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Siebzehntes Kapitel.

Ein Bauholzschiff aus Tönsberg bot Salve willkommene Gelegenheit, sogleich nach Hause zu reisen; denn er hoffte dann in einen der Kutter aus der Arendalgegend umsteigen zu können.

Mit einem eigentümlichen Gefühle betrat er wieder eine heimische Schiffsplanke und lauschte den Gesprächen der Leute, denen er, wie er merkte, ein Gegenstand der Neugier war. Sein südlich braunes Gesicht, der ausländische Zuschnitt, die ganze Tracht, alles zeigte, daß er von ganz andern und großartigeren seemännischen Verhältnissen herkam, als die ihnen bekannten. Er galt für einen Engländer oder Amerikaner, denn er hatte sich mit Absicht nicht als Landsmann zu erkennen gegeben; und den Akkord mit dem Schiffer hatte er englisch abgeschlossen.

Diese Bauholzschiffer, deren winterliche Anzüge mehr denen von Arbeitern als von Matrosen glichen, waren durchwegs starke, verwegene Männer. Allein was Salve gleich mit wahrer Rührung bemerkte, das war der ehrliche Gesichtsausdruck aller; einen solchen Anblick hatte er seit Jahren nicht gehabt. Er schämte sich in der That, mit verstecktem Messer umherzugehen, wie es ihm nun zur Gewohnheit geworden; gleich am ersten Tag verschloß er es in seine Kiste. Er gönnte sich den Genuß, Uhr und Geld umherliegen zu lassen, wo jeder es mit Leichtigkeit nehmen konnte, und es erfüllte ihn mit großer Bewunderung, daß dennoch nichts gestohlen ward.

Sie waren vom Wetter nicht begünstigt, hatten Gegenwind, der mit flauem Wind und Windstille abwechselte, und waren nach vierzehn Tagen nicht weiter als bis zu dem Hansholms-Leuchtfeuer in Jütland gekommen.

In seinem Innersten heimlich geängstigt, was wohl aus dem Seeoffizier und dem Mädchen geworden sei, erging sich Salve stets in stillen Phantasieen über Elisabeth und dachte sich dieselbe in Amsterdam. Er begann den Schiffer auszufragen, ob die Fahrt nach Holland lohnend sei, und sich nach allen Nebenumständen zu erkundigen. Das Gespräch ward in einer Art von englischem Kauderwelsch geführt, und er kriegte aus demselben heraus, daß dieser Handel nicht bloß Gewinn bringe, sondern ihm auch in allen Stücken zusagen werde. Daß es eine so waghalsige Thätigkeit sei, gab derselben einen besondern Reiz. In der Heimat zu leben und unter niemandes Befehl zu stehen, dies stimmte mit seiner Natur überein, und so schien ihm der Einfall besonders gelungen. Er besaß einige hundert Speziesthaler, um sich ein für diesen Zweck noch taugliches Fahrzeug zu schaffen, und überdies den Hundertthalerschein, den sein Vater ihm aufbewahrte. Nun war es beschlossen: er wollte Führer eines Schiffes werden, das Bauholz nach Holland brachte.

Nun begann Salve schrecklich ungeduldig zu werden: er sehnte sich, den ersten Streifen seines Vaterlandes zu erblicken.

Endlich tauchte Lindesnäs vor ihnen auf, und Salve deuchte es, daß keine palmenbewachsene Landzunge der südlichen Meere sich mit diesem Anblicke messen könne. Allein hinterher packte ihn die Angst, was er wohl in Arendal von Elisabeth werde hören müssen, und seine Ungeduld und Ruhelosigkeit machte die Leute an Bord fast glauben, daß der Engländer im Kopf nicht ganz richtig sei.

Endlich schlug die Stunde der Erlösung, als sich ein Lotsenkutter aus Arendal näherte.

Am Abend, nach Anbruch der Dunkelheit kam er dort in Madame Gjers elendes Logierhaus und mußte bis zum nächsten Morgen warten, ehe er seine Geburtsstadt wieder erblicken konnte.

*

Der folgende Tag war ein Sonntag.

Ein unbeschreibliches Festgefühl überkam ihn, als es zur Kirche läutete und er die Einwohner der Stadt, still und geschmückt, zur Kirche wandeln sah. Es war alles Fromme und Reine, an das er geglaubt, als er noch vertrauensvoll und froh und leicht zu täuschen war, das nun an ihm vorbeizog, bis sich seine Augen mit Thränen füllten und trübten. Die meisten dieser Gestalten erkannte er wieder, darunter auch Elisabeths Muhme, die er mit dem Gesangbuch und dem weißen, zusammengefalteten Sacktuch in der Hand einsam hinaufgehen sah.

Salve konnte der Lockung nicht widerstehen, sich den Kirchgängern anzuschließen; doch hätte er es kaum gewagt, wenn er nicht darauf gebaut hätte, unerkannt zu bleiben.

Still folgte er dem Menschenstrom, und ihm war, als zeugten all die sonnenbestrahlten Häuser seiner Vaterstadt wider ihn und fragten, ob denn der Marsgast von »Star und Stripes« ein Recht habe, in die Kirche zu gehen, und als er eintreten wollte, bedurfte es seiner ganzen Selbstbeherrschung; ihm schien, als entweihe seine Gegenwart das Heiligtum.

Er setzte sich auf den hintersten Stuhl neben der Thür, und fast wie im Traum sah er die andern an sich vorübergehen; sie kamen ihm alle wie reinere Wesen vor. Die Orgel erbrauste; man stimmte den Psalm an, und er saß, mit dem Kopf in den Händen, überwältigt im Kirchenstuhl und schluchzte verstohlen.

So saß er, ganz unfähig zu denken, während des größren Teils des Gottesdienstes. Sein Leben zog an ihm vorüber, Bild um Bild, Scene für Scene. Als Kind und als Jüngling hatte er die Kirche besucht wie die andern; – und in welchem Zustand kehrte er nun wieder? Als Einer, der mehr in Mord und Gotteslästerung gelebt, als die ganze Gemeinde zusammen sich nur vorzustellen vermochte – im Innersten des Glaubens beraubt, den doch auch er einmal besessen.

Zuletzt blitzte eine bittre gewaltsame Flamme in seinem Auge auf, denn er dachte an die beiden, die ihn so weit gebracht, an Elisabeth und den Seeoffizier, und mit tiefem Haß gegen diesen in seinem Herzen verließ Salve die Kirche wieder.

Der Mann, der rasch und mit trotziger, aufgeregter Miene die Straße hinabschritt, war ein andrer als derjenige, der vor zwei Stunden denselben Weg so still hinaufgewandelt. In einem Paare, das nun auch aus der Kirche kam, erkannte er Kapitän Beck und seine Frau. Dieser Anblick vermehrte seine Aufregung noch mehr, und er beschleunigte seine Schritte.

Ehe er nach Sandvigen zu seinem Vater hinausfuhr, wollte er sich Aufschluß verschaffen, wie es sich mit Elisabeth verhielt, und zu diesem Zweck seine Hauswirtin ausfragen. Er erinnerte sich der kleinen, scharfen, glanzäugigen Madame Gjers recht wohl von früher her und wußte, daß sie wie eine Elster schwatzte und allen Stadtklatsch kannte und weiterverbreitete.

Um diese Stunde war am Sonntag kein Besucher in der Stube; Salve saß ganz allein bei Tisch. Während die Frau im Begriff stand, das Mittagmahl aufzutragen, und das Tischtuch vor ihm glättete, fragte er, ob Kapitän Becks Sohn, der Marineoffizier, verheiratet sei.

»Ja freilich,« versetzte sie, überrascht, ihn norwegisch sprechen zu hören, »seit – lassen Sie mich sehen – etwa drei Jahren.« Sie blickte ihn, ihrer Sache gewiß, an. »Wer aber sind denn Sie? – Am Ende doch nicht gar Salve Kristiansen, welcher …« Sie hatte ihn plötzlich erkannt.

Ihr Ton gab zu verstehen, daß an diesem Namen etwas Bedenkliches haftete, und daraus zog Salve den richtigen Schluß, daß ihn seine Desertion in schlechten Ruf gebracht habe. Ganz trocken ergänzte er ihre abgebrochene Frage: »Welcher in Rio de Janeiro dem Kapitän Beck durchging, – jawohl.«

»Oh, ich werde es niemand sagen,« flüsterte sie geheimnisvoll und mit lebhaftem Interesse.

Obgleich Salve nicht glaubte, daß Kapitän Beck ihn nun noch verfolgen werde, war jene Geschichte doch der Hauptgrund, aus dem er in Arendal unerkannt zu bleiben wünschte. Er antwortete mit einer Ironie, welche die andre nicht merkte: »Ihnen vertraue ich es an, Madame Gjers, weil ich weiß, daß Sie eine Frau sind, die niemals etwas ausplaudert.« – Er glaubte vielleicht mit Unrecht, daß sie wie auf Nadeln sitze, um hinauszukommen und die Neuigkeit jemand anvertrauen zu können.

»Also der Marineoffizier ist verheiratet!« wiederholte er nun so für sich hin.

»Gewiß, – schon seit langer Zeit. Die Hochzeit fand bei den Eltern der Braut statt; sie wohnen nun in Frederiksvärn.«

»Elisabeth hat ja keine Eltern,« bemerkte Salve ungeduldig.

»Elisabeth? – Die, welche zu Becks ins Haus kam? – Ah, das ist eine ganz andre Geschichte,« antwortete sie mit eigentümlicher Betonung. »Nein, nein, der Lieutenant heiratete die Postmeisterstochter, Marie Forstberg – das war bloß so eine Liebelei; – es endete damit, daß sie nach Holland mußte, die Arme! Es hieß, dort habe sie einen Dienst gefunden.«

»Wissen Sie darüber etwas Genaues?« fragte Salve scharf und mit solchem Ernst, daß die kleine Frau ihre Fassung verlor und die Notwendigkeit fühlte, für ihre Worte einzustehen.

»Es ging zwar alles ganz geheimnisvoll zu; aber ihre Abreise geschah Hals über Kopf. Die Sache ist ja leider bekannt genug, ja man darf sagen, längst bekannt und wieder vergessen.«

»Was ist bekannt?« nahm Salve unwillig wieder auf. »Hat sie jemand gesehen, Madame Gjers?«

»Das nicht, – weder ich, noch sonst jemand: die Becks wohnten damals den ganzen Herbst über ganz allein auf dem Lande, und das ist gerade ein Grund mehr, um zu –«

»Also wissen weder Sie noch die andern auch nur das Mindeste von der Sache, außer dem, was ihr euch selbst zurechtgelegt,« äußerte Salve bitter und verächtlich. Er folgte dem Drange, Elisabeth noch vor den übrigen zu verteidigen, obgleich er selbst über sie im Herzen leider schon den Stab gebrochen hatte und sich elend und krank fühlte.

»Zufälligerweise habe ich Kenntnis von dem Hergang,« log er, indem er ihr streng und scharf ins Gesicht sah, – »und,« fuhr er auf und schlug heftig auf den Tisch, »ich esse keinen Bissen im Hause einer solchen Lästerzunge! Verstehen Sie mich, Madame?« – Mit einem: »Bitte, machen Sie sich bezahlt!« warf er mehrere Silberstücke auf den Tisch und lief hinaus, um selbst seine Schiffstruhe herabzuschleppen.

Madame Gjers erschöpfte sich in abschwächenden Redensarten, sie habe ja nur gesagt und geglaubt, was sie von allen Leuten in der Stadt gehört; aber Salve war unzugänglich; seine Kiste in einem Strick auf dem Rücken schritt er die Straße hinab. Auf der Brücke setzte er seine Last ab.

Er hatte im Sinne, sich für die Fahrt zum Vater ein Boot zu bestellen, doch vorläufig blieb er auf der Kiste sitzen und starrte, in seine eignen Gedanken versunken, auf den Hafen hinaus.

Und das Ergebnis seiner Betrachtungen war, daß er die Hollandfahrt aufgab.

Er mietete ein Boot nach Sandvigen, doch während sie fuhren, ließ er den Ruderknecht plötzlich die Richtung ändern und auf der andern Seite des Hafens beim Krane anlegen. Er wollte mit Elisabeths Muhme reden und sich volle Gewißheit verschaffen; – immerfort empörte sich in seinem Innern etwas, das Schlimmste zu glauben.

Als er eintrat, erkannte ihn die Alte sogleich.

»Guten Tag, Salve!« sagte sie. »Bist lange fortgewesen – im fünften Jahre nun, wenn mir recht ist.«

Er blieb mit düsterer Miene stehen und beachtete ihre Einladung zum Sitzen nicht.

»Ist es wahr, daß Elisabeth – derart von den Becks weg – nach Holland kam?«

»Wie, derart?« fragte sie kurz. Ihr Gesicht wechselte die Farbe.

»So, wie die Leute es sagen,« antwortete Salve mit bittrem Nachdruck.

»Ja, wenn die Leute etwas sagen, dann muß ein Mensch wie du es wohl glauben,« erwiderte sie spottend. »Ich begreife nur nicht, wozu du herkommst und ihre alte Muhme fragst, wenn du so viele glaubwürdige Zeugen hast! Uebrigens kann die Muhme dir ganz was andres erzählen, mein Junge, und sie thäte es nicht, wenn sie nicht meinte, daß das Mädchen noch an dir festhalte, trotz all der Jahre, während welcher du dich Gott weiß wo in der Welt herumgetummelt hast. Ich kenne ihre Natur, wenn du es wissen willst. Eines Nachts flüchtete sie sich wirklich von den Becks und kam des Morgens hierher; aber sie that es um deinetwillen, weil sie den Seeoffizier los werden wollte. Madame Beck hat ihr nach Holland verholfen, weil man sie nicht zur Schwiegertochter mochte.«

Ein Strahl wilder Freude zuckte in Salves Antlitz auf; doch gleich verfinsterte es sich wieder.

»War sie denn nicht mit dem Marineoffizier verlobt?« fragte er.

»Ja und nein,« antwortete die Alte bedächtig, um nicht eine Haaresbreite von der Wahrheit zu weichen; »sie ließ sich verleiten, ihr Ja zu geben; doch floh sie aus dem Hause, weil sie ihn nicht haben mochte; mit Thränen in den Augen gestand sie mir, sie bereue es, dir ›nein‹ gesagt zu haben.«

»So war also die Geschichte,« sprach er ironisch, »also ›ja‹ und ›nein‹! Die Becks mochten sie nicht zur Schwiegertochter und schafften sie aus dem Hause nach Holland, und … da wollt ihr mich glauben machen, daß sie meinetwegen gegangen sei?« Niedergeschlagen fügte er kopfschüttelnd hinzu: »Gott weiß, ich möchte es glauben – für mein Leben gern – aber ich kann nicht, Mutter Kristine! – Ihr seid ihre Muhme und wollt natürlich …«

»Ich fürchte sehr, dies ist dein Unglück, Salve,« unterbrach ihn die Alte streng, »daß du niemand auf dieser Erde vollkommen zu trauen vermagst; darum strauchelst du auch immer am Geschwätz der Leute und am Zweifel. Aber mit solchen Gedanken, wie du sie hegst, hast du vor meiner Thür nichts mehr zu suchen. Nur um eins will ich dich noch bitten,« sprach sie mit mildem, eindringlichem Ernst in dem klugen, kräftigen Gesicht, »daß du es nie versuchst, dich Elisabeth zu nähern oder sie zu gewinnen, so lange du eine Spur von diesem Zweifel an ihr in deinem Herzen trägst. Das könnte nur zu euer beider Unheil führen.«

»Lebt wohl, Mutter Kristine!« sagte er überwältigt und suchte zum Abschied nach ihrer Hand; doch sie entzog sie ihm und wiederholte bloß: »Vergiß mir's nicht: eine alte Frau, die in der Welt gar mancherlei gesehen, gibt dir den Rat!«

Nachdenklich saß Salve im Boot, während er sich zu seinem Vater nach Sandvigen hinausrudern ließ. Unterwegs entschloß er sich, doch an seinem Plan der Fahrt nach Holland festzuhalten.


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