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Von nun an drehte sich meine Unterhaltung nur noch um Arthur, Frau Milligan und Herrn James Milligan. Wo weilten Arthur und seine Mutter? Wo konnten wir sie finden?
Durch den Besuch Herrn Milligans waren wir auf einen Gedanken gekommen, der uns ganz vortrefflich schien und unsrer Ansicht nach unfehlbar zum Ziel führen mußte. Da er einmal nach Red Lion Court gekommen war, schien es uns so gut als gewiß, daß er auch ein zweites Mal kommen würde, da er ja offenbar Geschäfte mit meinem Vater hatte. Wenn er dann wieder wegging, sollte Mattia, den er ja nicht kannte, ihm unbemerkt folgen und sehen, wo er wohnte, und wer weiß, vielleicht würde er uns auf diese Weise selbst den Weg zu Arthur zeigen. Warum auch nicht? Das kam uns keineswegs unwahrscheinlich vor.
Dieser schöne Plan hatte nicht nur den Vorteil, mich früher oder später Arthur wiederfinden zu lassen, sondern er kam mir auch zu Hilfe in meinem Widerstand gegen Mattia, der ständig zur Rückkehr nach Frankreich drängte und nicht müde wurde, tagtäglich auf diesen Gegenstand zurückzukommen und ihn von allen Seiten zu beleuchten. Ueber meine Pflichten gegen meine Familie waren wir so verschiedener Ansicht, daß wir uns nie vereinigen konnten, und immer endeten unsre Erörterungen so, daß ich seinem »wir müssen gehen« mein »ich muß bleiben« entgegensetzte.
Nun aber sagte ich: »Ich muß bleiben, um Arthur zu finden,« und dem konnte Mattia nichts entgegenhalten, weil er einsah, daß Frau Milligan von den Absichten ihres Schwagers in Kenntnis gesetzt werden mußte.
Natürlich hätten wir wenig Aussicht gehabt, Herrn Milligan zu erspähen, wenn wir, wie bisher, vom Morgen bis zum Abend draußen gewesen wären, aber jetzt nahte die Weihnachtszeit, in der wir den Tag über zu Hause bleiben und erst in der Nacht ausgehen sollten, denn die » Waits«, die Weihnachtskonzerte, finden mitten in der Nacht statt. Wenn dann, während wir den Tag über zu Hause waren, einer von uns ständig auf der Lauer lag, mußten wir Arthur ja unfehlbar entdecken.
»Wenn du nur wüßtest, wie sehr ich mich danach sehne, daß du Frau Milligan wiederfindest!« sagte Mattia eines Tages zu mir.
»Und warum denn?«
Er zögerte lange mit seiner Antwort, dann sagte er: »Weil sie so gut gegen dich war und dir auch helfen würde, deine Eltern aufzufinden.«
»Ja, ich weiß wohl, du willst nicht, daß ich das sage, aber ich kann mit dem besten Willen nicht einen Augenblick annehmen, daß du zu dieser Familie gehörst. Du bist nun einmal kein Driscoll. Sieh dir doch einmal die übrigen Glieder deiner Familie an! Es sind nicht nur die Flachshaare, du hast auch sonst keine Aehnlichkeit mit ihnen. Hast du das Lächeln oder die Handbewegung deines Großvaters? Hast du jemals einen Stoff gegen die Lampe gehalten und betrachtet, wie der Vater Driscoll? Bist du je einmal betrunken auf dem Tisch gelegen oder hast du, wie Allen und Ned, Capi gelehrt, wollene Strümpfe zu apportieren, die niemand verloren hat? Nein, tausendmal nein! Art läßt nicht von Art! Wärst du ein Driscoll, so hättest du dir manchmal etwas zugeeignet, wenn deine Taschen gerade leer waren, was ja öfters der Fall war. Wie hast du gelebt, während Vitalis im Gefängnis saß? Glaubst du, ein Driscoll wäre hungrig zu Bett gegangen? Würde ich wohl Klapphorn, Klarinette, Posaune und Gott weiß, was sonst noch spielen, ohne es gelernt zu haben, wenn ich nicht der Sohn meines Vaters wäre. Mein Vater war musikalisch, und ich bin es auch: das ist ganz natürlich; bei dir scheint es dagegen ganz natürlich, daß du ein Gentleman bist, und du wirst noch einer werden, wenn wir nur erst Frau Milligan gefunden haben.«
»Wie meinst du das?«
»Ich habe so meine Gedanken.«
»Willst du mir sie nicht sagen?«
»O nein.«
»Warum nicht?«
»Weil sie dumm sind ...«
»Nun?«
»Meine Gedanken wären zu dumm, wenn sie falsch wären, und man soll sich keinen freudigen Hoffnungen hingeben, die sich nicht verwirklichen.«
Ich drang nicht weiter in ihn, denn auch ich hatte so meine Gedanken, aber sie waren unklar, verworren und wagten sich gar nicht recht hervor, und ich war überzeugt, daß sie noch viel dummer waren, als die Mattias. Deshalb drang ich nicht weiter in ihn, denn was hätte ich antworten sollen, wenn er die nämliche Hoffnung äußerte, die mir wie ein Traum verschleiert vor der Seele schwebte?
Es hieß eben warten, und wir warteten.
Unterdessen setzten wir unsre Wanderungen durch London fort, denn wir gehörten nicht zu den bevorzugten Musikanten, die von einem Stadtviertel förmlich Besitz ergreifen und ihr bestimmtes Publikum haben; dazu waren wir noch zu jung, und gar oft mußten wir, im Begriff einzusammeln, nachdem wir unsre schönsten Stücke gespielt hatten, uns schleunigst aus dem Staub machen und einigen greulichen Schotten mit nackten Beinen, gefaltetem Rock, Plaid und federngeschmückter Mütze den Platz räumen, obgleich Mattias Klapphorn ihren Dudelsack leicht hätte übertönen können.
Ebensowenig waren wir den musizierenden Negerbanden gewachsen, diesen unechten Negern, die die Engländer » niggermelodits« nennen, und die in Fräcken mit Schwalbenschwänzen und riesigen Halskragen ausstaffiert durch die Straßen ziehen. Vor ihnen fürchteten wir uns noch viel mehr, als vor den schottischen Barden, und sobald wir von weitem ihre Banjo hörten, verfügten wir uns in einen andern Stadtteil oder verstummten und warteten, bis sie mit ihrem widerlichen Lärm zu Ende waren.
Eines Tages, als wir eben aus diesem Grund auch unter ihren Zuhörern standen, sah ich, wie einer davon, und zwar der tollste, Mattia allerlei Zeichen gab. Zuerst glaubte ich, er wolle uns verspotten und dem Publikum auf unsre Kosten einen Spaß machen, allein zu meiner größten Verwunderung antwortete ihm Mattia aufs freundschaftlichste.
»Kennst du ihn denn?« fragte ich.
»Das ist ja Bob, mein Freund aus dem Cirkus Gaffot, einer der beiden Clowns, von denen ich dir erzählte, daß sie mich englisch gelehrt haben.«
»Du hättest ihn aber nicht erkannt?«
»Potztausend, das ist kein Wunder! Bei Gaffot steckte er den Kopf ins Mehl, und hier streicht er sich schwarz an.«
Als die Vorstellung der » niggermelodits« zu Ende war, kam Bob auf uns zu, und aus der Art, wie er Mattia begrüßte, konnte ich ersehen, wie sehr mein Freund es verstand, sich beliebt zu machen, denn ein Bruder hätte nicht mehr Freude über das Wiedersehen an den Tag legen können, als dieser Clown, der, wie er sagte, durch die »Not der Zeit« gezwungen worden war, sich in einen »fahrenden Musikanten« zu verwandeln. Allein man mußte sich schnell wieder trennen, um den Geschäften nachzugehen, und die Freunde mußten das Vergnügen, sich ihre Erlebnisse zu berichten, auf den nächsten Sonntag verschieben. Aus Freundschaft für Mattia zeigte sich Bob auch gegen mich sehr liebenswürdig, und bald hatten wir an ihm einen Freund gewonnen, dessen Erfahrungen und Ratschläge uns das Leben in London beträchtlich leichter machten. Auch Capi schloß er sehr ins Herz, und gar oft sagte er, mit einem solchen Hund wäre sein Glück gemacht. Mehr als einmal schlug er uns vor, wir sollten uns mit ihm zusammenthun, aber da ich meine Familie nicht verlassen wollte, um nach Frankreich zurückzukehren, wollte ich es noch viel weniger thun, um mit Bob in England herumzuziehen.
So kam die Weihnachtszeit heran, und nun zogen wir statt des Morgens alle Abend gegen acht oder neun Uhr aus, um uns in die von uns gewählte Stadtgegend zu begeben.
Wir beginnen auf den öffentlichen Plätzen und in den Straßen, wo der Wagenverkehr schon nachgelassen hat, denn wir bedürfen einer gewissen Stille, damit unsre Musik durch die geschlossenen Thüren dringt, die Kinder in ihren Bettchen aus dem Schlafe weckt und ihnen verkündet, daß Weihnachten, das Fest der Freude, nahe ist. Rückt der Abend vor, sind die letzten Wagen, die nach Theatern fahren, vorüber, so wird es allmählich stiller und wir gehen auch in die großen Straßen und spielen unsre sanftesten, zärtlichsten Weisen, die Geige Mattias schluchzt, meine Harfe klagt, und während wir einen Augenblick ausruhen, trägt uns der Wind Bruchstücke der Musik andrer Banden aus der Ferne zu. Unser Konzert ist zu Ende: »Meine Herren und Damen, wir wünschen Ihnen eine gute Nacht und fröhliche Weihnachten.«
Dann ziehen wir weiter und beginnen anderswo aufs neue.
Wohl muß es reizend sein, mitten in der Nacht, warm eingewickelt, in seinem Bett den Klängen ferner Musik zu lauschen, aber wir draußen in der Straße haben kein warmes Bett und müssen trotz der Kälte mit steifen, halberfrorenen Händen weiterspielen; bald durchdringt uns der Nebel mit seiner Feuchtigkeit, bald durchschauert uns der eisige Nordwind, daß uns das Mark in den Knochen erstarrt; mag das Wetter sein, wie es will, – für uns ist es niemals angenehm. Diese Zeit vor Weihnachten war für uns sehr hart, denn drei Wochen lang mußten wir jede Nacht hinaus.
Ach, wie oft sind wir nicht, ehe die Läden geschlossen wurden, vor den Auslagen der Geflügel-, Obst- und Kolonialwarenhändler und der Zuckerbäcker stehen geblieben: o die schönen, fetten Gänse, die wohlgemästeten französischen Puten, die zarten, weißen Hühnchen! Hier die Berge von Apfelsinen und Aepfeln, von Kastanien und gedörrten Pflaumen! Ach, und beim Anblick dieser überzuckerten Früchte läuft einem das Wasser im Mund zusammen!
Während wir arm und elend durch die Straßen zogen, sahen wir im Geist die glücklichen, fröhlichen Kinder, die sich in Schloß und Hütte am Weihnachtsabend gerührt und erfreut den Eltern in die Arme werfen.
Fröhliche Weihnachten denen, die geliebt werden!