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Sechsunddreißigstes Kapitel

Der New Yorker Juni wurde immer heißer und erstickender. Carl plagte sich in seinem Bureau und verbrachte die meisten Abende bei Ruth, die sehnsüchtig auf den Juli wartete; für diesen Monat hatte sie eine Einladung von ihrem Vetter Patton Kerr in den Berkshires. Carl suchte ihr Kühle zu bringen. Er aß abends nur Spiegeleier auf Toast oder Suppe und Salat, um nicht müde und stumpf zu werden. Sie saßen draußen auf der Veranda und sprachen über die Schönheiten einer Temperatur von vierzig Grad unter Null; das heißt, davon sprachen sie manchmal. Ihr Lieblingsthema waren sie selbst.

Sie ließ sich noch immer nicht nehmen, daß sie nicht in ihn verliebt sei, und bei dem Wort Verlobung ging sie hoch. Sie könnte vielleicht eines Tages durchbrennen und irgend jemand heiraten, aber sich verloben – niemals!

Wie Liebende nun einmal sind: Carl konnte nicht vergessen, daß sie gelegentlich davon gesprochen hatte, sie mache sich sehr viel aus Kleidern, Tanzen und Ähnlichem. Es wäre für Ruth eine sehr erbauliche Überraschung gewesen, wenn sie erfahren hätte, mit welcher Gewissenhaftigkeit er das Problem ihrer Unterhaltung bei sich wälzte. Inmitten seiner Arbeit bekam er Einfälle, die ihm keine Ruhe ließen, bis er sie irgendwo notiert hatte. Seine Notizen auf alten Kuverts sahen ungefähr folgendermaßen aus:

 

Landkl. eintreten, damit R. tanzen kann?
Obstkorb für R.
Mason W. zum Lunch einladen
T-car-Tour NY. – S. F. aufziehn
Reporter für Tour wahrsch. Forbes
Walters neuer Höhenflug 5168
R. Dachgarten Astor führen
Landkl. denken

 

Er bekam eine Einladung vom Peace Waters Country Club und nahm Ruth mit. Sie schien alle Mitglieder zu kennen und tanzte hinreißend. Er ging mit ihr zu Josiah Bagby dinieren und führte sie zur Premiere einer Sommeroperette. Aber stets blieb er noch der Fremde in New York. Das meiste, was sie unternahmen, geschah auf ihre Veranlassung.

Hundert andere »Unterhaltungen« plante Carl, der in einsamen billigen Restaurants zu abend speiste. Hundertmal begnügte er sich mit einem Zehncent-Nachtisch und verzichtete auf ein begeisterndes Erdbeertortelett, das fünfzehn Cent gekostet hätte, um Geld für diese Unterhaltungen zu sparen.

Doch immer bestand für ihn ihr wirkliches Leben in einfachen Vergnügungen im Freien, bei denen keine Rücksichten auf andere genommen wurden. Ihr Vater schien sich darüber zu freuen. Einmal sagte er zu Carl (wobei er ihm eine Zigarre anbot): »Kinder, seht lieber zu, daß Tante Emma nichts davon erfährt, daß ihr euch so unterhaltet, wie es euch Spaß macht. Wie geht das Automobilgeschäft?«

 

Es wäre sehr schön zu erzählen, daß Carl von der Liebe dazu begeistert wurde, in seine Arbeit so viel von jener viel gerühmten amerikanischen Eigenschaft, dem »Schmiß«, zu stecken, daß der Touricar den ganzen Markt überschwemmte. Oder leise schluchzend zu schildern, wie erschütternd sein geschäftlicher Zusammenbruch gerade in der Zeit kam, da er das Geld am notwendigsten brauchte. In Wirklichkeit gingen die Touricarangelegenheiten so, wie im Leben die meisten Geschäfte gehn – gerade passabel. Einige Wagen wurden verkauft; es waren mehr Verkäufe zu erwarten; die VanZile Corporation dachte weder daran, den Touricar fallen zu lassen, noch daran, unsern jungen Helden zum Vizepräsidenten der Gesellschaft zu erwählen.

 

Im Juni fuhr Gertrude Cowles mit ihrer Mutter nach Joralemon. Carl hatte sie nach Weihnachten ungefähr alle Monate einmal gesehn. Zuerst war Gertie für ihn eine unglückliche alte Freundin gewesen, zu der er nett sein mußte. Da sie aber niemals imstande zu sein schien, auf ihren Wunsch zu verzichten, er möge irgendwie fest gebunden sein, sei es durch ihre Zuneigung oder durch seine Arbeit, kam er allmählich dahin, in ihr einen Feind zu sehn, der seine Freiheit bedrohte. Das letzte Stadium war völlige Gleichgültigkeit gegen sie. Sie bedeutete nichts für ihn, konnte nie wieder etwas für ihn bedeuten … Gertie war ihm jetzt ferner als jene hawaiischen Tänzerinnen, die er eines Tages mit Ruth zu sehn hoffte. Doch wenn Gertie seine Freiheit nicht gefährdet hätte, wäre er nie in die Lage gekommen zu erkennen, welchen Wert Ruth für ihn hatte.

 

Am ersten Juli 1913 reiste Ruth zu dem in der Nähe Pittsfields gelegenen Landhaus Patton Kerrs in den Berkshires ab. Carl schrieb ihr täglich; er erzählte ihr, ob er nun vom Touricar, von Dachgartengesellschaften, von Fliegerrekorden oder einem Motorradausflug mit Bobby Winslow berichtete, daß er sie liebe; er zog sogar an dem Ende seiner Briefe die altmodischen Kreuzzeilen, die Küsse darstellen sollen. So oft er ihr zu verstehn gab, wie sehr sie ihm fehlte, wußte er nicht recht, was sie herauslesen würde; fragte er sich, ob sie den Brief unter ihr Kissen legen würde.

Sie antwortete jeden zweiten Tag mit freundlichen Briefen und schilderte mit drolligem Humor die Menschen, die sie kennen lernte. Seinen Liebesruf beantwortete sie niemals direkt. Aber sie gab zu, daß sie gern wieder mit ihm spielen würde, und einmal, spät in einer kalten Berkshirenacht, als schwarzer Regen herabströmte und der Wind wie ein Bluthund heulte, schrieb sie ihm:

 

In meinem Zimmer ist es so still und draußen so wild, daß ich Angst habe. Ich wollte mich mit einem blauseidenen Schlafrock und einem Frühstückshäubchen aus Spitzen elegant machen, aber trotzdem bin ich ein einsames Kind und möchte dich gern hier haben, damit du mich tröstest. Hättest du etwas dagegen herzukommen? Ich würde eine bunte Decke über mein Bett breiten und einen türkischen Säbel aus Pappe und einen Othellokopf über mein Bett hängen und behaupten, es wäre ein gemütliches Eckchen – das heißt, wenn man solche Pappdekorationen überhaupt noch bekommt. Wir würden sehr still in zwei Schaukelstühlen zu beiden Seiten meines Kamins sitzen und hören, wie der angeschwollene Bach unter meinem Fenster dahintost. Aber da kein Falke hier ist, klagt der Wind ununterbrochen, daß Pan tot ist und daß die Sonne niemals wieder über dem Tal leuchten wird. Liebling, es ist wirklich nicht ungefährlich, so zu schreiben. Wenn du das gelesen hast, wirst du meinen, daß ich mich gerade nach dir sehne; aber ich würde mich ebenso sehr über Phil oder Puggy Crewden oder deinen netten feierlichen Walter MacMonnies oder irgendjemand freuen, der komische Töne von sich geben und mich vor dem Wind beschützen kann. Jetzt werde ich diesen Brief zukleben und morgen NICHT absenden.

Deine Spielgefährtin RUTH

Hier ist ein kleiner Kuß auf die Stirn, vergiß aber ja nicht, daß du das nur dem Wind und dem Regen verdankst.

 

Wahrscheinlich gab sie den Brief doch auf. Jedenfalls bekam er ihn.

Er trug ihre Briefe in der Seitentasche seines Rocks mit sich herum, bis die Couverts mit Notizen bedeckt und an den Kanten ganz abgerieben waren. Er fand völlig neue Auslegungen für ihre Briefe. Er wollte darin lesen, daß sie ihn liebte; und jeder nicht ganz eindeutige Satz bedeutete abwechselnd, daß sie ihn liebte, auslachte, verabscheute, liebte.

Carl war es sehr ernst damit, daß er so bekümmert ihre Stellung zu ihm untersuchte. Er wußte, daß sowohl Ruth wie er die Unbeständigkeit und Initiative des Vagabunden besaßen. Ebenso rasch, wie sie einander gefunden hatten, konnte einer von ihnen beiden, sobald er genug hatte, das Liebesband wieder zerreißen. Carl selbst, der durchaus noch nicht genug von ihr hatte, war so treu wie der langweiligste moralische junge Mann. Er vergaß Gertie, dachte niemals an Istra Nash, und als eine neue Telephonistin zu Van Zile kam, eine schlanke verführerische Brünette mit langbewimperten Augen und schönen Wangen, lächelte er sie nicht einmal an.

Aber – wie stand es um Ruth? Sie wollte noch immer nicht einmal zugeben, daß sie sich verlieben könnte. Er wußte, daß Ruth und er durchaus keine romantischen Geschöpfe waren, sondern höchst alltägliche Menschen mit einem Hang zum Streiten. Er wußte, daß sein rosiger Traum, selbst wenn er sich erfüllen sollte, nicht fleckenlos bleiben würde. Und jetzt, da sie fort war, Ausflüge nach Lennox machen und Polo spielen konnte, würde da der linkische, ungebildete Carl Ericson, als den er sich insgeheim kannte, sie noch fesseln können?

Ende Juli wurde er eingeladen, ein Weekend von Freitag bis Dienstag mit Ruth bei Patton Kerr zu verbringen.


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