Hermann Löns
Kraut und Lot
Hermann Löns

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Über dem Sommerdorfe

Über dem Sommerdorfe, just da, wo sich die alte vom Sturm und Rauhfrost mißhandelte Arve aus den Felsen herausreckt, ist der beste Fuchspaß weit und breit.

Aber wie heißt doch der alte Weidspruch: »Alle Tage ist wohl Jagdtag, doch kein Fangtag.« Drei Nachmittage nacheinander habe ich mich hier hinaus fahren lassen, und jedesmal bin ich gegangen, wie ich gekommen war, mit ledigem Rucksack und unvermindertem Schießvorrat.

Denn auf den Fuchs ist kein Verlaß und Worthalten ist nicht seine Haupttugend. Er richtet sich nach dem Wetter, und danach, ob er viel oder wenig Hunger hat, und nach dem Winde, und so läßt er den Bau heute ganz früh hinter sich, und morgen drei Stunden später, und ein anderes Mal bleibt er die ganze Nacht unter der Erde und fährt erst in der Frühe aus.

So habe ich denn drei Abende hintereinander umsonst unter der Arve gesessen. Und doch nicht umsonst. Ich sah durch das Glas die Gemsen unter der Kuppe herziehen, beobachtete die Kolkraben, die an der verschneiten Wand herstrichen, hungrig rufend, und bekam sogar den weißen Hasen zu Blick. Bis auf zehn Gänge hoppelte er an mich heran; dann machte er einen Kegel, und als der Drehwind ihm meinen Pfeifenrauch zuwehte, stob er von dannen.

Gestern war es bitter kalt hier oben, so an die zwölf Grad. Heute ist es auszuhalten. Es hat den ganzen Tag gelinde geschneit, die Luft ist weich und der Himmel leicht bewölkt, und nicht so unbarmherzig stahlblau, wie tags vorher, wo die steilen Berggipfel messerscharf in ihn hineinschnitten, und jede Arve, jede Lärche hart und klar sich von dem Schnee abhob. Heute hat alles verwaschene Umrisse und sieht nicht so bitterböse, kalt und unnahbar aus; die Hochberge machen einen herablassenden Eindruck und die Schroffen wirken fast gemütlich. Außerdem habe ich jetzt auch besseren Wind. Und so kann ich getrost qualmen, als wenn so ein kleiner Bauer backt.

Es ist heute viel mehr Leben in der Welt, als gestern. Die Gemsen haben es nicht so eilig, und ziehen langsam den Latschenbüschen unter der Steilwand zu. Die Kolkraben rufen nicht so hungrig und streichen nicht so rastlos hin und her. In schönen Bogen schwimmen sie dahin, sich lockend und neckend, als wäre es Lenz, bald auf der Spitze einer Arve, bald auf einer Felszacke fußend, und in jähem Falle hinabstoßend, wenn sie eine Maus erspähen.

Die weiße Stille ist mit einem Male von buntem Lärme erfüllt. Ein Flug Krammetsvögel, an die hundert Stücke, kommt vom Tale heraufgeflattert, satt von Ebereschenbeeren. Irgendwo dahinten, wo die Lärchen und Arven ein schwarzrötliches Mischmasch bilden, fallen sie zu Holze. Hinter ihnen her kommen, gleichfalls mit offenen Schnäbeln, anderthalb Dutzend Krähen an, schwenken unschlüssig hin und her, und verschwinden quarrend in dem Taleinschnitte. Vor mir in den Felsbrocken, die eine Zwerglawine bloßgelegt hat, huscht ein Flüevogel zwischen den Almrauschbüschen umher, und in der krüppeligen Lärche turnt die Alpenmeise, mit hellem Laute jeglich Getier mahnend, daß unter der alten Arve ein Jäger lauere.

Aus dem Quertale kommt eine weiche Wolke gekrochen und schleicht unter der hohen Wand her. Die weiße Kuppe da ganz hinten leuchtet froh auf, getroffen vom Scheideblicke der abfahrenden Sonne, leuchtet noch einmal und fügt sich erblassend der kalten Farblosigkeit um sie herum. Über ihr sieht mich ein Stern freundlich an, ruhig und stet. Gestern blinzelte und zwinkerte er höhnisch auf mich hernieder. Hie und da zwischen dem Gewölk kommen seine Geschwister hervor; alle machen gute Augen, so daß es mir warm und behaglich zumute wird. Gestern war mir, als gehörte ich hier nicht hin. Aus jedem Busche funkelten mich böse Augen an und jede Felszinne schnitt mir ein niederträchtiges Gesicht. Heute glimmen goldene Pünktchen in den Zweigen und die Felsen lächeln mich wohlwollend an, bis die Wolken sie verhüllen.

Unter mir deckt eine Wolke das Sommerdorf zu, über mir verbergen Wolken die Schroffen, und nun kommen andere aus dem Lande Nirgendwo angeschwommen und bringen einen Stern nach dem anderen zu Bette. Eben war die Welt so groß und so weit, und nun ist sie klein und eng, und gemütlich, so daß ich mich in meine Heide hineinträumen kann da oben im Norden, oder in meine Harzberge mit den Klippen und den Buschhängen darunter, wo ich so manches Mal an schneehellen Abenden und in mondklaren Nächten auf den Fuchs paßte und den Edelmarder. Meine Gedanken wandern sehnsuchtsvoll gegen Norden, nach den Heiden und Hügeln der Ferne und den ernsten, stillen Menschen, die so beredt schweigen können. Hier sagt mir der Menschen Reden nichts.

Gellendes Geplärre weckt mich aus dem Sinnen. Wie lauter schwarze Lappen wirbelt ein Dutzend Krähen durch die Luft und zerkrächzt die Stille. Der Edelmarder wird eine von ihnen im Schlafe überrascht haben. Sie verschwinden in der Wolke, aber ab und zu flattert noch einer ihrer rauhen Rufe zu mir herüber. Ich sehe nach rechts und links über den Schnee, ob der Fuchs noch nicht kommt, horche auf das Pfeifen der Mäuse in den Almrauschbüschen und fasse den Kolbenhals des Drillings fester, wie etwas Schneeweißes, Langes, Dünnes aus den Felsbrocken hervortaucht und sich mit jähem Sprunge in das Gestrüpp stürzen läßt, worauf eine Maus schrill aufquiekt. Und dann lächle ich und mache die Faust wieder locker, denn vor mir auf der Felsplatte hockt, steif wie ein Pfahl, das Raubwiesel im schneeweißen Winterkleide, eine Maus im Fange. Dreimal verschwindet es, dreimal ist es wieder da und mustert mich halb frech, halb erschrocken, und dann ist es fort.

Der Luftzug weht mir ein leises Geräusch von der Bergflanke zu, ein langes Brechen, ein kurzes Knicken. Das mag eine Gemse sein, die dort noch herumtritt oder ein Stück Rotwild. Ich bohre meine Augen in den Lärchenhorst und lausche mit offenem Munde, doch nur die Stille antwortet mir, bis nach langer Zeit ein Schnauben, oder ein Grunzen, heruntertönt, und es ganz laut bricht, als sei das Wild dicht vor mir. Und wieder ist es ruhig. Irgendwo aus dem Tale klingt ein zerstückeltes Jodeln herauf, und das zerbrochene Klingeln von Schlittenschellen, und dann donnert es an der Steilwand und rauscht und poltert, und hinterher kommt ein langes, banges Stöhnen; eine Lawine ist zu Tale gegangen. Heiß läuft es mir über die Stirn, aber mein Rücken wird kalt, obgleich ich hier geschützt bin vor den grausamen Witzen der Wetterhexe. Jüngst kam ein Frachtschlitten im Schritte durch den Ort gefahren, und darauf lag, von Decken verhüllt, ein toter Mann mit verzerrten Zügen und gekrampften Händen. In der Umarmung der Firnfrau hatte er sein Leben lassen müssen.

Wieder rauscht eine Lawine an der Wand herunter; hohl seufzt es hinter ihr her, und dann hört es sich an, als knirsche ein Riese vor Wut und Weh mit den Zähnen. Unter dem Hute kribbelt es mir, und ein heißer Schauer wellt mir über die Brust, wonnig zugleich und weh. Seltsame Vorstellungen umflirren mich; ich sehe den Tod mir Liebesblicke zuwerfen und Aphrodite holt mit der Hippe nach mir aus, Amor tunkt seine Pfeile in tödliches Gift, und ein Totengerippe, in rosenrote Gewänder gehüllt, reicht mir einen Busch Küssekraut hin; ein Totengräber tanzt als Hochzeitslader vor mir her und eine Brautjungfer gräbt mir das Grab. Unwillig schüttele ich den Kopf, denn alles dieses erregt mein Mißfallen. Da höre ich etwas, das mich wieder zu mir bringt, einen Laut, halb laut, halb leise, giftig und zärtlich durcheinander, das Liebesgekläff der Fuchsbetze.

Hab Dank, Frau Ermelin, daß du mir die bleichen Falter vor den Augen fortjagtest, und die grauen Motten, und die Riesenfledermaus mit dem Skelettgesicht und den grünen Augen! Und willst du ein Übriges tun, Rotröckige, Wohlbepelzte, Starkduftende, so ruf mir einen mehrjährigen Rakel heran, damit ich nicht wieder, wie gestern und vorgestern, mit ledigem Buckel heimschiebe, so daß alle die Kutscher und Fuhrleute mit den schwarzen Zipfelmützen über den gelben Stirnen, die in der rauchigen Kneipe beim roten Weine aus dem Veltlin hocken, grinsen müssen, wenn ich eintrete! Lauter noch kläffe deine Sehnsucht nach einem Gefährten für die Nacht herunter, daß jeder Fuchs es vernimmt, der um die Einzelhöfe im Tale herumschleicht. Und beeile dich, denn es dunkelt stärker, und ich bin des Fassens müde! Vier Stunden lauere ich hier schon. Ist auch der Abend weich und warm, allzuviel Gespenster steigen von den Wänden der Berge herab und aus den Tälern meiner Erinnerung herauf, geben sich die Hände und tanzen einen scheußlich-schönen Ringelreihen um mich.

Ich danke dir, du guter Mond, für deine Güte! Zur rechten Stunde bist du gekommen mit deinem Scheine, hast die Wolken geteilt und die Düsterheit in die Schluchten gejagt und meinen Blicken weiteren Raum gegeben. Klar sehe ich jeden Fels und jeden Baum um mich herum, und scharf gezeichnet heben sich die schwarzweißen Berge unter dem verwaschenen Gewölke ab. Und da ist er ja auch, auf den ich warte, Reineke Rotrock, der Schleicher. Als langer, dünner Strich schnürt er über den Lärchen her. Jetzt, wo er unter den freien Felsnasen ist, macht er einen Sprung. Er wird ein Maus oder eine Wühlratte erwischt haben. Und nun scharrt er eifrig, und darauf hält er es für nötig, auf seine Weise zu verkünden, daß er hier gewesen ist, und dann ist er auf einmal verschwunden.

Vor mir bricht es abermals, leise und verstohlen. Ich weiß nicht, ob es am Boden oder in dem Gezweig ist. Aber jetzt vernehme ich ein Geflatter, und mit dünnem Angstpfiff schnurrt ein Kleivogel an mir vorbei. Angestrengt spähe ich in die Kronen der Lärchen, den Marder erwartend, der dort sein Wesen treibt. Fortwährend rauscht und bricht es dort, aber so viel ich auch meine Augen anstrenge, es hilft mir alles nichts. Noch einmal höre ich es brechen und dann nicht wieder. Und der Fuchs ist auch verschwunden. Soll ich gehen oder bleibe ich noch? Mit dem Fuchse scheint es nichts werden zu wollen; doch zu schön ist es hier, da der Mond nun unumschränkt herrscht und die Berge wie ein in derben Strichen gehaltenes Stück Schwarzweißkunst vor mir liegen, zauberhaft schön anzusehen. Der Mond steht so klar an dem Himmel und sieht so selbstzufrieden aus, wie das Antlitz eines Greises, der jenseits von Liebe und Haß, von Wunsch und Wille, von Gut und Böse angelangt ist. Das alte Lied geht mir durch den Sinn: »Guter Mond, du gehst so stille durch die Abendwolken hin«; ich fühle mich frei von Furcht und Hoffen, komme mir überlegen und kühl vor, wie das große Nachtgestirn, lächle über alles Gute und Böse, was hinter mir liegt, und betrachte gleichmütig das, was mir in dieser Weise die Zukunft noch bringen kann.

Da bricht und rauscht es und hastig fährt etwas Weißes dahin. Der Schneehase ist es. Es ist sehr verdächtig, daß er es so eilig hat; sicher hat er den Fuchs vernommen. So fasse ich die Waffe fester und lockere sie von meinen Schenkeln, halte den Atem halb an und spähe vorsichtig hin und her, abwartend, ob nicht der Fuchs zwischen den schwarzen Stämmen und den blauen Schatten sichtbar werde. Wohl eine Viertelstunde starre ich gierig dahin; dann erschlaffe ich wieder zu matter Gleichgültigkeit. Das alte weiche wabblige Lied von dem Monde summt mir wieder in den Gedanken umher und ich mache mich darüber lustig »Guter Mohond du gehehest so stihille.« Albernes Lied, so recht eines zum Lebensverneinen und Verzichten, ein Lied für den geistigen Mittelstand. »Durch die Abendwohoholken hin.« Ich danke bestens dafür! Ich will leben und kämpfen, lieben und hassen, bis zu meinem letzten Atemzuge will ich das. Alles, nur kein geruhiges Leben soll mir beschert sein, und den Abschluß hätte ich gerne unter Donner und Blitz.

Zwischen zwei blauen Schlagschatten steht ein schwarzer Strich. Ich halte darauf und drücke. Ein roter Blitz verjagt das Lied vom guten Mond, ein Donnerschlag, von der Wand sieben Male zurückgeschleudert, brüllt die schweigende Landschaft an. Hei joh, wie schön riecht der Pulverdampf; schöner als blondes Mädchenhaar. Hojoh, Füchslein, wie du den Schnee um dich wirfst! Liebe suchtest du, süße Liebe im warmen Bau, und fandest den bitteren Tod im kalten Schnee. Klage nicht deshalb; es geht uns ja allen so, den besseren von uns Menschen wenigstens. Das Pack allein findet Glück.

Quer durch das toteinsame, tiefverschneite Sommerdorf fahre ich ab, daß der Schnee stiebt. Schwer hängt der alte Räkel auf meinem Rücken und wärmt mir die Rippen. Unten auf dem Holzwege ist ein schwarzer Klumpen, mein Schlitten. Der Kutscher grinst, wie er den Fuchs sieht und er grinst noch mehr, als ich ihm sage, daß ich heute abend am runden Tische drei Liter Roten aus dem Veltlin schmeißen werde.

Ein roter Fuchs, ein roter Fleck im weißen Schnee; dazu gehört roter Wein. Und dazu wollen wir singen »Mädchen, dein Mündchen, das ist so rosenrot, rot ist das Leben, rot ist der Tod.«


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