Hermann Löns
Kraut und Lot
Hermann Löns

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Unter dem Espenbaume

Dem Tag wollen die Augen zufallen. Nur halb kann er noch den Blumen zulächeln, die sich für ihn putzten, und den Vögeln, die ihm zur Ehre singen. Langsam stake ich den Kahn an dem Ufer entlang, starre auf die goldenen Kringel in der dunklen Flut und horche auf das Abendlied der Vögel, das aus den Kronen des Birkenwaldes herüber- und hinüberschallt, Hunderte von Stimmen, die zu einer einzigen großen Lobweise zusammenklingen.

Noch haben die Finken das große Wort und die Meisen, auch klingt des Laubvogels Liedchen deutlich aus dem Geschmetter und Geklingel heraus und des Baumläufers Getriller; aber der Grünspecht lachte zum letzten Male, die Täuber rufen seltener, und die Krähen ziehen quarrend unter dem verschleierten Himmel ihrem Schlummerholze zu. Kecker pfeifen die Drosseln, kühner flöten die Amseln, die Rotkehlchen lassen immer mehr ihre silbernen Lieder erschallen, und das Gemurre der Frösche schwillt an.

Langsam gleitet der Kahn dahin und zieht hinter sich eine silberne Bahn. Bleiche Motten taumeln haltlos vorüber; wenn sie der leise Luftzug auf die Wellen wirft, klatscht es, und silberne Fische fangen sie fort. Ein Wasserhuhn steht auf, flattert eine Weile über den Fluß hin und taucht mit ärgerlichem Schrei im Röhricht unter.

Hier vor der Wiese will ich bleiben, zwischen dem dunklen Ellernbruche und dem hellen Birkenwalde, dem Abendsterne gegenüber, der bald über der hohen Fichte aufblitzen wird. Ich stelle mich unter die hohe Espe, deren Krone dicht mit Blütenkätzchen behangen ist, weise dem Hunde seinen Platz hinter mir an, bringe die Pfeife in Brand und warte auf die Schnepfe.

Im golddurchwirkten Haselbusche singt das Rotkehlchen sein Abendlied. Enten klingeln dahin und fallen zu Wasser, im Bruche kollert ab und zu ein Fasanenhahn. Das fahle Schilf rührt sich und flüstert allerlei, das ich bloß halb verstehe. In dem Flusse gluckst es einmal, und dann murmeln die Wellen wieder ihr gleichmäßiges Lied. Von irgendwoher kommt das Getrommel eines liebestollen Birkenhahnes, und die Kraniche, die sich zur Ruhe begeben wollen, trompeten gellend. Ein dicker Käfer brummt hart vor meinen Augen vorüber; eine Spitzmaus raschelt, schrill zwitschernd, durch das Gestrüpp; weit weg schmält ein Reh, und nicht fern von mir sind die Enten am Prahlen.

Ich sehe nach dem Himmel hin, der so weich und warm aussieht, nach den hellen weißen Blüten, die unter den Ellern leuchten, und den langen silbernen Grasblättern auf dem schwarzen Wasser des Staugrabens, lasse mich von Amsel, Drossel und Rotkehlchen so lange in Halbschlummer bringen, bis es mir in den Sinn kommt, daß kein Fink mehr schlägt, die Täuber schweigen und es Zeit wird, daß ich die Auge offen und die Ohren wach halte, denn über mir meckert schon die erste Himmelsziege, und immer häufiger klingeln die Enten vorüber. Doch dann vergesse ich alles das und denke nicht mehr an das, weswegen ich hier bin, denn Menschenstimmen und Ruderschlag kommen mir näher. Ich kenne das Lied, das da gesungen wird, habe es oft in halbdunklen Spinnstuben und in verqualmten Dorfkrügen mitgesungen, und summe es in Gedanken vor mich hin, Takt haltend mit den Stimmen vor mir.

Näher kommen die Ruderschläge und die Stimmen und nun kann ich auch die Worte verstehen: »Und die Gärtnersfrau, so hold, so bleich, führte ihn in ihren Garten gleich; doch bei jeder Blume, die sie bricht, rollen Tränen ihr vom Angesicht.« Mit entsetztem Geplärre klappern drei Enten auf, die vor mir im Schilf lagen, und hasten über die Ellern fort, und das Rotkehlchen im Haselbusche hört auf zu singen und zetert über die Störung. Aber hinter den schwarzen Bäumen singen die vier Stimmen, zwei hohe und zwei tiefe, weiter: »Warum weinst du, holde Gärtnersfrau? Weinst du um das Veilchen dunkelblau? Weinst du um die Rose, die du brichst? Nein, um dieses alles wein' ich nicht.«

Ich sehe hinter dem Liede her und denke an den und die, die bei mir saßen, als wir es sangen. Der ist tot, und die ist alt, und die anderen sind wer weiß wo, und ich stehe hier und denke an sie und wundere mich, daß mir das alte Lied mit seiner süßen Weise das Herz nicht mehr rühren kann. Da dröhnt ein Schuß durch Drosselsang und Rotkehlchenlied, über mich fährt, hastig sich schwingend, die Schnepfe hin, und über der alten schwarzen Fichte steht der Abendstern, der Schnepfenstern, der Jägerstern, und blinkt mir spöttisch zu. Und ich stehe da und weiß nicht, ob ich fluchen oder lachen soll, ziehe aber schnell den Hahn über und warte, daß die zweite kommt, und will nicht hören und muß es doch, daß es da hinter den schwarzen Ellern weitersingt: »Mit dem Blumenstrauße in der Hand will ich ziehen in das fremde Land, bis der Tod mein müdes Auge bricht; lebe wohl! Vergiß, vergiß mein nicht!«

Hinter mir stößt die Eule ihren gellenden Lockruf aus, heult tief und schmachtend und kullert sehnsüchtig. Überall meckern die Himmelsziegen, ein Reiher rudert breitflügelig unter dem dunkelblauen Himmel hin, an dem der eine Stern wie ein goldenes Licht steht, und schickt in strengen Pausen seinen barschen Schrei hinunter. Im Risch schrillen die Spitzmäuse, über der Wiese taumeln keifend die Kiebitze hin und her, und es erheben sich hinter mir vom Flusse und neben mir aus den Gräben die Nebelfrauen und tanzen auf und ab.

Von irgendwo kommt ein hohler Laut, von der Erde oder vom Himmel oder aus dem Wasser, ein gespenstiger Ton, ein geisterhafter Ruf, von einem scharfen Geschrille begleitet. Da bin ich bei mir, fasse Schafthals und Lauf fester, werfe die Blicke hin und her, weiß nichts mehr von dem weichen Liede, das die beide Liebespaare in dem unsichtbaren Kahne sangen, höre das Gequarre der Enten, das Meckern der Himmelsziegen und das Heulen der Eule fern von mir, sehe die weißen Birken nicht mehr und die schwarzen Ellern, will nur das haben, das da über der alte Fichte herankommt, das mit dem langsamen Fluge, mit den gebogenen Schwingen, mit dem langen Stecher, das so seltsam schrillt, und so wunderlich quarret, die Schnepfe.

Ich reiße die Waffe an die Backe. Ein feuerrote Strahl teilt den dunklen Himmel, ein Donnerlaut zerbricht die Stille des Bruches, und beizender Pulverdampf drückt die weiche Stimmung des Abends herunter. Von dem Schnepfenpaare, das im Liebesspiel daherkam, schlug die letzte im Knall rundherum; die vordere stürzte sich in den Schatten.

Ich winke den Hund heran. »Such' verloren, mein Hund!« flüstere ich ihm zu. Wie ein Gespenst geistert er in der Wiese hin und her. Und dann sitzt er vor mir und reicht mir den langschnäbeligen Frühlingsvogel hin.

Ich liebele ihn ab: »So recht, mein Hund, so schön mein Hund, sehr brav, mein Hund!« schnüre die Schnepfe in den Galgen und wende mich zu dem Kahne hin. Aber dann denke ich daran, daß ich den Abendstern, den goldig glühenden, so lange nicht mehr am dunkelblauen Himmel stehen sah, und daß ich nicht der Schnepfe wegen hinausfuhr, die mir am Holster hängt; ich will diesen schönen Tag schlafen gehen sehen, und so bleibe ich noch eine Weile unter der Espe.

Von irgendwo, aus der tiefen Erde oder vom hohen Himmel oder vom Grunde des Wassers kommt wiederum der dumpfe Laut und das schrille Gepfeife. Aber ich mag nicht mehr schießen. Ich hänge das Gewehr über den Hals, winke dem Hunde, steige in den Kahn und stake leise, ganz leise den Fluß hinab, um nicht noch einmal den Schlummer des Lenztages zu stören.


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