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Erster Teil.
Das Abenteuer der Jugend


Erstes Kapitel

Carl Ericson war ungezogen. An jenem Sonnabendnachmittag im Oktober gab es in ganz Joralemon wohl keinen ungezogeneren Jungen als ihn. Zur Strafe dafür, daß er während des Soldatenspielens mit Bennie Rusk den vor Angst laut schreienden Haushahn dreizehnmal um den Hühnerhof gejagt hatte, mußte er Holz aufstapeln, und damit war er noch nicht zur Hälfte fertig.

Er stand in der Mitte des Holzschuppens und bearbeitete die umherliegenden Scheite mit pessimistischen Fußtritten. Eine höchst unromantische Schmutzschicht bedeckte sein Gesicht, und so war nichts davon zu merken, daß seine skandinavischen Wangen wie Seide aussahen, deren cremefarbener Grund zartrosa getönt ist. Seine Mütze saß ganz hinten auf dem aschblonden Haar, das jetzt verfilzt war wie niedergetretenes Gras, und auf einer der seidenweichen Locken ritt frech ein kleinwinziger Holzspan.

Die Finsternis im Schuppen mißfiel Carl. Der ganze Begriff Arbeit widerte ihn an. Die Holzstücke waren seine persönlichen Feinde, denen er ehrenrührige Namen gab.

Er trat vor den Schuppen und schnupperte den Rauch brennenden Laubs ein – den Duft des Herbstes, des Streifens und der Wanderlust. Zwischen den Häusern sah er das schilfbewachsene Ufer des Joralemonsees. Der blaue Wasserspiegel war glatt, nur an einer Stelle in der Strömung sprangen, funkelnd und glitzernd wie Diamanten, kleine Wellen auf. Jenseits des Sees unterbrachen Wäldchen, zwischen deren Bäumen helle Tupfen von Steinkraut und Paprika standen, die weite Fläche gelber Stoppeln, und im zärtlichen Sonnenlicht und der kräftigen Luft der Minnesotaprärie leuchtete sanft eine rote Scheune. Dahinter lagen die Stätten der Tapferkeit, wo erwachsene Männer mit blinkenden Schießgewehren Präriehühner jagten; die »Große Welt«, die geradewegs zum Red-River-Tal und nach Kanada führte. Mit lang ausgestrecktem Hals, raschen Flügelschlags, schwirrten drei Wildenten über Carls Kopf dahin. Von weither kam das Echo eines Büchsenschusses; in der wartenden Stille klang das Krähen eines Hahns fern und zauberhaft.

»Ich möcht auf die Jagd!« jammerte Carl, während er widerwillig in den Holzschuppen zurückging. Dort schien es noch dunkler zu sein und noch mehr nach verschimmelten Holzspänen zu riechen als sonst. Er sprang in die Höhe wie ein gereiztes Eichhörnchen. Seine phlegmatischen porzellanblauen Augen überzogen sich mit einem Tränenschleier. »Will kein Holz mehr aufstapeln«, maulte er.

 

Carl war ein Norweger in der zweiten Generation: Amerikaner der Geburt, der Sprache und (bis auf das flachsblonde Haar und die porzellanblauen Augen) auch der Erscheinung nach; auf geradezu überwältigende Weise, dank der flaggengeschmückten Volksschule, Amerikaner in seinem Denken. Als er zur Welt kam, hatten die »typischen Amerikaner« früherer Zeiten zum Teil ihr Domizil in Stadtpaläste verlegt, zum Teil lebten sie einsam und fern von der Welt auf abgewirtschafteten Farmen. Carl Ericson, und nicht ein Trowbridge oder Stuyvesant, ein Lee oder Grant, repräsentierte den »typischen Amerikaner« seiner Epoche. An ihm war es, die amerikanische Tradition fortzuführen und den Horizont weiter nach dem Westen hinauszurücken, an ihm, die frostigen Pilgertugenden und die frohen, vom Trommeln der Rebhühner erfüllten herbstlichen Tage Daniel Boones wieder aufleben zu lassen und schließlich, in seiner eigenen oder einer späteren Generation, der amerikanischen Sehnsucht nach Schönheit neue Ziele zu weisen.

Das sind die neuen Yankees, diese Skandinavier in Wisconsin und Minnesota und den beiden Dakotas, ein Menschenschlag, der gedeihen kann und Tausende von Meilen dafür zur Verfügung hat. Wenn die im Ausland geborenen Eltern zum erstenmal in den nördlichen Mittelwesten kommen, schlüpfen sie in ungestrichenen Farmhäusern mit graslosen Vorhöfen unter, in fliegendurchsummten Küchen und säuerlich riechenden Milchkammern, die sie sich in rauhen, baum- und schattenlosen Gegenden mitten in der Prärie bauen oder in neu angelegte, von kleinen Baumstümpfen übersäte Waldschläge stellen. Die erste Generation fühlt sich fremd und verloren. Die echoreichen Fjorde Trondhjems und die Moore der Finnmark haben ihre Phantasie gebunden, haben ihr Lachen erstickt, ihre echte Zärtlichkeit unter einer Eisdecke verborgen. In Amerika besuchen sie unverdrossen die kahle lutherische Kirche und trinken häufig neunzigprozentigen Alkohol. Sie sind auch Helden; von den Tagen der Indianerüberfälle, der Ochsengespanne und der in Bergwände eingegrabenen Höhlenwohnungen bis heute sind sie die Schöpfer eines neuen Landes, wiederholen sie mit ihrem geduldigen Roden und Behacken die Geschichte der westlichen Reservationsgebiete … Innerhalb einer Generation, manchmal sogar im Verlauf eines Jahrzehntes, entringen sie sich der Trostlosigkeit des Fremdseins. Sie und die Deutschen bezahlen Yankee-Hypotheken mit Blut und Schweiß. Bald haben sie die Politik des Landes begriffen, lassen sich bei den Wahlen nur von ihrer Gewissenhaftigkeit leiten; sie machen genau ausgeklügelte, skrupelhaft ehrliche Geschäfte, schicken ihre Kinder in die Schule, vermehren ihren Landbesitz – eine Sektion, zwei Sektionen Staatsland – oder ziehen in die Stadt, um einen Laden aufzumachen, ein Handwerk zu betreiben; sie werden Methodisten oder Kongregationisten, pflegen nachbarlichen Verkehr mit Yankee-Fabrikanten, -Ärzten und -Lehrern und sind innerhalb einer Generation oder noch rascher ganz und gar zu Amerikanern geworden.

So war es auch bei Carl Ericson. Sein Vater, der Zimmermann, hatte (damals hieß er noch Ericsen) als Zwischendeckpassagier Norwegen verlassen und sich in Wisconsin angesiedelt, um eine Farm zu bewirtschaften. Jetzt nannte sich Ericson senior Besitzer eines Häuschens und redete, obgleich sein Amerikanisch noch immer unverfälscht skandinavisch klang, von seinem amerikanischen Zoll und seinem norwegisch-amerikanischen Gouverneur mit einer Selbstverständlichkeit, als säßen seine Vorfahren seit fünf Generationen in Connecticut oder Virginia.

 

Carl wußte nichts von der legitimen Erbschaft eines Zeitalters; er wußte nur, daß es im Schuppen dunkel war, und machte rasch seine Arbeit zu Ende.

Dann betrachtete er von der Tür des Schuppens aus in kummervoller Langweile die Welt und rief:

»Ir-r-r-r-rving!«

Von Irving, dem Nachbarsjungen, kam keine Antwort.

Die ganze Ortschaft war aufreizend still. Langsam und unglücklich hüpfte er zu der Ahorngruppe neben der Werkstatt und bohrte mit den Fingernägeln in den spinnwebüberzogenen Rissen der schwarzen Rinde herum. Er warb mit allen Mitteln um die Gesellschaft eines Rotkehlchens, einer Raupe und einer großen blauen Fliege, fand aber nirgends Gegenliebe, und als er einem vorüberlaufenden Hund eine liebenswürdige Einladung zurief, schien dieser Schwanz und Ohren im Davongaloppieren geradezu zu verschlucken. Sonst zeigte sich niemand.

Er stellte sich unter das Küchenfenster und rief in klagenden Tönen:

»Ma-ma!«

Von drinnen war das dumpfe Klopfen eines Plätteisens auf dem gepolsterten Plättbrett zu hören.

»Ma!«

Hinter den Baumwollvorhängen zeigte sich Mrs. Ericson mit dem weißlich gelben Haar, den hellen Augen und den kleinen kräftigen Zügen.

»Ja?« fragte sie.

»Ich hab gar nichts zu tun.«

»Geh das Holz aufstapeln.«

»Ich hab schon ganze Stapel gestapelt.«

»Dann kannst du spielen gehen.«

» Hab schon gespielt.«

»Dann spiel weiter.«

»Ich hab aber niemand zum Spielen.«

»Dann such dir jemand. Aber daß du mir keinen Schritt vom Hof wegtust.«

»Wa- rum soll ich denn nicht vom Hof weggehn?«

»Weil ich's so haben will.«

Und sie plättete weiter.

Carl erfand ein Spiel, in dem er Kreise laufen mußte, aber das Gras nicht betreten durfte; er inspizierte zum zehntenmal im Laufe dieses Tages die trocknenden Haselnüsse, deren Schalen auf dem Dach des Holzschuppens allmählich dunkelbraun wurden; er suchte nach einer guten neuen Flasche, mit der er nach Irving Lambs Scheune werfen wollte; er reparierte seine Schleuder; er hockte sich auf eine Bank und beobachtete die Straße. Nichts war zu sehn, kein interessantes Geräusch zu hören, nur ein Fuhrwerk kam vorbei.

Jenseits des Wassers erscholl noch ein Büchsenschuß, der von kühnen Wagnissen in weiten Fernen erzählte.

Carl sprang von der Bank herunter, ging »nun grade« vom Hof und marschierte durch die Oak Street zur »Anhöhe« – dem eleganten Teil Joralemons, wo in vornehmer Abgeschiedenheit fünf große Häuser lebten, die nahezu alljährlich frisch gestrichen wurden.

Er stapfte, mit den Füßen kleine Staubwölkchen aufwirbelnd, dahin, höchst würdevoll und melancholisch; was ihn jedoch nicht daran hinderte, hin und wieder wie alle kleinen Jungen ein wenig verrückt zu werden und einem Garnichts nachzulaufen, bis er es einholte.

Vor dem Haus mit den rätselhaften Fensterläden blieb er stehn.

Carl hatte niemals in einer Märchenwelt gelebt oder sich eingebildet, ein Prinz zu sein; er war in dem geheimen Reich der Kindheit vielmehr Soldat, Trapper oder Bremser bei der Minnesota & Dakota-Eisenbahn. Aber die Atmosphäre von Größe, die von dem eisernen Zaun, den anmutigen Bäumen und dem dunklen Wagenschuppen des Hauses mit den Fensterläden ausging, bezauberte ihn. Es war ein großes, viereckiges, massives Backsteingebäude, das zwischen Eichen und düsteren Föhren stand, früher einmal das Heim des Bankiers Whiteley, nun aber seit Jahren unbewohnt.

Vor dem verlassenen Wagenschuppen faulte Laub. Nach Regenfällen standen tagelang seichte Wassertümpel an den Rändern des unbenutzten Außentreppchens. Die Fenster waren seit jeher verschlossen, aber nicht wie die der gewöhnlichen Häuser Joralemons mit derben Außenläden, an deren primitivem Anstrich schwarze Härchen vom Pinsel klebten: sie hatten Innenläden, deren harte braune Lackierung sehr vornehm wirkte.

Heute standen die Fenster offen, die Läden waren zurückgeschlagen; es wurden Möbel hineingetragen; und gleich hinter dem Eisenpförtchen spielte ein fein angezogenes kleines Mädchen mit einer weißen Muschel.

Damals mochte sie etwa zehn Jahre alt sein, also zwei Jahre älter als Carl. Sie war ein sehr geschniegeltes und selbstgefälliges Kind, das nicht nur ein sauberes weißes Musselinkleidchen mit drei Volants, untadelhafte braune Schuhe und eine grüne Pudelmütze besaß, sondern auch eine große Haarschleife, eine Schärpe und eine Silberkette mit großem, vergoldetem herzförmigen Medaillon. Sie sah weich und rundlich aus, hatte ein weiches, freundliches Gesichtchen und weiches braunes Haar und sprach mit einer weichen angenehmen Stimme.

»Hallo!« sagte sie.

»H'lo!«

»Wie heißt du, kleiner Junge?«

»Bin kein kleiner Junge. Ich bin Carl Ericson.«

»So, ach? Ich bin – –«

»Wenn ich fünfzehn bin, bekomm ich ein Schießgewehr.«

Um zu zeigen, daß er nicht verlegen sei, warf er verlegen mit einem Stein nach einer Telegraphenstange.

»Ich heiße Gertie Cowles. Ich bin aus Minneapolis. Meine Mamma hat einen Anteil an der Joralemon-Mühle … Bist du ein artiger Junge? Wir sind gerade hierhergezogen, und ich kenn keinen Menschen. Meine Mamma wird mich vielleicht mit dir spielen lassen, wenn du ein artiger Junge bist.«

»Ich komm sehr bald zu dir spielen. Wenn du Soldaten spielst … Mein Pa kann am meisten von allen Leuten in Joralemon. Er hat das Haus von Alex Johnson gebaut. Er hat ein Gewehr.«

»Ach … Meine Mamma ist Witwe.«

Carl hängte sich mit den Armen an den Zaun, und sie staunte, atemlos vor Bewunderung über diese Darbietung:

»O-o-oh!«

»Das ist noch gar nichts. Ich kann mich mit den Knien auf ein Trapez hängen … Warum seid ihr aus Minneapolis hergekommen?«

»Wir werden hier wohnen«, sagte sie.

»So.«

»Ich war in diesem Sommer mit meiner Mamma auf der Weltausstellung in Chicago.«

»Ach, ist ja nicht wahr!«

»Doch. Und ich hab eine kleine Lokomotive gesehn, die war so klein, daß sie in einer Nußschale drin war, und man hat sie mit dem Vergrößerungsglas ansehn müssen, und sie ist ununterbrochen drauf los gefahren wie Ich-weiß-nicht-was.«

»Hö! Das ist noch gar nichts! Ben Rusk, der ist auch auf der Weltausstellung gewesen, und er hat n Denkmal gesehn, das war größer als unser Haus und ganz aus reinem Gold. Das hast du nicht gesehn.«

»Doch, hab ich auch gesehn! Und wir haben Vettern in Chicago, und bei denen haben wir gewohnt, und Vetter Edgar ist ein sehr hervorragender Arzt für Augen d'Ohren und Inneres.«

»Ach, der Pa von Ben Rusk ist auch Doktor. Und er hat einen Bruder, der wird Schierurg werden.«

»Ich hab einen Bruder. Er ist ein Jahr älter wie ich. Er heißt Ray … In Minneapolis gibts viel mehr Leute wie in Joralemon. In Minneapolis gibts hunderttausend Menschen.«

»Das ist noch gar nichts. Mein Pa ist in Christiania auf die Welt gekommen, im Alten Land, und dort gibts eine Million Millionen Menschen.«

»Ach, das ist nicht wahr!«

»Ehrenwort.«

»Wirklich Ehrenwort?« Jetzt war Gertie voll Bewunderung.

Er warf einen gönnerhaften Blick auf das rotplüschene Möbelstück, das gerade von Jordans Rollwagen in das große Haus getragen wurde – Carl war ein alter Freund Jordans und hatte sich schon oft von ihm auf seinem Wagen mitnehmen lassen. Er sagte herablassend:

»Herrjesus! Du kennst ja Bennie Rusk nicht, und überhaupt niemand! Ich werd ihn herbringen, und dann können wir Soldaten spielen. Und wir können Zelte aus Teppichen machen. Bist du schon mal unter Teppichen durchgegangen, die auf der Leine sind?«

Er zeigte auf die Reihe von Matten und Teppichen, die neben dem Wagenschuppen zum Lüften aufgehängt waren.

»Nein. Macht das Spaß?«

»Es ist schrecklich unheimlich. Aber ich hab keine Angst.«

Er lief auf die Teppiche zu und trat in das von ihnen gebildete lange, schmale Zelt ein. Um die Wahrheit zu sagen: als er aus dem hellen Sonnenlicht in das tiefe Dunkel kam, hatte er ein wenig Angst. Der eine Teppich der Ericsons bildete einen kurzen Tunnel, aber immer weiter und weiter unter dieser Reihe schwerer Matten hindurchzugehn, wo Schlangen und giftige Insekten versteckt sein konnten, und wo die grobfädige, rauhe Rückseite seine tastenden Hände kratzte, das war furchtbar. Er tauchte mit einem gellenden Triumphschrei auf und redete ihr zu, sie solle es gleichfalls versuchen. Sie warf einen Blick unter den ersten Teppich, zog aber sofort wieder den Kopf heraus und erklärte ehrfürchtig:

»Ach, es ist ja so finster, wo du durchgegangen bist!«

Prompt wiederholte er seine Großtat.

Als sie zum Eingangspförtchen zurückgingen, um dem Möbelmann zuzusehen, suchte Gertie die ihren Jahren zukommende Überlegenheit wieder herzustellen, indem sie von einem großen Schreibtisch, der gerade durch die Tür hineingeschafft wurde, erzählte: »Den Tisch hat mein Papa in Chicago gekauft …«

Carl unterbrach sie: »Ich hol Bennie Rusk her, und ich und er werden dir zeigen, wie man Soldaten spielt.«

»Meine Mamma meint, ich soll solche Spiele nicht spielen. Ich hab eine Menge Puppen, aber für Puppen bin ich zu alt. Mit der Mamma spiel ich manchmal Dichterquartett. Und Domino; Dichterquartett ist ein sehr nettes Spiel.«

»Aber vielleicht wird deine Ma dich Indianersquaw spielen lassen, und ich und Bennie werden dich an einen Pfahl binden und skalpieren. Das wird nicht so wild sein wie Soldaten. Aber ich werd ein richtiggehender echter Soldat werden. Ich werd ein Noffizier beim Militär werden.«

»Ich hab einen Vetter, der ist Offizier beim Militär«, sagte Gertie großartig, ihren Zopf nach vorn holend und sich mit dem unteren Ende die Lippen streichelnd.

»Hand aufs Herz?«

»Mhmm.«

»Hand aufs Herz, und wenns nicht wahr ist, willst du sterben?«

»Ehrenwort, er ist Offizier.«

»Heiliger Bimbam! Sag, mal Gertie, könnte der mich zum Noffizier machen? Gehen wir ihn suchen. Wohnt er nah von hier?«

»Ach du meine Güte, nein! Der ist ganz weit weg in San Francisco.«

»Komm. Gehn wir dorthin. Du und ich. Herrjeh! Du gefällst mir! Du hast ein schrecklich hübsches Kleid.«

»Man macht nicht ins Gesicht Komplimente, das schickt sich nicht. Mamma sagt …«

»Komm! Gehn wir! Wir gehn!«

»Ach nein. Ich möchte ja gern«, antwortete sie zaudernd, »aber meine Mamma würde es mir nicht erlauben. Sie erlaubt sowieso nicht, daß ich mit Jungs spiele. Jetzt ist sie im Haus. Und außerdem ist es sehr, sehr weit, hinter dem Meer, nach San Francisco; es ist noch hinter dem Salzsee, wo die Mormonen leben, und die haben jeder sieben Frauen.«

»Hinter dem Meer wie Christiania? Ach, das stimmt nicht! Es ist in Amerika. Weil nämlich Mr. Lamb im letzten Winter dort gewesen ist. Außerdem, wenn es übers Meer war, könnten wir nicht als blinde Passagiere gehn, wie die jüngeren Brüder und alle die? Und der kleine Lord Fauntleroy. Der ist hingekommen und Lord geworden, und dabei war er nichts weiter wie eine Waise. Meine Ma hat mir von ihm vorgelesen. Nur spricht sie nicht besonders gut englisch. Aber wir werden als blinde Passagiere gehn«, schloß er triumphierend.

»Gerrrrrrtrrrrrude!« rief eine schrille Stimme aus dem Haus.

Gertie warf einen bösen Blick auf ihre Mutter.

Mrs. Cowles, eine hagere Frau, trug über ihrem höchst reputierlichen schwarzen Alpakakleid eine lange grün-weiße Schürze; sie hatte eine große Nase und einen stumpfen Teint, aber ihre Haltung war so gebieterisch, daß sie fast hübsch und auf jeden Fall furchteinflößend wirkte.

»Ach Himmel!« Gertie stampfte mit dem Fuß auf. »Jetzt muß ich reingehn. Wenn mir was Spaß macht, kann ich's nie tun. Adieu, Carl …«

Er unterbrach hastig ihr tragisches Abschiednehmen. »Hör mal! Wunderbar! Ich weiß, was wir machen. Du schleichst dich zur Hintertür raus, und ich treff dich dort, und wir laufen davon und gehn unser-Glück-suchen, und wir müssen deinen Vetter finden …«

»Gerrrtrrude!« kam es aus dem Hause.

»Ja, Mamma, ich komm schon.« Zu Carl: »Übrigens, ich bin älter wie du, und ich bin fast schon erwachsen, und ich glaub nicht an den Nikolaus, und einmal hab ich, wie der Lehrer nicht da war, in der Kinderklasse in der St.-Chrysostomos-Sonntagsschule unterrichtet; also, jedenfalls hab ich und Miss Bessie Unterricht gegeben, und ich hab fast alle Fragen über die Posaunen und die Krüge gefragt. Deshalb kann ich nicht davonlaufen, ich bin zu alt dazu.«

»Gerrrtrrrude, komm augenblicklich her!«

»Also. Ich werd warten«, erklärte Carl.

Sie war fort. Mrs. Cowles führte sie in das Haus mit den rätselhaften Fensterläden. Carl spazierte, einen schönen, langen, neuen Stock wie einen Säbel an der Seite, über die Straße. Er umging den Block und wartete hinter dem Cowlesschen Wagenschuppen; dort patroullierte er als Schildwache auf und ab und überlegte sich, wieviele Papageien und wieviel Geld er von San Francisco zurückbringen würde. Dann wird es seinem Vater und seiner Mutter schon leid tun, daß sie in ihrem Norwegisch immer über ihn geredet haben!

»Carl!« Gertie kam um die Ecke des Wagenschuppens gelaufen. »Ach, Carl, ich mußte rauskommen und nochmal mit dir reden, aber unser-Glück-suchen kann ich nicht mit dir gehn, weil jetzt das Klavier hineingeschafft ist und ich üben muß, sonst wachse ich als ganz ungebildete gewöhnliche Person auf, und außerdem gibts zum Abendessen Teezwiebäcke und Honig. Den Honig hab ich schon gesehn.«

Er schulterte schwungvoll seinen Säbel und ordnete an: »Los!«

Gertie kam, verblüfft an einem Fingergelenk lutschend, mit und folgte ihm über die Lake Street dem flachen Land zu. Sie gingen über die Strecke der Minnesota & Dakota-Eisenbahn; in einem Land, wo es, wie im Jahre 1893 auf der eingeleisigen M.&D., nur wenige und langsame Züge gab, war das ein natürlicher Fußweg. Ein wenig besorgt fragte Carl, ob San Francisco im Nordwesten oder im Südosten liege – in diese beiden Richtungen führten alle Eisenbahnen, die etwas auf sich hielten. Gertie behauptete schlankweg, es sei im Nordwesten; und in dieser Direktion brachen sie auch auf – vor ihnen lagen die Sümpfe und die ersten Baumgruppen der Großen Wälder.

An der Strecke konnte er ihr Wunderländer zeigen. Für ihn hatte jede Einzelheit ihre wissenschaftliche Bedeutung. Er kannte die Topographie der Felder zu beiden Seiten der Eisenbahnlinie ganz genau; er wußte, in welchem Winkel von Tubbs' Viehweiden zwischen der Bahn und dem See der strubblige wilde Klee wuchs, und an welchem Teil des Kiesdammes das Herunterrollen am schönsten war. Bis zum Durchlaß hatte jede Schwelle auf der Strecke ihre eigene Persönlichkeit: die dicke weiße Schwelle, die an dem einen Ende in einen scheußlichen Knollen auslief, haßte er, weil sie ihn an eine plattgedrückte Made erinnerte; eine neue, erst vor kurzem von der Sektionsrotte verlegte Lärchenschwelle, die noch ein Stückchen frische Rinde trug, war ein amüsanter Fremder; und vor allem machte er Gertie mit seinem Liebling bekannt, einer einfarbigen Schwelle, die stets lächelte.

Gertie glaubte wohl, sie sei es ihrer Vornehmheit schuldig, den gefangenen Schwellen, die unter den Stahlgeleisen schmachteten, ihre Huld zu gewähren, aber bevor sie zu dem mit Recht berühmten Durchlaß kamen, zeigte sie nicht gerade übermäßige Begeisterung, und auch da pries sie noch die Minnehaha-Fälle, das Fort Snelling und den Calhoun-See; immerhin erklärte sie auf seine bekümmerten Mahnungen, daß die Zwillingsstädte schließlich nichts hätten, was sich mit dem Durchlaß messen könnte – einem Sandsteintunnel, der, ganze sechs Meter hoch, unter dem Eisenbahndamm hindurchführte und mit großen Steinen eingefaßt war, an denen man herabklettern konnte, indem man von Block zu Block stieg. Durch den Durchlaß sickerte der Bach, in dessen Tümpeln hin und wieder Elritzen zu finden waren, und von dem Bach führten wieder wichtige Pfade in die Wildnis der Haselnußsträucher. Er brachte ihr bei, wie man die trocknenden Hülsen von den Nüssen löst und diese dann mit Steinen aufknackt. Auf seine Bitte holte Gertie von ganz ungeahnten Stellen ihres feinen Kleidchens zwei Stecknadeln hervor. Er förderte ein Stück Schnur zu Tage, und dann angelten sie in dem Wässerchen nach Barschen. Da sie jedoch keinen Köder hatten, war der Erfolg nicht gerade groß.

Ein Flug Enten, der einen Weiher für die Nacht suchte, strich ganz niedrig über sie hin.

»Herrjesus!« rief Carl. »Es wird spät. Wir müssen rasch machen. Nach San Francisco ist's schrecklich weit, und – ich weiß nicht – herrjeh! wo werden wir denn heute nacht schlafen?«

»Wir hätten gar nicht gehn sollen, nicht wahr?«

»Aber ja! Komm!«


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