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Kein Tag im Jahre verursachte ehedem bei allem, was einen grünen Rock trug, eine solche Aufregung, wie der erste Mai.
Schon wochenlang vorher krebsten die Jäger in ihren Jagden umher, suchten Wechsel, Plätze und Fegestellen, und zählten abends, wenn die Sonne sich verabschiedete, und in der Frühe, wenn sich der Morgen vor ihnen graute, die Häupter ihrer Lieben und das, was darauf wuchs.
Der Bock, der Bock, und nichts als der Bock, das war das Alpha und das Omega aller Reden, so an jedem Tische geschwungen wurden, wo drei Jäger sich mit Bierverdrängen beschäftigten. Schon Anfang April hatte Meier einen gesehen, der blank gemachte hatte, worauf Müller ihn mit einem übertrumpfte, der um dieselbe Zeit völlig verfärbt war.
Die Böcke waren also reif, abschußreif; das stand fest. Na, und wenn einer auch noch so grau war, wie ein Milchwagenesel, schad't nichts, macht nichts, ist alles einerlei, man jug ja um die Decke nicht, man jug ja um das Geweih! Denn man war kein Fleischmacher, kein Wildbretschütz, man war Weidmann, gerechter Weidmann, sah verächtlich auf den Bratenjäger und kam sich als wunder wer weiß was vor, trug man im Rucksack ein braves Gehörn heim, an dem so nebenbei zwanzig oder vierundzwanzig Pfund Wildbret herumbaumelten, für das der Wildhändler einen Pappenstiel herausrückte.
So mancher Bock wurde damals vordatiert, hing schon vor dem ersten Mai aufgebrochen und gut verblendet in einer Dickung, denn es war ein Grenzbock und er hätte am ersten Mai vielleicht den Einfall haben können, dem Nachbar den Gefallen zu tun und über die Grenze zu wechseln. Denn der Grenzbock, das ist ein gemeines Tier. Eine Kreuzotter, Klapperschlange oder Kobra ist so harmlos wie ein Regenwurm im Vergleiche zu dem Grenzbock. Aller Tücken voll ist er, arglistigen Herzens und schmutzig von Besinnung. Andauernd wimmelt er an der Grenze umher, und es ist ihm eine Wollust, bald hüben, bald drüben den Revierinhaber zum Narren zu halten. Den ganzen April trat solche Bestie jeden geschlagenen Abend Punkt siebeneinhalb Uhr auf den Klee in Maiers Jagd aus, so daß Meier schon das Gehörn an der Wand und den Rücken auf dem Tische hatte; am Abend des ersten Mai aber spazierte er hohnlachend über die Grenze und ließ sich von Müller totschießen.
Ja der Grenzbock! Es ist nicht Treu noch Glauben in ihm. Gerieben ist er, wie ein Viehhändler, und boshaft, wie ein Affe. Eine Wonne ist es ihm, Meier zu veralbern und Müller zur Raserei zu bringen. Denn Müller hat auch einen Grenzbock, und der ist noch viel gemeiner. Acht Tage lang hat Müller auf ihn angesessen, aber das Schwein, wie Müller bei sich sagt, tritt immer so aus, daß er Wind kriegt, oder er hält sich außer Büchsenschußnähe, oder er tritt erst dann in Erscheinung, wenn das Büchsenlicht anfängt, negativ zu werden. Und morgens verzieht sich das Ekeltier so früh in die sichere Dickung, daß Müller erst recht nichts anfangen kann. Er hockt draußen, bis er das Ende seiner Kanone nicht mehr sehen kann, er schlägt sich eine Nacht nach der anderen um die Ohren, er schleppt seine müden Knochen auf die Faulpürsch und läßt ihnen auch über Mittag, wenn der Bock seinen dummen Gang hat, keine Ruhe, aber es ist alles gelogen.
Endlich aber, endlich, endlich hat er Weidmannsheil. Er hat eines Morgens die Zeit verschlafen und bummelt mehr aus Gewohnheit, denn in böser Absicht, an der Grenze herum, zu der es ihn immer wieder hinzieht, wie den Bräutigam zur Braut. Wie er nun so, den Leib voll Ärger und das Herz gefüllt mit Mißmut, hinter den Büschen herkriecht, da denkt er, er soll umfallen, denn fünfzig Gänge vor ihm steht der Bock und äst sich so seelenvergnügt, als wenn es keinen grünen Jäger gäbe. Er steht zwar ein bißschen sehr hart an der Grenze, denkt Müller, aber dafür steht er ja auch so schön breit, so daß es mit dem Kuckuck zugehen müßte, bekäme er die Kugel nicht zwölfe Ring und bliebe im Feuer. Und so jagt der gute Müller alle Bedenken in die Ecke, nimmt dem Bocke das Maß, macht den Finger krumm und schreit innerlich: »Ha là lit!« und »Bock tot!« Denn im Feuer sah er den Bock koppheister schlagen. Und als er sich dann vorsichtig heranstiehlt, um ihm den Fang zu geben, da verlängert sich seine Physiognomie um das Doppelte ihrer vorschriftsmäßigen Länge, denn Schweiß ist da, sehr viel Schweiß sogar, so viel, als wäre er mit einer Gießkanne ausgegossen, aber wer nicht da ist, das ist Musche Blix, denn mit dem letzten Reste von Besinnung hat sich Urian über die Grenze gemacht und ist gerade vor Meiers Jagdaufseher zusammengebrochen. Na, und da Müller und Meier in demselben zärtlichen Verhältnisse stehen wie ein Teckel und ein Zaunigel, so kann Müller sich die Rehbratenzähne vorläufig ausziehen, und der Platz an der Wand, den er für das Gehörn vorgemerkt hatte, bleibt so wie er ist.
Ist es nach solchen Erfahrungen Meier und Müller zu verdenken, wenn sie den Grenzböcken Krieg bis auf das Messer erklären? Nein, nein und zum abermalten Male nein, denn schließlich ist sogar der Jäger ein Mensch und kein Engel. Meier schwur Rache und Müller gelobt dasselbige, und nun muß alles daran glauben, was in der Nähe der Grenze von Rehen lebt und mehr als zwei Lauscher auf dem Haupte hat, und sowohl der Jüngling wie der Greis am Stabe, das heißt, jeder Untertertianer von Spießbock wie der alte Bock mit runzeligen Zügen muß daran glauben. Denn das Scheußliche ist: die Grenzböcke werden nicht alle. Kaum liegt der eine auf der Decke, ist schon ein Ersatzmann da, denn die Grenze ist gesucht bei den Böcken, angeblich wegen der dichten Dickungen, des guten Windes und der üppigen Äsung, in Wirklichkeit aber, so glauben Meier und Müller wenigstens, weil die entsamten Böcke sich ein Vergnügen daraus machen, ihnen beiden die Schwindsucht an den Hals zu besorgen. Anders läßt sich das nämlich gar nicht erklären, denn sonst würden hier doch nicht immer die besten Böcke stehen.
An der Grenze stehen nämlich immer die besten Böcke. Wenigstens gilt ein krummer Gabelbock, der dort seinen Stand hat, Meier dreimal mehr als ein Hauptbock, der in der Mitte der Jagd steht, und Müller ist derselbigen Ansicht. Sogar ein Spießbock, der sich als Grenzer verkleidet, genießt Ansehen genug, um der Kugel gewürdigt zu werden. Er wiegt zwar nicht viel mehr als ein alter Rammler, sieht auch so grau aus, wie ein Aschermittwochmorgen, und so ruppig, als säßen die Motten drin, und das Gehörn, ach du lieber Himmel, es ist halbfingerlang und gänzlich ungefegt! Aber Grenzbock bleibt Grenzbock, und so schlägt Meier ihn tot und freut sich aus dem Grunde seiner vergrämten Seele, daß Müller ihn nicht kriegte, und da eine Liebe der anderen wert ist, metzelt Müller drei Tage später ein ähnliches Jammertier nieder. So geht es das ganze Jahr über, und da die Grenze lang ist und an ihr die Hauptrehstände sind, rennen in der Brunft die jungen wie die alten Rehdamen voller Verzweiflung herum, erfüllen die Luft mit Sehnsuchtslauten und sind froh, wenn sie alle zusammen, dreißig und mehr, eines elenden Schneiders habhaft werden, der sich ihrer erbarmt, was beiden Teilen natürlich nicht besonders bekommt.
Als aber das Jahr sich wandte, da kratzt Meier seine Glatze und Müller kraut sich die seinige, der eine voller Kummer, der andere voller Zorn, denn es sind wohl einige Böcke da, wenigstens haben sie einen Pinsel; mit den Gehörnen aber sieht es nicht gerade sehr berühmt aus und das Militärmaß haben sie man eben. »Daran ist bloß der verfluchte Müller Schuld,« denkt Meier und zornentbrannt meuchelt er alles ab, was rauh zwischen den Lauschern ist, und da Müller denkt: »der Meier, der Schinder, dem werde ich es besorgen!« so handelt er demgemäß und diesbezüglich und es erhebt sich diesseits und jenseits der Grenzsteine ein Morden und Blutvergießen, grauenhaft anzuhören und entsetzlich zu betrachten, und die Folge davon ist, daß im Juli und August zwei bis drei Rehjünglinge die Hähne im Korbe sind, was weiter zur Folge hat, daß übers Jahr die Gehörne und Gebäude um ein Erkleckliches hinter denen des vorigen Jahres zurückbleiben, und damals war schon kein großer Staat damit zu machen. Meier und Müller aber zermartern sich das Zentralnervensystem mit der Doktorfrage, woher die unerklärliche Entartung des Rehwildes komme, denken aber nicht daran, an ihre Wesen zu klopfen und zu stammeln: »Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa,« sondern schlachten nach wie vor die Grenzböcke ab und erbosen sich der eine über den anderen schließlich so, daß erst der eine im Herbste die Ricken zehntet, worauf der andere hingeht und das gleiche, nur in verstärktem Maßstabe, tut, worauf dann allmählich Ruhe im Lande herrscht, weil nicht nur die Grenzböcke, sondern auch die Grenzricken den Weg alles Wildbrets gegangen sind. So war es früher, und so ist es heute noch; denn trotz der hartnäckigsten Machtstellungen sterben die Grenzböcke nicht aus. Es ist eine zähe und dauerhafte Rasse, und sie vererbt sich gut. Wissenschaftlich ist sie noch so gut wie gar nicht erforscht. Die moderne Subtilformenforschung hat zwar verschiedene Unterformen von Linnés Cervus capreolus festgestellt, aber das Grenzreh, Capreolus terminalis, bedarf noch in morphologischer, physiologischer und nicht zum mindesten in psychologischer Hinsicht emsiger Beobachtung, zumal es so scheint, als entarte es allmählich, und zwar scheint das eine Folge der neuen Jagdgesetzgebung zu sein, die dem Rehbock eine längere Schonzeit zubilligte, indem er seit einigen Jahren erst von der Mitte oder gar erst vom Ende des Maien zu seinen Vätern versammelt werden darf, was nicht ohne tiefgehenden Einfluß auf seine Gemütsart geblieben zu sein scheint, und auch auf die seines Todfeindes, oder umgekehrt, was schließlich für die Praxis dasselbe ist. Jedenfalls: das eine steht fest, daß der Grenzbock an Tücke und Hinterlist abnimmt, ja schon abgenommen zu haben scheint, was vom rein wissenschaftlichen Standpunkte ebenso bedauerlich, wie vom jagdlichen hoch erfreulich ist.
Die Sache ist nämlich so: Früher, als vom ersten Mai ab der Bock frei war, war es selbst für den grünsten Jagdstümper und für den krummsten Tapergreis leicht, den Bock zu kriegen. Das Holz ist um diese Zeit noch hellsichtig, die Böcke sind noch vertraut. Also war es, wenn auch kein großes Vergnügen, so doch keine schwere Kunst, einen Bock zu weidwerken, und noch bequemer war es, ihn auf dem Anstande abzufassen. Denn das Holz bietet dann nur schmale Äsung, und so treibt es den Bock schon vor der Dämmerung auf die junge Saat und den frischen Klee, wo er spielend leicht zusammenzuknallen war. Da das nun so leicht war, nahmen Fleischjäger und Gehörnschützen, denen jeder Funken von echtem weidmännischem Empfinden abging, alles, was sie kriegen konnten, den guten Bock mit reinem Gehörn und rotem Rocke sowohl, wie das graue Böcklein, das noch im Baste ging, und der pfleglich gesinnte Nachbar mußte zusehen, wie ein halbfertiger Bock nach dem anderen heimgeschleppt ward. Das wurde ihm schließlich zu dumm; böse Beispiele färben bekanntlich ab, und so handelte er ebenso, und die Folge war eine elendigliche Entartung des Rehwildes überall da, wo die kleinen Nachtjagden vorwiegen.
Heute aber, wo im Deutschen Reiche der Bock erst vom fünfzehnten oder letzten Mai ab frei ist, bekam die Sache ein anderes Gesicht. Um die Mitte des Maien verschränkt sich das Holz, ist nicht mehr so hellsichtig, so daß das Weidwerken schon beträchtlich schwieriger ist. Auch bietet der Wald dann Äsung genug, so daß der Bock nicht mehr bei hellichtem Tage zu Felde ziehen muß, besonders, da ihn dort nur noch der Klee lockt, denn die Saat ist dann meist schon zu hart. So hat denn eine ganze Menge von Jägern, und zwar gerade die ruppigen, Pürsch und Anstand bald leid, weil sie sich für sie nicht lohnen, und weil die Mücken ihnen jeden Spaß verderben. Diese Sorte schätzt eine Jagdart nur dann, wenn sie schnell und bequem etwas einbringt; die Wonne, drei Wochen hinter einem abgefeimten Hauptbock herumzukriechen, kennen sie nicht. So rennen sie denn nicht einen um den anderen Tag hinaus, sondern hängen, sind sie dreimal mit ledigem Rucksacke heimgefahren, mit einer fuchtigen Bemerkung die Kartaune an den Nagel und warten, bis die Jagd auf solches Wild offen wird, die ihnen mehr einbringt, auf die Hühner und Hasen nämlich, lassen den Bock Bock sein und bringen ihre Abende viel zweckmäßiger bei Bier und Skat und die frühen Morgenstunden in der Klappe zu, was ihnen nicht hoch genug angerechnet werden kann.
Infolgedessen kann der bessere Teil der Jäger es sich erlauben, den Bock glimpflicher zu behandeln, sogar den Grenzbock, und soviel von den vereidigten Schießern und Schindern auch anfangs darüber gezetert wurde, daß der Bock eine längere Schonzeit genießen darf, heute schon hat es gute Früchte gezeigt, und immer bessere wird es hervorbringen. Viel mehr brave Böcke retten ihre Decke bis in die Brunftzeit hinein, viel weniger Jämmerlinge kommen infolgedessen zum Beschlag, viel gesünder gestaltet sich das Zahlenverhältnis zwischen Böcken und Ricken. Wo einst fünf, zehn, ja zwanzig Ricken auf einen guten Bock kamen, besteht heute ein natürlicheres Verhältnis, indem ein starker Bock viel weniger Ricken und Schmalrehe zu versorgen hat. Die Folgen liegen klar auf der Hand. Nur der starke, völlig ausgereifte Bock ist imstande, einen Nachwuchs starker Art zu erzeugen, stark an Gewicht und gut im Gehörn, und nur der verbesserten Jagdgesetzgebung hat Nordwestdeutschland es zuzuschreiben, daß es auf der letzten Berliner Geweihausstellung nicht so erbärmlich abschnitt wie alle die Jahre zuvor, und wenn, was sehr zu wünschen wäre, dem Bocke auch noch im November und Dezember Schonung erwirkt würde, so würde sich die Rasse noch bedeutend verbessern.
Die Jagdgesetzgebung aber allein kann das nicht bewirken: jeder Jäger kann dabei mithelfen. Wenn er es sich klar macht, daß die Jagd nicht nur ein Sport, sondern ein wichtiges Stück Volkswirtschaft ist, wenn er nicht nur darauf ausgeht, sich einen Haufen von Knochen für die Wand zusammenzuschießen, sondern danach strebt, in erst Linie Rehe zu züchten, die viel Wildbret für den Volkshaushalt liefern, so trägt er sein Teil dazu bei, das deutsche Reh höher zu züchten. Unbenommen soll es ihm bleiben, schon vor der Brunft diesen oder jenen ganz alten Bock abzuschießen, wobei natürlich das Hauptaugenmerk auf zurücksetzende Böcke zu richten ist, und sind genug gute Böcke da, so mögen auch einige von solchen, die auf der Höhe ihrer Kraft sind, fallen; in der Hauptsache soll der Abschuß vor der Brunft aber solchen Böcken gelten, die im Verhältnisse zu ihrem Alter zu schwaches Gebäude und schlechte Stangen besitzen. Dabei ist aber sorgfältig darauf zu achten, daß man keine jungen Böcke abschießt, die nur Knubben oder ganz schwache Spieße bei gutem Gebäude vorweisen, denn nachweislich schieben solche Böcke oft im nächsten oder übernächsten Jahre sehr brave Gehörne.
Es gehört freilich eine ganze Menge von Selbstüberwindung dazu, den Hahn in Ruhe zu lassen, hat man einen guten Bock in Schußnähe. Aber woher sollen wir starke Böcke bekommen, wenn wir Jahr für Jahr den Bock abschießen, ehe er seine Pflicht getan hat? Daß der sibirische Bock ein so gewaltiges Gebäude und solch fabelhaften Hauptschmuck besitzt, ist nicht allein daraus zu erklären, daß es sich bei dem Cervus pygargus um eine andere Rasse handelt, sondern auch daher, daß bei ihm das Ziffernverhältnis zwischen Böcken und Ricken gesünder ist als bei uns, so daß dort also nur die alten Böcke zur Fortpflanzung kommen, während bei uns auch die Schneider und jungen Böcke den Beschlag vollziehen können, weil allzuviel Ricken vorhanden sind. Somit bedeutet der Abschuß eines jeden guten Bockes vor Ablauf der Brunft einen schädigenden Eingriff in die gesunde Entwicklung der Rasse, eine Tatsache, deren sich nur wenige Jäger bewußt sind. Je mehr gute Böcke in der Brunft da sind, um so weniger Ricken kommen auf jeden Bock, um so weniger brunftet er sich ab, um so besser wird der Nachwuchs werden an Wildbret und Gehörnbildung.
Nicht die Menge der erlegten Böcke ist es, die einen gerechten Weidmann erfreuen soll, nicht die Anzahl der Gehörne, die an der Wand hängen, sondern die Stärke des einzelnen Stückes muß für ihn ausschlaggebend sein. Was hat er davon, schießt er einen Bock ab, der gering wiegt und ein Zukunftsgehörn aufweist? Ein ganz anderes Ding ist es, liegt ein Hauptbock von vierzig Pfund vor ihm, dessen weiße Enden weit über die Lauscher hinausprahlen; ein solches Gehörn ziert die Wand mehr denn ein volles Dutzend leidlicher Kronen, bei deren Betrachtung jeder sagt: »Die hätten noch einige Jahre wachsen müssen!« Und um wie viel fesselnder als die Pürsch vor der Brunft weidwerkt es sich auf den roten Bock, wenn er das Schmalreh sprengt oder das Altreh treibt, wenn jeder Schritt und jeder Tritt die tollsten Überraschungen bringen kann! Aber wer sich auch dann noch bezähmen kann und den Hauptabschuß an Böcken erst in die Zeit nach der Brunft verlegt, der wird schon in einem halben Dutzend von Jahren Gehörne züchten, die sich sehen lassen können. Er wird nicht so viele Böcke erbeuten, wie Jäger, die es anders machen, aber er wird auch nicht bei jedem Bock, den er erlegt, von dem Gefühl gequält werden, daß er eigentlich unpfleglich gehandelt habe.
Vor allem aber muß der Mann, der seinen Rehstand nach jeder Richtung in die Höhe züchten will, sich von der Schreck- und Angstvorstellung frei machen, die sich für ihn mit dem Begriffe des Grenzbockes verknüpft. Und wenn er einen Schinder zum Nachbar hat, so muß er erst recht pfleglich handeln und nicht Böses mit Bösem vergelten, denn damit schneidet er nur sich in das eigene Fleisch. Jeder Bock wechselt über eine weite Strecke; selbst der beständigste wird einmal zum Grenzbocke, folglich müßte der Jäger, will er aus der falschen Theorie vom Grenzbocke heraus folgerichtig handeln, alle Böcke abschießen, damit sie nicht dem Nachbar zum Opfer fallen. Er mag, um seinen Böcken die Grenze zu verekeln, dort um die Ulenflucht oder vor Tau und Tag verstohlen umherschleichen, um sie in die Mitte der Jagd zu drücken; doch ist dieses Mittel nicht ungefährlich, weil oft genug das Gegenteil davon herauskommt.
Das Beste ist, er jagt, wie es sich für einen anständigen Weidmann geziemt, und tut so, als gäbe es das Ungetüm gar nicht, so da geheißen wird: der Grenzbock.