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Dreiunddreißigstes Kapitel

Gelehrte suchen nach Keimstoffen, welche die Welt ändern sollen, Kriege kommen, der Winter schlägt die Erde in Fesseln, die Liebe blüht und übt ihre Herrschaft aus, stets aber peitscht eine Macht, der nicht weniger Gewalt gegeben ist als allen andern, die Menschen über die staubige Straße der Vergänglichkeit dahin. Der Name dieser Macht ist: Das Tagewerk.

In jener ganzen Zeit der ersten Liebe konnte Carl sich nie völlig von den Gedanken an sein Bureau frei machen. Das Geschäft war entschieden kein Abenteuer mehr für ihn, und wäre Ruth nicht gewesen, so hätte er es sicherlich aufgegeben und wäre zu Bagby jr. gegangen.

Sie unternahmen zu zweit Spaziergänge und sprachen viel miteinander. Sobald die Flugsaison wieder einsetzte, führte Carl sie auf das Flugfeld hinaus, und als sie seine Erklärungen hörte, begriff sie endlich auch gefühlsmäßig, daß er wirklich Flieger war.

Sie wanderten durch Staten Island; sie tranken Tee in Manhattan. Carl aß mit Ruth und ihrem Vater zu Abend; einmal lud er ihren Bruder Mason zum Lunch in den Aeroklub ein.

Im März erkrankte Ruth; es war nichts Rätselhaftes, nichts Romantisches, sondern eine Influenza, die ihr, wie sie Carl schrieb, alles verekelte.

 

Im April, als sie sich längst wieder erholt hatte, gingen sie in New York spazieren. Als sie zu den Kais hinaus kamen, ließ Carl seinen Arm unter ihren gleiten und sagte:

»Ich wollte, wir könnten mit dem Schiff da fortfahren, nach Singapur oder nach Nagasaki.«

»Ja!« rief Ruth; »Mondschein in Java, der Himalaya, das Kaschmirtal.«

»Aber ich bin auch froh, daß wir das hier haben. Ja, es ist wirklich ein wunderbarer Tag für Liebende, wie wir es sind.«

»Carl!«

»Ja. Liebende. Im Frühling. Liebende.«

»Wirklich, Carl, auch wenn es Frühling ist, kann ich nicht vergessen, was zu Hause auf mich wartet.«

»Wir sind nicht Liebende?«

»Nein, wir – –«

»Aber der schöne Tag macht Ihnen Freude?«

»Ja, aber – –«

»Und es macht Ihnen mehr Spaß, auf einem dreckigen Kai herumzubummeln und einen Frachtdampfer ausfahren zu sehn, als im Plaza Tee zu trinken?«

»Ja, im Augenblick vielleicht – –«

»Und Sie protestieren, weil Sie meinen, daß es sich gehört – –«

»Es – –«

»Und Sie haben so viel Vertrauen zu mir, daß es Ihnen schwer fällt, die Entsetzte zu spielen?«

»Wirklich – –«

»Und Sie spielen lieber mit mir als mit irgend einem von Ihren albernen jungen Leuten? Oder einem ausländischen Diplomaten mit Spitzbart?«

»Die würden wenigstens nicht – –«

»O ja, sie würden, wenn Sie sie ließen, was Sie nicht tun würden … Also, Resultat, wir sind Liebende, und es ist Frühling, und Sie sind froh darüber, und sobald Sie sich daran gewöhnt haben, werden Sie auch froh darüber sein, daß ich so offen war, nicht wahr?«

»Ich lasse mich zu nichts zwingen, Carl! Wenn ich nicht sofort zu schreien anfange, werden Sie mich schließlich noch geheiratet haben, bevor ich um Hilfe rufen kann.«

»Wahrscheinlich.«

»Davon kann gar keine Rede sein! Ich denke nicht im entferntesten daran, Sie den Tyrannen spielen zu lassen.«

»Ja, ich weiß, mein Kind; Tyrannen sind mir auch ekelhaft. Aber sind wir nicht modern genug, um eines Tages die Frage, ob ich um Sie anhalten soll, ganz offen zu besprechen?«

»Aber mein Junge, woher wollen Sie denn wissen, daß ich überhaupt etwas von der ganzen Sache ahne? Daß ich überhaupt jemals daran gedacht habe?«

»Ich traue Ihnen zu, daß Sie schon einmal etwas davon gehört haben, daß es so was wie Heiraten gibt.«

»Ja, aber – – Ach, ich bin jetzt ganz durcheinander. Sie haben mich so sehr in eine Verteidigungsstellung gedrängt, daß ich den Drang habe, alles abzuleugnen. Wenn Sie mir plötzlich erklären, daß ich Handschuhe anhabe, würde ich es empört leugnen.«

»Damit wir aber unterdessen nicht das Thema wechseln: ich muß wirklich an einen passenden Tag für das Anhalten denken. Überlegen Sie doch. Hier ist der junge Ericson – so etwas Ähnliches wie ein Angestellter, glaub ich – nein, halten Sie ihn um Gottes willen nicht für einen Universitätsprofessor – – Sie wissen ja: man muß alles völlig klar stellen. Glauben Sie, daß heute der richtige Tag zum Anhalten, wäre? Ich möchte gern wissen, was Sie mir als Frau raten.«

»Ach, lieber Carl, ich glaube nicht heute. Es tut mir leid, aber ich glaube wirklich nicht.«

»Aber vielleicht ein ander Mal?«

»Vielleicht ein ander Mal!« Dann lief sie ganz einfach davon.

Später sprachen sie nur von den Matrosen, die sich in der West Street herumtrieben, aber ihrer beider Stimmen klangen zufrieden.

Sie aßen in einem kleinen italienischen Restaurant und gingen dann ins Theater. Und dort fand Carl im zweiten Akt des Stückes, als in der Heldin die Liebe erwachte, Ruths Hand.

Und in dieser Nacht, als Carl sich von ihr an der Tür verabschiedete, damals muß es gewesen sein, daß er die Arme um sie legte, sie aufs Haar küßte, schüchtern auf die süße, kalte Wange küßte und sagte: »Liebes.« Doch aus irgend einem Grund weiß Carl nicht, wann er sie zum erstenmal geküßt hat, obwohl er auf dieses Wunder wochenlang gewartet hatte. Damals in jener Nacht muß es aber gewesen sein, denn als er sie eine Woche später besuchte, küßte er sie zum zweitenmal.

Sie waren sehr munter, aber auch sehr manierlich gewesen an diesem Abend, und schließlich sagte er ganz langsam, als ob es etwas Besonderes wäre: »Jetzt muß ich gehn.« Sie versuchte ihn anzusehn und konnte es nicht. Glücklich und erschrocken legte er die Arme um sie. Sie bog den Kopf zurück, und wieder war das stets neue Wunder der blauen Augen unter den dunklen Brauen da. Sein Kopf neigte sich vor, bis er sie auf den Mund küßte. Die beiden Leiber verlangten nach einander, aber sie entwand sich seinen Armen und rief: »Nein, nein, nein!«

Er war noch ganz verwirrt davon, daß aus ihnen, den gut Bekannten, mit einem Mal innig Liebende geworden waren, als sie sagte: »Ich versteh das nicht, Carl. Ich habe mich noch nie von einem Mann so küssen lassen. Ach, ich werde natürlich wie alle Mädchen geflirtet haben und bei albernen Tanzereien flüchtig geküßt worden sein, aber das – – Carl, Carl, küß mich nie wieder, bis – ach, bis ich weiß nicht was. Ich kenne dich ja kaum! Ich weiß, daß ich dich sehr lieb habe, aber wenn ich daran denke, wie unbekannt mir noch alles ist, was zu dir gehört, bin ich entsetzt. Bitte, werd jetzt nicht traurig und verdirb nicht diesen Augenblick, aber ich weiß, wenn du fort bist, werde ich feig sein und wieder daran denken, daß es Familien und solche Dinge gibt, und werde warten wollen, bis ich wenigstens weiß, wie du ihnen gefällst. Gute Nacht, und ich – –«

»Gute Nacht, mein liebes Herz, ich weiß.«


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