Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierunddreißigstes Kapitel

Es gab, wie Ruth bemerkte hatte, Familien.

Als Carl gegen Ende April ganz formell zum Essen bei den Winslows eingeladen wurde, galt seine einzige Sorge dem Zustand seines Fracks. Sich passende und vernünftige Bemerkungen über die Geschäftslage für Mason und Mr. Winslow zurechtlegend, kam er vergnügt und munter hin. Als ihm das Mädchen öffnete, dachte er bloß daran, ob er Gelegenheit haben würde, unter dem Tisch Ruths Hand zu streicheln. Er kam voll zärtlicher Gefühle für die kleine zärtliche Familiengruppe, die bereit war, ihn zu empfangen.

Und er wurde in eine Höhle voll Fremder geworfen, die sich zum größten Teil in der einzigen gewaltigen Person Tante Emma Truegate Winslows konzentrierten.

Tante Emma Truegate Winslow war überall, wohin die Vorsehung (und auf diese hatte sie großen Einfluß) sie stellte, die Oberkommandierende. Bei einem Empfang im Weißen Haus hätte sie dem Präsidenten freundlich, aber fest bedeutet, er solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und sich für den Ablauf des Empfangszeremoniells an seine Stelle gesetzt. Jetzt eben thronte sie auf einem prähistorischen Stuhl, ungefähr im Zentrum des Salons, und pumpte aus Phil Dunleavy alle Einzelheiten über das Privatleben seiner Chefs heraus.

Tante Emma besaß die Seele einer zwei Meter hohen Herzogin-Witwe und hätte eine Adlernase haben müssen. In Wirklichkeit war sie von mittlerer Größe, hatte einen nicht übertrieben mütterlichen Busen, ein breites gewöhnliches Gesicht, Haar von der Farbe welken Grases, eine Stumpfnase mit ziemlich großen Poren und schmale Lippen, die von vorn gesehen wie eine gerade Linie wirkten, im Profil aber vorgewölbt waren wie ein Fischmaul. Sie hatte die Gewohnheit, verstehend zu nicken, auch wenn sie gar nicht zuhörte, und die Knöchel ihrer linken Hand fast ununterbrochen mit den Fingern der rechten zu reiben. Tante Emma Truegate Winslow war nicht von imponierender Erscheinung, aber sie schien dazu geboren, einen Hof zu disziplinieren.

Sie war eine untadelhafte Witwe in kostbarem schwarzseidenem Abendkleid.

In unwichtigen Angelegenheiten hatte sie stets recht, und in wichtigen stets auf eine sehr idealistische Weise Unrecht. Sie mischte sich höflich in alles ein, redete mit großem Ernst über die Moral der Armen, über Bridge und die Notwendigkeit, hübsche Mädchen zu behüten, konnte über Wagner und Rodin sprechen, trug Fünfzehndollar-Korsetts und glaubte aus tiefstem Herzen, daß die Truegate und die Winslow die vornehmsten Familien der ganzen Gesellschaft seien: mit diesen einfältigen Mitteln hatte Tante Emma Truegate Winslow die ganze Welt, selbst ihren nahezu englischen Butler nicht ausgenommen, davon überzeugt, daß sie ein höheres Wesen sei. Die Familientradition besagte, daß sie nur einen Finger zu heben brauchte, um in wirklich feine Gesellschaften zu kommen. Beim Tod von Ruths Mutter hatte Tante Emma zu ihren alten Pflichten (Orchesterkonzerte und Ausschußsitzungen) noch die übernommen, Ruth so zu erziehen, wie es sich gehörte. Sie hatte diese Pflicht in solchem Maße vernachlässigt, daß ein Barbar namens Ericson hatte eindringen können, und das nur, weil sie sich mit ihrem kleinen Sohn Arthur in Kalifornien aufgehalten hatte. Jetzt, während ihr Haus noch in Stand gesetzt wurde, war sie mit Arthur und einem ganz besonders widerwärtigen japanischen Spaniel namens Taka-San bei den Winslows abgestiegen.

Sie ließ sich Carl vorstellen, musterte ihn und gab ihn an Olive Dunleavy weiter, alles in fünfundvierzig Sekunden. Als Carl sich von dem Gefühl erholt hatte, er sei ein in einem Sack ertränktes Kätzchen, sagte er Olive angenehme Dinge und studierte die Situation im Salon.

Phil genoß Tante Emmas Gunst; Mr. Winslow saß, anscheinend völlig vernichtet, in einer Ecke und unterhielt sich mit Ruth; Mason Winslow erwies einem gut angezogenen freundlichen Mädchen namens Florence Crewden, die vorzeitig graues Haar hatte und gern von kleinen Kindern sprach, zögernd und vorsichtig Aufmerksamkeiten. Ruths jüngerer Bruder, der Mediziner Bobby Winslow, war nicht da. Je länger Carl Bobbys liebe Tante Emma sah, desto mehr Entschuldigungen fand er in seinem Herzen dafür, daß Bobby sich von dem Familienessen gedrückt hatte.

Als Tante Emma und Mr. Winslow ihm Fragen über die Entwickelung des Touricar stellten, machte Carl einen unangenehmen Augenblick durch, aber noch ehe er ins Reine darüber kommen konnte, ob die Familie ihn absichtlich prüfte, war alles vorüber.

Als sie zum Essen hineingingen – Mr. Winslow führte Tante Emma wie ein kleiner Junge die Schulleiterin – konnte Ruth ihm zuflüstern: »Mein Falke, sei lieb. Bitte, glaub mir, daß ich nicht Schuld daran bin. Das hat alles Tante Emma so eingerichtet, dieses scheußliche steife Familienessen. Laß dich nicht von ihr einschüchtern. Ich habe eine Todesangst und – – Ja, Phil, ich komme.«

Angesichts des freundlichen Tisches schien diese Warnung ganz ungerechtfertigt zu sein – Kerzen, Kristall, Blumen auf einer geschliffenen Spiegelplatte, silbrig glänzendes Leinen, Grape-fruit mit Sekt. Carl saß neben Tante Emma, aber diese schien viel mehr Interesse für Mr. Winslow zu haben, der am andern Ende des Tisches war; zu seiner andern Seite hatte Carl Olive Dunleavy. Ihm gegenüber saßen Florence Crewden, Phil und Ruth – Ruth schimmernd und leuchtend in einem gelben Atlaskleid, das die Linien ihrer schönen Schultern nur mit schmalen Achselbändern unterbrach.

Die Unterhaltung spielte mit Menschen. Florence Crewden erzählte unter Beifallsgelächter von einem Besuch im College der Stadt New York, und wie sie dort eine neue Menschenart entdeckt hatte, zum größten Teil junge Juden, die das College besuchten, um zu arbeiten, und keinen Sinn für die vornehmen Schönheiten der Bundesbrüderschaften hatten.

»Solche Outsider!« sagte sie. »Eine ganz komische Gesellschaft habe ich dort mitgemacht. Alle standen herum und diskutierten über Psychologie und Vivisektion und altgriechische Wurzeln! Phil, für Sie wäre es eine ganz nette Strafe, dorthin gehen zu müssen – den ganzen Tag im Laboratorium arbeiten und Zelluloidkragen tragen.«

»Ach, ich kenne die Brüder; wir haben genug von der Sorte in Yale gehabt«, antwortete Phil herablassend.

»Vielleicht tragen sie Zelluloidkragen – wenn sie es wirklich tun – weil sie arm sind«, protestierte Ruth.

»Mein liebes Kind«, meinte Tante Emma, »Kragen kosten doch nur fünfundzwanzig Cent. Sei nicht albern!«

Mr. Winslow erklärte mit einiger Schüchternheit: »Aber Em, meine Kragen kosten mich nur fünfzehn – –«

»Lieber Mason, wir wollen das nicht beim Essen erörtern. Ich möchte lieber hören, was für Skandale ich in Kalifornien versäumt habe. Ach, da fällt mir ein: habe ich euch schon erzählt, daß ich die unglückliche Amy Baslin gesehn habe, ihr wißt doch, die Kleine, die den Portier oder Aufseher, oder was er sonst in der Fabrik ihres Vaters war, geheiratet hat. Ich habe sie und ihren Mann in Pasadena getroffen, und die beiden sahen ganz glücklich aus. Natürlich setzte Amy ihr strahlendstes Gesicht auf, aber in Wirklichkeit müssen sie sehr unglücklich gewesen sein – eine sehr traurige Sache, und dabei hätte sie doch ganz anständig heiraten können!«

»Was meinst du mit ›anständig‹?« fragte Ruth.

Carl war verblüfft; er hatte Ruth einmal dasselbe mit denselben Worten gefragt.

Tante Emma drehte sich herum wie ein Geschützturm, zielte auf Ruth und bemerkte in aller Ruhe: »Mein liebes Kind, du weißt recht gut, was ich meine. Ich bitte dich, sprich nicht bei Tisch von sozialen Problemen, wenn du nicht wirklich etwas davon verstehst … Und jetzt will ich ganz genau über die Skandale informiert werden, die ich versäumt habe.«

Sie hatte nicht viel versäumt, aber sie achtete sorgfältig darauf, daß über Menschen gesprochen wurde, deren Namen Carl nicht kannte. Wieder war er der Outsider. Carl weiter ignorierend, fragte Tante Emma Ruth und Phil, die zusammen ihr gegenüber saßen:

»Also, wie habt Ihr euch denn amüsiert, Ruthie? Ich bin sehr froh, daß Phil und du endlich zu William Truegate gegangen seid. Und sein Brief über das Beaux Arts-Fest war einfach reizend, Ruthie. Ich war ganz neidisch auf dich und Phil.«

Der Drache sprach weiter zu Ruth, und Carl hörte zu, so oft sein Gespräch mit Olive es zuließ.

»Hoffentlich hast du nicht zu viel Zeit an diese Fürsorgearbeit gewendet, Ruthie – weiß der liebe Himmel, was für Krankheiten man sich da holen kann – ich bin natürlich die erste, die mit jeder Arbeit für die Armen einverstanden ist, so undankbar und dumm sie auch sind – ich kenne das ja von meinen Ausschüssen und dem Truegate-Hospiz für junge Arbeitermädchen – es ist sicher recht schön und gut, Mitleid mit ihnen zu empfinden, aber schließlich hätte ja der liebe Gott die Armut nicht in die Welt geschickt, wenn er nicht einen sehr guten Grund dafür gehabt hätte. Ihr wißt doch, was die Bibel sagt: ›Arme habt ihr allezeit bei euch‹, ganz abgesehen von dem Segen der Armut, der bestimmt nicht abzuleugnen ist. Aber lassen wir das. Jedenfalls hoffe ich, Ruthie, daß du dich nicht für undankbare schmutzige kleine Kinder überarbeitet hast.«

»Nein, liebes Tantchen, ich war so vorsichtig, wie es einer Winslow zukommt. Du siehst, auch ich habe meinen Egoismus. Nicht wahr, Carl?«

»O ja.«

In diesem Augenblick schien Tante Emma sich darauf zu besinnen, daß unmittelbar neben ihr ein Mann saß, der ihr vorgestellt worden war. Sie streifte Carl mit einem Blick, gab ihn zum zweitenmal als gesellschaftliche Unmöglichkeit auf und fuhr fort:

»Nein, Ruthie, nicht so sehr egoistisch, wie ohne Rücksicht auf die Pflichten einer Familie, wie wir es sind – und ich habe nie angestanden zu sagen, daß die Winslow ebenso gut sind wie die Truegate. Ich werde dafür sorgen, daß du noch in diesem Jahr mehr ausgehst, Ruthie. Vor allem aber mußt du in der nächsten Saison mit Phil die Wohltätigkeitsbälle besuchen. Du mußt endlich deine Aufmerksamkeit – –«

»Liebes Tantchen, bitte, sprechen wir doch von meinen Sünden erst, wenn wir das nächste Mal – –«

»Mein liebes Kind, jetzt habe ich einmal euch alle beisammen – Mr. Ericson wird sicher unser kleines Familiengespräch entschuldigen – und da will ich dir und unserm jungen Herrn Phil eure Pflichten vor Augen halten. Ihr vernachlässigt beide eure gesellschaftlichen Pflichten – es sind Pflichten, Ruthie, nicht nur der Mann hat welche – obwohl ich sagen muß, daß Phil bedeutend besser ist als du mit deinen absonderlichen Gewohnheiten, von denen wirklich nur der Himmel weiß, wo du sie her hast. Weder dein Vater noch deine selige Mutter waren – –«

»Liebes Tantchen, wir wollen zugeben, daß ich ein schwarzes Schaf mit einem schwarzen Schnäuzchen bin und die Gewohnheit habe, alle Mülleimer umzustoßen.«

Ruth sprach heiter, aber ihre Stimme klang nervös, und wenn sie nicht sprach, nagte sie nervös an ihren Lippen. Carl wagte es, dem Drachen die Stirn zu bieten.

»Mrs. Winslow, Ruth ist sicher viel braver gewesen, als Sie glauben. Sie hat alle diese fürchterlich komplizierten neuen Tänze gelernt. Sie wissen ja, ein armer Geschäftsmann wie ich findet diese – –«

»Ja«, sagte Tante Emma, »ich bin ganz sicher, sie wird immer daran denken, daß sie eine Winslow ist und die Traditionen der Familie wahren muß, aber manchmal fürchte ich, ihre Gutmütigkeit setzt sie schlechten Einflüssen aus.« Sie sagte das ganz laut und blickte Carl in die Augen.

Alles am Tisch hörte auf zu sprechen. Carl war zu Mute wie einem Vagabunden, der einem Kettenhund einen Tritt gegeben hat und dann entdeckt, daß die Kette gerissen ist.

Er wollte gut sein, keine Szene machen. Er bemerkte wütend, daß Phil grinste. Am liebsten hätte er Phil in eine Ecke geholt, die nicht einmal finster sein mußte, und ihn dort verprügelt. Er wollte Ruth signalisieren, wagte es aber nicht. In einer Viertelsekunde wurde ihm klar, daß die Familie über ihn gesprochen hatte, und das gefiel ihm gar nicht.

Alle schienen darauf zu warten, daß er etwas sage. Sich ununterbrochen den Kopf darüber zerbrechend, was sie mit den »schlechten Einflüssen« eigentlich gemeint hätte, begann er schüchtern:

»Ja, aber – – Ich wollte gerade sagen – – Meiner Ansicht nach ist Fürsorgearbeit ein guter Einfluß – –«

»Bitte, fangt nicht darüber zu diskutieren an, ob – –« stöhnte Ruth, aber Tante Emma schnitt ihr in strengem Ton das Wort ab:

»Es ist sehr freundlich von Ihnen, Mr. Ericson, daß Sie für Ruth Partei ergreifen, und bitte, mißverstehen Sie mich nicht. Ich weiß, daß ich nur eine törichte alte Frau bin, und daß es ganz altmodisch ist, wenn ich wünsche, daß die Winslow sich auf ihrem Niveau halten, aber sehn Sie, es ist ein Steckenpferd von mir, dem ich schon viele Jahre gewidmet habe, und da Sie die Winslow noch nicht gar so sehr lange kennen – –« Sie sprach nahezu höflich.

»Ja, allerdings«, murmelte Carl verbindlich, gerade in dem Augenblick, als sie auf die Höflichkeit wieder verzichtete und weitersprach:

»– können Sie gar nicht beurteilen – ja (das ist durchaus nicht persönlich gemeint) ich halte es einfach für unmöglich, daß jemand aus dem Westen sich überhaupt eine Vorstellung davon machen kann, wie teuer uns unsere Familienideale sind. Wahrscheinlich ist das sehr albern von uns, und bei Ihnen, mit Ihren großen Weizenfeldern, wo man sich nicht darum kümmert, wen man zum Großvater gehabt hat, ist alles sehr schön, aber eben weil uns alles das fehlt, müssen wir zum Ersatz dafür schützen, was wir durch die Anstrengungen vieler Generationen erworben haben.«

Carl wäre am liebsten aufgestanden und hätte gerufen: »Wenn Sie meinen, daß Ruth gegen mich geschützt werden muß, dann seien Sie so anständig und sagen Sie es auch.« Aber er beherrschte sich und sagte ganz freundlich:

»Aber warum diese Beschränkung des Interesses auf ganz wenige Familien? Übrigens, die Fürsorge – –«

»Von Beschränkung kann gar keine Rede sein. Es gibt reichlich genug gute Familien, die für Ruth in Frage kommen, wenn für mein Mädelchen die Frage einer Verbindung überhaupt auftaucht«, konstatierte Tante Emma kühl.

»Ich will den Mund halten«, sagte er sich. »Ich will den Mund halten. Ich will sehn, daß ich dieses Essen übersteh, und dann nie mehr dieses Haus betreten.«

Und Tante Emma räusperte sich höchst damenhaft, um eine neue Attacke zu beginnen. Carl wußte, daß er in Versuchung geraten würde, eine grobe Antwort zu geben.

In diesem Augenblick war an der Speisezimmertür die hohe Stimme eines aufgeregten Kindes zu hören:

»Ach Mamma, ach Ruthie, Fräulein sagt, Falke Ericson ist da! Ich will ihn gezeigt kriegen!«

Alles drehte sich um, um den fünf- oder sechsjährigen Jungen zu sehn, der in seinem kleinen Pyjama, einen Stoffaffen unter den Arm gepreßt, verlegen und doch trotzig dastand.

»Aber Arthur!« – »Aber Jungchen!« – »Ach, das süße Kind!« rief alles am Tisch.

»Komm her, Arthur, und sag, was du willst, bevor Fräulein mit dir schimpft«, sagte Phil durchaus nicht herablassend, während er mit ausgestreckten Armen aufstand.

»Nein, nein! Du laß mich gehn! Ich will Falke Ericson sehn. Ist das Falke Ericson?« fragte der Sohn Tante Emmas, auf Carl zeigend.

»Ja, mein Liebling«, antwortete Ruth sanft und stolz. Arthur lief um den Tisch herum und versuchte, Carl auf den Schoß zu springen.

Carl hob ihn herauf und fragte: »Also, was willst du, mein Junge?«

»Bist du Falke Ericson?«

»Zu Befehl, Käpt'n.«

Und Tante Emma erhob sich und sagte in gebieterischem Ton: »Komm, mein Söhnchen, jetzt, wo du Mr. Ericson gesehen hast, heißt es wieder ins Bettchen gehn, hinauf – ins – Bettchen.«

»Nein, nein; bitte nein, Mamma! Ich hab noch nie einen Flieger gesehn. Noch nie in meinem ganzen Leben, und in Pasadena hast du mir versprochen, mit Ehrenwort und Hand aufs Herz, daß ich einen zu sehn krieg.«

Auf Arthurs Gesicht erschienen Zeichen eines unmittelbar drohenden Ausbruchs von Ungezogenheit.

»Also schön, du darfst ein bißchen bleiben«, sagte Tante Emma sich fügend, während alle außer Carl, der mit Arthurs Begeisterung zu tun hatte, über das ganze Gesicht grinsten.

»Ich werd auch Flieger werden; Flieger ist tapferer als alles andere, glaub ich. Ich möcht lieber Flieger sein als General oder Schutzmann oder sonstwas. Ich hab ein Bild von dir, da hast du so einen komischen Hut auf wie Vetter Bobby, wenn er Fußball spielt. Soll ich das Bild mal runterholen? … Schenkst du mir noch eins?«

Tante Emma unternahm einen zweiten Versuch, Arthur zum Hinaufgehn zu bewegen, aber Seine Majestät lehnte ab, und so begnügte sie sich damit, das Fräulein zur Rede zu stellen und einen Schlafrock herunterholen zu lassen, einen kleinen blauen Schlafrock mit gelben Enten und weißen Kaninchen.

»Wie unsere blauen Schüsselchen«, sagte Carl zu Ruth.

Erst nach dem Kaffee, der im Salon serviert wurde, ließ Arthur sich dazu bewegen, zu Bett zu gehn. Dieses wirkliche Haupt der Familie Tante Emmas hatte viel zu viel damit zu tun, Carl von seinen langen Flügen erzählen zu lassen und ihn zu fragen: »Warum fliegt eine Flugmaschine? Was ist Winddruck? Warum schiebt der Wind nach oben? Warum sind die Tragflächen krumm? Warum wollen sie den Wind auffangen?« Und alles, Tante Emma nicht ausgenommen, lauschte.

Carl ging früh nach Hause. Ruth fand noch eine Gelegenheit, ihm zuzuflüstern:

»Lieber Falke, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich schäme, weil meine Familie die Grobheiten und Vorurteile Tante Emmas duldet. Aber jetzt ist alles wieder gut, nicht wahr? … Nein, nein, gib mir keinen Kuß, aber – recht schöne Träume, Falke.«

Von hinten rief Phils Stimme: »Ach, Ericson! Einen Augenblick, bitte.«

Carl war das gar nicht recht. Er wußte noch ganz genau, daß Phil seinen Versuchen, Tante Emmas Angriffen entgegenzutreten, mit unverhohlener Belustigung gelauscht hatte.

Phil aber sagte, während Ruth verschwand: »In welcher Richtung gehn Sie? Ich komme bis zur Untergrundbahn mit. Sie gewinnen, alter Junge. Ich bewundere Ihren Mut, Tante Emma zu widersprechen. Was ich aber eigentlich sagen wollte – Sie dürfen wirklich nicht annehmen, ich wäre schuld daran, daß Mrs. Winslow von Ruth und mir immer in einem Atem gesprochen hat, und – – Also, Sie verstehn schon. Ich bewundere Sie wirklich sehr, weil Sie so genau wissen, was Sie wollen, und auch direkt darauf losgehn. Ruth werden Sie wohl noch überzeugen müssen, aber mich, weiß Gott! mich haben Sie schon überzeugt. Freut mich, daß Arthur Ihnen zu Hilfe gekommen ist. Ein besseres Kind gibts nicht. Wenn ich so einen Sohn haben könnte – – Ich muß hier herunter. V-viel Glück, Ericson.«

»Recht herzlichen Dank, Phil.«

»Danke. Gute Nacht, Carl.«


 << zurück weiter >>