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Siebenunddreißigstes Kapitel.
Die schönen Windeln haben gelogen

Meine Brüder Allen und Ned hatten mein Entgegenkommen von Anfang an nur mit gehässigem Widerwillen gelohnt und alles, was ich ihnen Freundliches thun wollte, übel aufgenommen – in ihren Augen war ich offenbar kein Bruder. Nach dem Abenteuer mit Capi aber prägte sich der Gegensatz zwischen uns noch schroffer aus, und ich bedeutete ihnen allerdings nicht in Worten – denn ich konnte ja nicht gut genug englisch – aber vermittelst einer Zeichensprache, in der meine Fäuste eine Hauptrolle spielten, daß ich Capis Verteidiger oder Rächer wäre, falls sie auch nur das Geringste gegen ihn unternehmen würden.

Da ich also keine Brüder hatte, wollte ich gerne Schwestern haben, aber mit Annie, der ältesten der beiden Mädchen, ging es mir kein Haar besser, als mit den Brüdern, und sie ließ keinen Tag vergehen, ohne mir irgend einen Possen zu spielen, worin sie sehr erfinderisch war.

Von Allen, Ned und Annie zurückgestoßen, blieb mir nur die kleine Kate, die mit ihren drei Jahren noch nicht mit den älteren Geschwistern gemeinschaftliche Sache machen konnte und deshalb willig meine Liebkosungen duldete, anfangs allerdings auch, weil ich ihr von Capi Kunststücke vormachen ließ, und später, als Capi mir zurückgegeben worden war, weil ich ihr die Orangen und andre Näschereien heimbrachte, die uns bei unsern Vorstellungen von den zuschauenden Kindern »für den Hund« geschenkt wurden. Vielleicht war es nicht sehr verständig, einem Hund Orangen zu schenken, aber ich nahm sie dankbar an, denn sie halfen mir ja, Fräulein Kates Gunst zu erobern.

So war also von der ganzen Familie, der mein Herz bei meiner Landung mit so heißer Liebe entgegengeschlagen hatte, Kate die einzige, die mir gestattete, sie zu lieben. Mein Großvater spuckte beharrlich nach mir, wenn ich mich unterfing, ihm zu nahen; mein Vater kümmerte sich nur des Abends um mich, wenn es galt, ihm unsre Einnahme abzuliefern; meine Mutter war meistens nicht von dieser Welt, Allen, Ned und Annie konnten mich nicht ausstehen, und nur Kate durfte ich lieb haben, weil ich immer mit vollen Taschen heimkam.

So kam ich doch nach und nach dazu, mich zu fragen, ob Mattia nicht doch recht habe und ob man nicht, wenn ich wirklich ein Kind dieses Hauses wäre, andre Gefühle für mich hegen würde, als die, die man jetzt so unverhohlen zur Schau trug, und die nicht verdient zu haben, ich mir bewußt war.

Wenn Mattia sah, daß ich unter dem Einfluß dieser trüben Gedanken stand, sagte er nur so obenhin, als ob er mit sich selbst spräche: »Ich bin nur begierig, was Mutter Barberin schreibt.«

Um diesen Brief, den ich mir hatte postlagernd schicken lassen, abzuholen, hatten wir schon oft die größten Umwege gemacht, aber immer vergebens. Endlich wurde uns aber doch der so ungeduldig erwartete Brief eingehändigt.

Da das Hauptpostamt keineswegs ein sehr geeigneter Ort war, den Brief zu lesen, begaben wir uns nach einem Thorweg in einem benachbarten Gäßchen, und dort öffnete und las ich den Brief Mutter Barberins, das heißt den Brief, den sie durch den Pfarrer von Chavanon hatte schreiben lassen:

 

»Mein lieber Remi!

»Ich bin sehr überrascht und sehr böse über das, was mir Dein Brief mitteilt, denn nach dem, was mir mein armer Barberin immer gesagt hat, sowohl nachdem er Dich gefunden, als auch nachdem er den Herrn gesprochen hatte, der Dich suchte, hatte ich geglaubt, Deine Eltern befinden sich nicht nur in guten, sondern in glänzenden Vermögensverhältnissen.

»Dieser Gedanke wurde durch die Kleidung, die Du trugst, als Du nach Chavanon kamst und die ganz sicherlich nur zu der Ausstattung eines Kindes reicher Leute gehören konnte, völlig bestätigt. Du bittest um eine genaue Beschreibung des Kindszeugs, in das Du eingemacht gewesen bist, und die kann ich Dir leicht geben, weil ich all diese Sachen aufbewahrt habe in der Voraussetzung, sie könnten eines Tages als Kennzeichen dienen.

»Zuerst muß ich aber vorausschicken, daß Du keine Windeln hattest, und daß ich nur aus alter Gewohnheit immer von Windeln sprach, weil bei uns die Kinder gewickelt werden. Du warst nicht gewickelt, sondern im Gegenteil ganz angezogen und hattest folgende Gegenstände an Dir: ein Spitzenhäubchen, an dem außer seiner Kostbarkeit und Schönheit nichts Besondres ist; ein kurzes Hemdchen aus feiner Leinwand, an den Armlöchern mit schmaler Spitze besetzt; ein Flanelltuch; weiße wollene Strümpfe; weiße gestrickte Schuhchen mit seidenen Quasten; ein langes Tragkleid, ebenfalls aus weißem Flanell und einen großen, mit Seide gefütterten, schöngestickten Kaschmirmantel mit Kapuze.

»Die Windel, die Du hattest, als Du nach Chavanon kamst, gehörte nicht zu der nämlichen Kindsaussteuer, denn man hatte Dich bei dem Polizeikommissar trocken gelegt und Deine Windel mit einem gewöhnlichen Handtuch vertauscht.

»Schließlich muß ich auch noch bemerken, daß keiner dieser Gegenstände gezeichnet ist, daß aber das Hemdchen und die Flanellwindel es gewesen sein müssen, denn die Ecken, wo man gewöhnlich die Zeichen anbringt, waren ausgeschnitten, was beweist, daß man alle mögliche Vorsicht angewendet hat, um etwaige Nachforschungen zu vereiteln.

»Dies, mein lieber Remi, ist alles, was ich Dir sagen kann. Bedarfst Du dieser Gegenstände, so brauchst Du mir's nur zu schreiben, dann schicke ich sie.

»Sei nicht betrübt, mein liebes Kind, daß Du mir nicht all die schönen Sachen schenken kannst, die Du mir versprochen hast; die Kuh, die Du Dir für mich am Mund abgespart und im Schweiß Deines Angesichts verdient hast, wiegt für mich alle Geschenke der Welt auf. Ich freue mich, Dir berichten zu können, daß sie immer gesund ist; ihre Milch nimmt nicht ab, und ihr danke ich's, daß ich jetzt sorgenlos leben kann, und ich sehe sie nie an, ohne an Dich und Deinen kleinen Kameraden Mattia zu denken.

»Es würde mir große Freude machen, wenn Du mir Nachricht von Dir geben könntest und mich Gutes hören ließest. Wie solltest Du, der Du so zärtlich und liebevoll bist, Dich auch in Deiner Familie, bei Vater, Mutter und Geschwistern, die Dich sicherlich lieben, wie Du's verdienst, anders, als glücklich fühlen?

»Lebe wohl, liebes Kind, ich schicke Dir einen herzlichen Kuß.

Deine treue Pflegemutter,
Witwe Barberin.«

 

Der Schluß dieses Briefes drückte mir fast das Herz ab. Meine Mutter Barberin, wie gut meinte sie's mit mir! Weil sie mich liebte, glaubte sie, jedermann müsse mich ebenso lieb haben!

»Sie ist eine wackere Frau,« sagte Mattia, »sie hat auch an mich gedacht, aber selbst, wenn sie mich vergessen hätte, wäre ich ihr doch für diesen Brief dankbar. Nun, wo wir eine so vollständige Beschreibung haben, mag der Herr Driscoll zusehen, daß er sich bei der Aufzählung der Gegenstände, die du anhattest, als du gestohlen wurdest, ja nicht täuscht.«

»Er kann das vergessen haben.«

»Sag doch so was nicht! Wer wird denn die Kleider vergessen, die ein Kind an dem Tag, wo's gestohlen wurde, anhatte, wenn doch diese Gegenstände das einzige Erkennungszeichen sind?«

»Bitte, behalte alle deine Vermutungen bei dir, bis mein Vater geantwortet hat.«

»Du hast Vermutungen ausgesprochen, nicht ich. Du hast gesagt, er könne es vergessen haben.«

»Nun, wir werden ja sehen.«

Es war nicht leicht, meinen Vater nach den Kleidern zu fragen, die ich am Tag meines Verschwindens getragen hatte. Hätte ich diese Frage ganz harmlos, ohne Hintergedanken an ihn richten können, so wäre nichts einfacher gewesen; so aber machte mich gerade dieser Hintergedanke zaghaft und ängstlich.

Endlich, an einem Tag, wo uns der Regen früher als gewöhnlich heimgetrieben hatte, faßte ich Mut und lenkte das Gespräch auf den Gegenstand, der mich in so peinigende Angst versetzte.

Beim ersten Wort, das ich verlauten ließ, sah mich mein Vater, wie immer, wenn ihm eine Aeußerung von mir mißfiel, mit einem durchbohrenden Blick in die Augen, aber ich hielt ihn tapferer aus, als ich von mir selbst erwartet hatte.

Ich fürchtete, er werde zornig werden, und warf einen besorgten Blick nach Mattia, der uns unbemerkt zuhörte, um ihm zu zeigen, welche Unvorsichtigkeit ich auf seinen Rat hin begangen hatte, aber es geschah nichts derart. Nachdem er die erste Anwandlung von Zorn unterdrückt hatte, lächelte mein Vater, wenngleich etwas Hartes und Grausames in diesem Lächeln lag – immerhin war es ein Lächeln.

»Gerade die Beschreibung der Kleidungsstücke, die du trugst, als du gestohlen wurdest, hat am meisten zu deiner Entdeckung beigetragen: ein Spitzenhäubchen, eine Windel und ein Tragkleid aus Flanell, wollene Strümpfe, gestrickte Schuhe, ein gestickter weißer Kaschmirmantel mit Stickerei. Ich hatte mich sehr auf die Zeichen in deinem Zeuge ›F. D.‹, das heißt Francis Driscoll, verlassen, aber die, die dich stahl, hat die Buchstaben ausgeschnitten, weil sie hoffte, deine Auffindung dadurch zu verhindern. Auch deinen Taufschein mußte ich beibringen, aber man hat mir ihn zurückgegeben, und ich muß ihn noch irgendwo haben.«

Mit einer bei ihm ganz ungewohnten Gefälligkeit stand er auf, stöberte in einer Schublade herum und brachte mir bald ein großes, mit mehreren Siegeln versehenes Papier.

»Wenn du erlaubst, kann Mattia mir's übersetzen,« sagte ich, mit Aufbietung meiner letzten Kraft.

»Gerne.«

Aus dieser Übersetzung ging hervor, daß ich Donnerstag den 2. August als Sohn des Patrick Driscoll und seiner Ehefrau Margarete, geborene Grange, geboren worden war.

Was konnte man mehr verlangen?

Gleichwohl war Mattia nicht zufrieden gestellt, und als wir uns abends in unsern Wagen zurückgezogen hatten, neigte er sich an mein Ohr wie immer, wenn er mir etwas Geheimnisvolles anzuvertrauen hatte.

»Das alles ist schön und gut,« sagte er, »erklärt aber in keiner Weise, woher Patrick Driscoll, der wandernde Handelsmann, und Margarete Grange, seine Ehefrau, das Geld genommen haben, um ihr Kind in Spitzenhäubchen, spitzenbesetzte Hemdchen und gestickte Mäntel zu kleiden; derartige Leute pflegen gewöhnlich nicht so reich zu sein.«

»Gerade weil sie Kaufleute sind, haben sie diese Sachen vielleicht weniger gekostet.«

Mattia schüttelte den Kopf, pfiff vor sich hin und sagte mir ins Ohr: »Weißt du, welcher Gedanke mir eben durch den Kopf gefahren ist? Ich glaube, daß du nicht das Kind bist, das Driscoll gestohlen worden ist, sondern das, das Driscoll gestohlen hat.«

Ich wollte ihm entgegnen, aber Mattia war schon in sein Bett hinaufgestiegen.


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