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Als ich wieder aufwachte, lag ich in einem Bett, und das Zimmer, in dem ich mich befand, wurde von einem hellen Feuer erleuchtet.
Das Zimmer war mir fremd und fremd auch die Gestalten, von denen ich mich umgeben sah. Da waren ein Mann in grauer Jacke und gelben Holzschuhen und drei oder vier Kinder, von denen mir besonders ein etwa sechsjähriges kleines Mädchen auffiel, dessen verwunderte, merkwürdige, sprechende Augen fest auf mich geheftet waren.
Ich richtete mich auf, und alle drängten sich um mich.
»Vitalis?« fragte ich.
»Er verlangt nach seinem Vater,« sagte ein junges Mädchen, das älteste der Kinder.
»Er ist nicht mein Vater, er ist mein Herr; wo ist er und wo ist Capi?«
Wäre Vitalis mein Vater gewesen, so hätte man mir wahrscheinlich sehr vorsichtig und schonend von ihm gesprochen, da er aber nur mein Herr war, sagte man mir schlechtweg die Wahrheit.
Die Thür, an die wir uns gelehnt halten, war die eines Gärtners gewesen, und als dieser sie gegen zwei Uhr morgens geöffnet hatte, um auf den Markt zu gehen, hatte er uns unter unsrer Strohdecke gefunden. Zuerst hatte man uns aufstehen heißen, damit der Wagen herausgebracht werden könne; da wir aber beide keine Antwort gaben, und nur Capi zu unsrer Verteidigung bellte, hatte man ein Unglück geahnt und eine Laterne herbeigeholt, bei deren Schein man entdeckte, daß Vitalis tot, daß er erfroren und daß ich nicht viel besser daran war. Da mir aber durch Capi noch ein wenig Herzwärme erhalten geblieben war, hatte ich der Kälte länger widerstehen können und atmete noch. Der Gärtner hatte mich dann in sein Haus getragen und in das Bett eines seiner Kinder gelegt, das rasch aufgestanden war. Sechs Stunden lang war ich wie tot dagelegen, dann aber war das Blut wieder in Umlauf gekommen, der Atem kräftiger geworden und ich aufgewacht.
So betäubt und gelähmt ich mich auch an Körper und Geist noch fühlte, so war ich doch wach genug, um das, was ich eben gehört hatte, in seiner vollen Tragweite zu fassen – Vitalis tot!
Während der Mann in dem grauen Wams, das heißt der Gärtner, mir dies alles erzählte, verwandte das kleine Mädchen mit den verwunderten Augen keinen Blick von mir, und als ihr Vater sagte, Vitalis sei tot, schien sie instinktiv zu fühlen, welch ein Schlag dies für mich war, denn rasch verließ sie ihre Ecke, trat zu ihrem Vater, legte eine Hand auf seinen Arm und deutete mit der andern auf mich, während sie einen eigentümlichen Ton vernehmen ließ, der nicht wie menschliche Rede, sondern wie ein sanfter, mitleidiger Seufzer klang.
Uebrigens war diese Bewegung so beredt, daß sie nicht mit Worten erläutert zu werden brauchte; ich fühlte aus dieser Gebärde und aus dem Blick, womit sie begleitet wurde, eine solche Sympathie heraus, daß ich zum erstenmal seit meiner Trennung von Arthur jenes unbeschreibliche Gefühl von Vertrauen und Zärtlichkeit empfand, das mich einstens überkam, wenn mich Mutter Barberin ansah, ehe sie mich küßte. Vitalis war gestorben, und ich verlassen, aber dennoch war es mir, als stehe ich nicht allein, als hätte ich ihn noch an meiner Seite.
»Nun ja, Lieschen,« sagte der Vater und beugte sich über sein Töchterchen, »freilich thut's ihm weh, aber die Wahrheit muß er ja doch erfahren, und sagen wir's ihm nicht, so thut's die Polizei.«
Dann erzählte er mir noch weiter, daß man die Polizei geholt habe, und daß Vitalis fortgebracht worden sei, während man mich in das Bett seines ältesten Sohnes Alexis gesteckt habe.
»Und Capi?« fragte ich, sobald er zu Ende war:
»Capi!?«
»Ja, der Hund.«
»Von dem weiß ich nichts, er ist verschwunden.«
»Er ist der Tragbahre gefolgt,« sagte eines der Kinder.
»Hast du es gesehen, Benjamin?«
»Das will ich meinen! Mit gesenktem Kopf folgte er den Trägern auf der Ferse und sprang von Zeit zu Zeit auf die Tragbahre hinauf; jagte man ihn dann wieder herunter, so stieß er ein klägliches Winseln aus.«
Armer Capi! Wie oft hatte er als guter Schauspieler mit kläglicher Miene im Spaß der Leiche Zerbinos das Geleite gegeben und geseufzt, daß sich selbst die verdrießlichsten Kinder vor Lachen ausschütten wollten!
Der Gärtner und seine Kinder ließen mich allein, und ohne recht zu wissen, was ich that oder was ich thun sollte, stand ich auf.
Meine Harfe lag am Fußende meines Bettes; ich schlang das Tragband um meine Schulter und trat in das Gelaß nebenan. Ich mußte fort. Wohin, wußte ich selbst nicht, aber ich fühlte, daß ich gehen müsse, und ich ging.
Im Bett hatte ich mich wohl wie zerschlagen, sonst aber verhältnismäßig wohl gefühlt; als ich nun aber auf den Füßen stand, mußte ich mich einen Augenblick an einem Stuhl halten, um nicht umzufallen. Der Gärtner und seine Kinder saßen bei dem hellen Kaminfeuer an einem Tisch und aßen eine Kohlsuppe, deren Geruch mir meinen Hunger aufs grausamste zum Bewußtsein brachte; eine Ohnmacht wandelte mich an und ich wankte.
»Ist es dir schlecht, mein Junge?« fragte der Gärtner mitleidig.
Ich bejahte dies und bat, mich noch einen Augenblick am Feuer ausruhen zu dürfen. Allein mir that nicht Wärme, sondern was zu Essen not, und durch das Feuer wurde mir nicht besser, während der von der Suppe aufsteigende Dampf, das Klappern der Löffel und das Schmatzen der Zungen meine Schwäche nur noch steigerten.
Ach, wenn ich es nur über mich vermocht hätte, wie gerne hätte ich um einen Teller Suppe gebeten, allein Vitalis hatte mich nie gelehrt, die Hand um Almosen auszustrecken, und die Natur hatte mich nicht zum Betteln geschaffen – so wäre ich denn eher vor Hunger gestorben, als daß ich gesagt hätte: »Gebt mir zu essen! Ich habe Hunger.«
Das kleine Mädchen mit dem merkwürdigen Blick, das von seinem Vater Lieschen genannt wurde und nicht sprechen konnte, saß mir gegenüber und betrachtete mich, statt zu essen, unverwandt mit seinen großen Augen. Plötzlich stand die Kleine auf, trug ihren vollen Teller zu mir herüber und setzte ihn auf meine Kniee.
Mit einer schwachen Handbewegung, denn ich konnte vor Schwäche nicht sprechen, wollte ich ihr danken, aber ihr Vater ließ mir nicht Zeit dazu.
»Nimm nur, mein Junge,« sagte er, »was Lieschen thut, ist wohlgethan. Iß nur, wenn dir's schmeckt, ist noch mehr da.«
Ob mir's schmeckte! In wenigen Sekunden war die Suppe verschlungen. Als ich meinen Löffel weglegte, stieß das kleine Mädchen einen Ausruf der Zufriedenheit aus, nahm dann meinen Teller, ließ ihn von dem Vater aufs neue füllen und brachte ihn mir mit einem sanften, so aufmunternden Lächeln wieder zurück, daß ich trotz meines Hungers einen Augenblick vergaß, ihr die Suppe abzunehmen.
Die zweite Ladung Suppe war ebenso rasch verschwunden wie die erste, und diesmal verwandelte sich das Lächeln der Kinder, die mir zusahen, in lautes Gelächter.
»Nun, mein Junge,« sagte der Gärtner, »du schlägst eine gute Klinge.«
Ich fühlte, daß ich bis unter die Haare errötete, und hielt es nach einem Augenblick der Ueberlegung für das Klügste, den wahren Sachverhalt zu erzählen, statt in den Verdacht der Gefräßigkeit zu kommen, und erwiderte deshalb, ich hätte am Tag zuvor weder zu Mittag noch zu Nacht gegessen.
»Und gefrühstückt?«
»Ebensowenig.«
»Und dein Herr?«
»Der hat auch nicht mehr gegessen als ich.«
»Dann ist er nicht nur der Kälte, sondern auch dem Hunger erlegen.«
Die Suppe hatte mich wieder gekräftigt, und ich stand auf, um zu gehen.
»Was hast du denn vor?« fragte der Vater.
»Ich will jetzt gehen.«
»Wohin gehst du?«
»Das weiß ich nicht.«
»Hast du Freunde oder Landsleute in Paris?«
»Nein, niemand.«
»Wo wohnst du?«
»Wir haben keine Wohnung, wir sind erst gestern angekommen.«
»Was willst du denn anfangen?«
»Ich will die Harfe spielen und meine Lieder dazu singen und so mein Brot verdienen.«
»Und wo denn?«
»In Paris.«
»Du thätest besser daran, in deine Heimat, zu deinen Angehörigen zurückzukehren. Wo wohnen denn deine Eltern?«
»Ich habe keine Eltern.«
»Du sagtest aber doch, der Alte mit dem weißen Bart sei nicht dein Vater gewesen?«
»Das war er auch nicht; ich habe weder Vater noch Mutter, noch sonst irgend jemand, und mein Herr hat mich dem Mann meiner Pflegemutter abgekauft ... Ihr seid gut gegen mich gewesen, und ich danke Euch von ganzem Herzen dafür; wenn Ihr wollt, so komme ich nächsten Sonntag wieder und spiele Euch auf der Harfe zum Tanz auf.«
Mit diesen Worten wendete ich mich der Thüre zu, aber kaum hatte ich einige Schritte gemacht, so lief Lieschen mir nach, faßte mich bei der Hand und deutete lächelnd auf die Harfe.
Das war nicht mißzuverstehen.
»Du willst, ich soll etwas spielen?«
Sie nickte mit dem Kopf und klatschte fröhlich in die Hände.
»Ja,« stimmte der Vater zu, »spiele ihr eins auf!«
So wenig heiter es mir auch zu Mute war, so fing ich doch an, einen Walzer zu spielen, und zwar den, der mir am allergeläufigsten war. Ach, wie glücklich wäre ich gewesen, wenn ich hätte wie Vitalis spielen und dadurch dem kleinen Mädchen Freude machen können, denn Lieschens Blicke rührten mein Herz.
Zu Anfang lauschte sie nur und hielt dabei ihre Augen unverwandt auf mich gerichtet und schlug mit dem Fuß den Takt, aber plötzlich begann sie sich mit strahlendem Antlitz anmutig zu drehen und zu wenden; wohlverstanden, sie tanzte nicht Walzer und machte nicht die gewöhnlichen Tanzschritte, aber sie schwebte, wie hingerissen und getragen von der Musik, in der Küche hin und wider.
Ihr Vater saß am Kamin und verwandte keinen Blick von ihr – er schien tief ergriffen zu sein und klatschte wiederholt in die Hände. Als der Walzer zu Ende war und ich zu spielen aufhörte, stellte Lieschen sich zierlich vor mir auf und machte mir eine schöne Verbeugung, berührte aber sofort meine Harfe mit ihrem Finger und machte ein Zeichen, das deutlich sagte: »Noch mehr!«
Mit Vergnügen hätte ich ihr den ganzen Tag aufgespielt, aber ihr Vater sagte, es sei genug, weil er nicht wollte, daß sie sich durch das Tanzen überanstrengte.
Deshalb begann ich, statt einen Tanz zu spielen, mein Glanzstück, das schwermütige, süße, neapolitanische Lied zu singen, das mich Vitalis gelehrt hatte.
Schon beim ersten Takt setzte sich Lieschen mir gegenüber, blickte mir fest in die Augen und bewegte leise die Lippen, als wiederhole sie meine Worte; als dann die Klänge immer trauriger wurden, wich sie um einige Schritte zurück, und bei der letzten Strophe warf sie sich weinend in ihres Vaters Schoß.
»Genug,« sagte dieser.
»Ist die einmal dumm,« bemerkte der Bruder Benjamin; »erst tanzt sie und dann fängt sie plötzlich zu weinen an.«
»Nicht so dumm wie du, denn sie hat's verstanden,« entgegnete die ältere Schwester und küßte Lieschen.
Unterdessen hatte ich meine Harfe wieder um die Schulter gehängt und mich der Thüre zugewendet.
»Wohin gehst du denn?« fragte der Gärtner.
»Ich ziehe jetzt weiter.«
»Dein Musikantenberuf ist dir wohl sehr ans Herz gewachsen?«
»Ich habe keinen andern.«
»Fürchtest du dich denn nicht so allein auf den Landstraßen?«
»Ich habe kein Haus und keine Heimat.«
»Die vergangene Nacht sollte dir aber doch zu denken gegeben haben.«
»Ein gutes Bett und ein warmes Feuer wären mir wahrhaftig lieber.«
»Wenn du dir ein gutes Bett und ein Plätzchen am Kaminfeuer durch redliche Arbeit verdienen willst, so kannst du bei uns bleiben. Natürlich kann ich dir kein Leben des Reichtums und des Müßigganges bieten, sondern du müßtest dich anstrengen und abmühen, des Morgens früh aufstehen, des Tages über schaufeln und graben und im Schweiß deines Angesichtes dein Brot essen. Dafür hättest du aber dein gesichertes Unterkommen und brauchtest nicht mehr, wie letzte Nacht, im Freien zu übernachten und würdest nicht mehr Gefahr laufen, in irgend einem Straßengraben zu Grunde zu gehen. Des Abends fändest du dein warmes Bett, und deine Suppe würde dir doppelt gut schmecken, weil du sie dir selbst verdient hättest. Und dann würdest du, wenn du, wie ich überzeugt bin, ein braver Junge bist, in uns eine Familie finden.«
Lieschen hatte sich nach mir umgewendet und lächelte mir durch ihre Thränen zu.
Von diesem Vorschlag überrascht, stand ich ganz verblüfft da und vermochte mir das Gehörte gar nicht so rasch klar zu machen.
Lieschen klatschte in die Hände und lachte.
»Nun,« begann der Vater wieder, »leuchtet dir mein Vorschlag ein?«
Eine Familie!
Ich sollte eine Familie haben! Ach wie oft schon war dieser schöne Traum wieder in nichts zerflossen: Mutter Barberin, Frau Milligan, Vitalis – von allen hatte mich das Schicksal wieder getrennt, und nun sollte ich doch nicht allein bleiben in der Welt!
Also war noch nicht alles für mich zu Ende und neues Hoffen zog ein in mein Herz, als ich daran dachte, daß diese Jungen meine Brüder, dies reizende kleine Lieschen meine Schwester sein sollte, und rasch entschlossen nahm ich meine Harfe von der Schulter.
»Das ist die beste Antwort,« sagte der Vater und lachte; »hänge dein Instrument an diesen Nagel, mein Junge, und wenn es dir einmal nicht mehr wohl bei uns ist, nimmst du es von der Wand und machst dich wieder davon; nur mußt du dann, wie die Schwalben und Nachtigallen, die richtige Jahreszeit zur Wanderschaft abwarten.«
Der Gärtner, an dessen Thür wir zusammengebrochen waren, hieß Acquin, und in dem Augenblick, wo ich in die Familie aufgenommen wurde, bestand diese aus fünf Personen, aus dem Vater, Peter, den zwei Söhnen Alexis und Benjamin, der ältesten Tochter Etiennette und dem jüngsten Kind, dem Lieschen.
Lieschen war stumm, aber nicht von Geburt an, das heißt, ihr Stummsein war nicht aus Taubheit entstanden; zwei Jahre lang hatte sie ganz gut gesprochen, dann aber infolge von Krämpfen plötzlich die Sprache verloren, doch war glücklicherweise ihr Verstand nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, sondern hatte sich im Gegenteil ganz ungewöhnlich entwickelt; sie begriff nicht nur alles, sondern wußte sich auch ganz gut verständlich zu machen. In vielen armen Familien kommt es häufig vor, daß ein Kind um eines körperlichen Gebrechens willen vernachlässigt und zurückgesetzt wird, allein Lieschen war der Abgott der ganzen Familie, und namentlich ihr Vater sah nur mit ihren Augen.
Frau Acquin war nach Lieschens Geburt gestorben, und von diesem Tag an war Etiennette, obgleich sie nur zwei Jahre mehr zählte als der älteste der beiden Jungen, an ihre Stelle getreten. Statt in die Schule zu gehen, hatte sie zu Hause bleiben, kochen, flicken und Lieschen warten müssen; man hatte ganz vergessen, daß sie auch Tochter und Schwester war, und sich daran gewöhnt, sie ganz als Magd zu betrachten, und zwar als eine Magd, mit der man nicht viel Umstände zu machen brauchte, da man ja wußte, daß sie das Haus doch nicht verlassen konnte und nie böse wurde. Vom frühen Morgen bis späten Abend für Vater und Geschwister beschäftigt und besorgt, dabei noch am Waschfaß und im Garten thätig, hatte Etiennette nie Zeit gehabt, ein Kind zu sein und zu lachen und zu spielen. Mit vierzehn Jahren war ihr Gesicht so traurig und so alt, als das einer alten Jungfer von fünfunddreißig, nur daß es von einem sanften Schimmer der Ergebung von innen heraus erhellt wurde.
Noch keine fünf Minuten waren vergangen, seit ich meine Harfe an den Nagel gehängt hatte, und ich war eben im Begriff, zu erzählen, als Vitalis und ich in der vergangenen Nacht von Kälte und Erschöpfung überwältigt worden waren, als an der in den Garten führenden Thür gekratzt wurde und gleichzeitig ein klägliches Winseln ertönte.
»Das ist Capi,« rief ich und sprang auf, aber Lieschen kam mir zuvor und öffnete die Thür.
Mit einem Satz sprang Capi auf mich los, und als ich ihn auf die Arme genommen hatte, fing er an, mir das Gesicht zu lecken und Freudentöne auszustoßen, während er am ganzen Körper zitterte.
»Und Capi?« fragte ich den Gärtner.
»Nun, Capi bleibt, wo du bist.«
Als ob er verstanden hätte, wovon die Rede war, sprang das kluge Tier zur Erde, legte die rechte Hand auf seine Brust und machte eine Verbeugung. Das freute die Kinder, besonders Lieschen, ungemein, und ich wollte ihnen noch irgend ein anderes Kunststück Capis vorführen, allein dieser hatte keine Lust dazu, sondern sprang wieder auf meinen Schoß und umarmte mich aufs neue; dann fing er an, mich am Aermel meiner Jacke zu zupfen.
»Er will, daß ich hinausgehe.«
»Um dich zu deinem Herrn zu führen.«
Die Polizeidiener hatten, ehe sie Vitalis forttrugen, gesagt, sie kämen im Lauf des Tages wieder, weil sie meiner Aussagen bedürften. Dies konnte aber noch lange andauern, und ich war sehr begierig, Nachricht von Vitalis zu bekommen, der vielleicht doch nicht tot war, wie man angenommen hatte. Vater Peter erklärte sich bereit, mit mir auf das Polizeibüreau zu gehen. Dort richtete man allerlei Fragen an mich, auf die ich antwortete, als ich mich über den Tod meines Herrn vergewissert hatte. Was ich zu sagen wußte, war einfach genug, aber der Kommissär wollte mehr wissen und fragte mich des langen und breiten aus über Vitalis und mich.
Von mir sagte ich nur, daß ich keine Eltern hatte und daß mich Vitalis um eine Summe Geld von dem Mann meiner Pflegemutter gemietet hatte.
»Und was soll nun aus dir werden?« fragte der Kommissär.
Hier sprang Vater Peter für mich ein.
»Wir wollen die Sorge für ihn auf uns nehmen, wenn Sie ihn uns anvertrauen,« sagte er.
Damit war der Kommissär nicht nur einverstanden, sondern er belobte den Mann auch noch wegen dieser guten That.
Nun sollte ich aber über Vitalis Auskunft geben, und das fiel mir bedeutend schwerer, da ich nur wenig oder nichts von ihm wußte.
Allerdings gab es einen geheimnisvollen Punkt, über den ich hätte reden können, und das waren die Ereignisse bei unsrer letzten Vorstellung, wo Vitalis durch seinen Gesang die Bewunderung und das Erstaunen einer vornehmen Dame erregt hatte, und außerdem noch die Drohungen Garofolis. Aber durfte ich nach dem Tod meines Herrn enthüllen, was er zu seinen Lebzeiten geheim gehalten hatte?
Doch ist es für ein Kind nicht leicht, vor einem Polizeikommissär, der sein Handwerk versteht, etwas geheim zu halten, denn diese Leute wissen ihre Fragen so zu stellen, daß man ihnen nicht entwischen kann.
Das war natürlich auch bei mir der Fall, und in weniger als fünf Minuten wußte der Polizeibeamte alles, was er hatte erfahren und was ich nicht hatte sagen wollen.
»Man braucht den Jungen nur zu Garofoli zu führen,« sagte er zu einem Schutzmann, »ist er einmal in der Rue de Lourcine, so wird er das Haus leicht wiederfinden: Sie gehen dann mit ihm hinauf und vernehmen den Garofoli.«
Der Schutzmann, Vater Peter und ich machten uns auf den Weg.
Wie der Kommissär vermutet hatte, fand ich das Haus ohne Schwierigkeit wieder, und wir gingen in den vierten Stock hinauf. Mattia war vermutlich ins Spital gebracht worden, denn ich sah ihn nirgends. Als Garofoli einen Polizeidiener eintreten sah und mich erkannte, verfärbte er sich vor Angst und Schrecken, allein er beruhigte sich schnell, als ihm der Schutzmann sagte, was uns zu ihm führte.
»Ach, ist der arme alte Mann gestorben?« sagte er.
»Sie haben ihn gekannt?«
»Gewiß.«
»Nun, so sagen Sie mir, was Sie von ihm wissen.«
»Das ist schnell erzählt. Er hieß nicht Vitalis, sondern Carlo Balzani, und hätten Sie vor dreißig bis vierzig Jahren in Italien gelebt, so würde Ihnen dieser Name allein schon sagen, wer der Mann war, nach dem Sie sich erkundigen. Carlo Balzani war zu jener Zeit der berühmteste Sänger Italiens und feierte unerhörte Triumphe auf unsern großen Bühnen. Seine Erfolge in Neapel, Rom, Mailand, Venedig, Florenz, London und Paris sind bekannt. Allein eines schönen Tages verlor er seine Stimme, und weil er nicht mehr als der König der Sänger glänzen konnte, wollte er seinen Ruhm nicht dadurch schmälern, daß er auf Theatern zweiten und dritten Ranges auftrat; er vertauschte seinen Namen Carlo Balzani mit Vitalis und hielt sich vor allen verborgen, die ihn in besseren Zeiten gekannt hatten. Da er aber doch leben mußte, versuchte er es mit mancherlei, aber alles schlug ihm fehl, und er kam immer weiter herunter, bis er endlich mit abgerichteten Hunden herumzog. Aber in all diesem Elend hat er sich seinen Stolz bewahrt, und er wäre gestorben vor Scham, wenn es im Publikum bekannt geworden wäre, daß aus dem herrlichen, glänzenden Carlo Balzani der arme Vitalis geworden war. Auch ich bin nur durch Zufall in Besitz dieses Geheimnisses gekommen.«
Also dies war die Lösung des Rätsels, über dem ich mir so oft den Kopf zerbrochen hatte!
Armer Carlo Balzani, vielgeliebter Vitalis!