. Ehe er den Eid ablegte, machte er eine Kniebeugung vor dem Gericht und warf sich dann sehr in die Brust, als er zu sprechen begann.
Des langen und breiten schilderte er das Entsetzen und den Abscheu, den er empfand, als er plötzlich aufgeweckt wurde und hören mußte, in seiner Kirche seien Diebe eingebrochen; zu allererst habe er gedacht, man wolle ihm einen Possen spielen, aber da man sich mit Personen seiner Stellung keine derartigen schlechten Scherze zu erlauben pflege, habe er sich gedacht, die Sache sei ernst, und sich so rasch angekleidet, daß er zwei Knöpfe an seiner Weste abgerissen habe; dann sei er zur Kirche geeilt, habe die Thür aufgeschlossen und wen – oder vielmehr was – gefunden? Einen Hund!
Darauf wußte ich nichts zu entgegnen, aber nun erhob sich mein Anwalt, der bisher geschwiegen hatte, schüttelte seine Perücke, schob seine Robe aus den Schultern zurecht und begann zu sprechen: »Wer hat vorgestern abend die Kirchenthür geschlossen?« fragte er.
»Ich, wie es meine Pflicht war,« erwiderte der Kirchendiener.
»Wissen Sie das ganz gewiß?«
»Wenn ich etwas thue, so weiß ich gewiß, daß ich's thue?«
»Und wenn Sie etwas nicht thun?«
»So weiß ich's auch gewiß.«
»Sehr wohl; so können Sie also beschwören, daß Sie diesen Hund nicht in die Kirche eingeschlossen haben?«
»Wenn der Hund in der Kirche gewesen wäre, so hätte ich ihn gesehen.«
»Haben Sie gute Augen?«
»Meine Augen sind so gut als die andrer Leute auch.«
»Sind Sie nicht vor etwa einem halben Jahr in ein Kalb hineingelaufen, das ausgeweidet, mit weit offenem Bauch vor einem Metzgerladen hing?«
»Ich kann durchaus nicht einsehen, welchen Wert es hat, einem Mann in meiner Stellung mit einer solchen Frage zu kommen?«
»Wollen Sie nicht die ausnehmende Liebenswürdigkeit haben, dessenungeachtet diese Frage zu beantworten, als habe sie den größten Wert?«
»Es ist richtig, daß ich mich an einem höchst ungeschickt an der Ladenthür eines Metzgers aufgehängten Kalb gestoßen habe.«
»Sie hatten es also nicht gesehen?«
»Ich bin in Gedanken gewesen.«
»Kamen Sie vom Essen, als Sie die Kirche abschlossen?«
»Gewiß.«
»Sind Sie damals, als Sie in das Kalb hineinliefen, auch vom Essen gekommen?«
»Aber ..
»Sie kamen also nicht vom Essen?«
»Doch.«
»Und trinken Sie leichtes oder schweres Bier?«
»Schweres.«
»Wieviel Liter?«
»Zwei«
»Niemals mehr?«
»Manchmal auch drei.«
»Gar nie vier oder fünf oder sechs?«
»Das kommt nur sehr selten vor.«
»Nehmen Sie nach Tisch nie einen Grog?«
»Ab und zu einmal.«
»Mögen Sie ihn lieber stark oder schwach.«
»Nicht allzu schwach.«
»Und wie viel Gläser trinken Sie davon?«
»Das kommt darauf an.«
»Können Sie beschwören, daß Sie nicht manchmal drei, ja sogar vier Gläser trinken?«
Da der Kirchendiener immer blauer und blauer wurde im Gesicht und keine Antwort mehr gab, setzte sich mein Anwalt und sagte, während er sich niederließ, nur noch: »Dies Verhör genügt völlig, um zu beweisen, daß der Zeuge, der nach Tisch die Kälber nicht sieht, weil er so in Gedanken ist, den Hund ganz leicht in die Kirche eingeschlossen haben kann, ohne es zu merken; das allein wollte ich feststellen.«
Für mein Leben gern wäre ich meinem Verteidiger um den Hals gefallen, denn wenn Capi in die Kirche eingeschlossen worden war, was keineswegs unmöglich erschien, so hatte ich ihn nicht hineingebracht und war unschuldig, denn sonst lag kein Belastungsbeweis gegen mich vor.
Nach dem Küster wurden die andern Leute vernommen, die mit ihm nach der Kirche gegangen waren, und außer dem offenen Fenster, durch das die Diebe entflohen waren, gar nichts gesehen hatten.
Dann kamen Bob, seine Gefährten und der Wirt, meine Entlastungszeugen, an die Reihe, und diese befanden sich mit ihren Angaben über die Verwendung meiner Zeit in völliger Uebereinstimmung; nur über einen Punkt, den Hauptpunkt, über die Zeit, zu der ich den Festplatz verlassen hatte, ließ sich nichts Genaues ermitteln.
Nach beendetem Verhör fragte mich der Richter, ob ich nichts mehr zu sagen habe, bemerkte aber gleichzeitig, daß ich auch das Recht habe zu schweigen, wenn ich wolle.
Ich erwiderte, ich sei unschuldig und verlasse mich auf die Gerechtigkeit des hohen Gerichts.
Nun ließ der Richter das Protokoll über die eben gehörten Aussagen verlesen und teilte mir dann mit, daß ich in das Kreisgefängnis überführt und dort in Untersuchungshaft gehalten werden würde, bis das Landgericht darüber befunden habe, ob ich vor das Schwurgericht komme oder nicht.
Das Schwurgericht!
Kraftlos brach ich auf meiner Bank zusammen: ach, warum hatte ich nicht auf Mattia gehört!