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Die ersten klaren Herbsttage kamen der Genesung Friedrich's sehr zu statten, und als knüpfe seine wiederkehrende Erinnerung auf dem Punkte an, auf dem ihm das Bewußtsein entschwunden, so galt seine erste Frage der Ankunft der Gräfin St. Brezan.
Er schien es mit Freude zu hören, daß sie nicht erfolgt sei, verlangte aber Cornelie zu sehen. Man sagte ihm, sie sei verreist, er glaubte die Hochzeit also vollzogen, bis er allmählich durch Auguste das Geschehene erfuhr.
So sah er sich Anfangs ausschließlich auf die Gesellschaft seiner Mutter und Augustens angewiesen. Die Freundlichkeit, welche die Letztere der Meisterin bewies, das Lob, welches diese dem Fräulein spendete, die Neigung, die sie für dasselbe hegte, trugen noch dazu bei, seine Dankbarkeit und Anerkennung für Auguste zu erhöhen, während sein Mitleid für sie durch die Kunde angeregt ward, daß Georg mit ihr gebrochen habe.
Ihre Niedergeschlagenheit, des Barons sich immer steigernde Abgeschlossenheit machten das Zusammensein mit ihnen drückend. Die Dienerschaft, nie vor ungerechtem Tadel von den verstimmten Gebietern sicher, besorgte unlustig den Dienst, nur selten erschienen Edelleute aus der Nachbarschaft, dem Baron einen Besuch zu machen, noch seltener wurden sie empfangen und kein gern gesehener Gast betrat die Schwelle. Das Unglück lastete über dem Hause wie ein düsterer, schwerer Himmel, und die Güte, welche der Baron und Auguste dem Genesenden bewiesen, vermochte ihn nicht zu erquicken. Sie war wie das Sonnenlicht, das stumpf und fahl in Wintertagen aus den Wolken hervordämmert und die schwere Luft und die winterliche Starrheit noch fühlbarer macht.
Man sprach von Erich's Rückkehr, die er verheißen, und hoffte auf sie, wie der Mensch auf jede Veränderung hofft, wenn seine Zustände ihm drückend sind; aber man wußte nicht, wann er kommen würde, und wußte noch weniger, was man eigentlich davon erhoffte. So war es denn natürlich, daß Friedrich, den trüben Eindrücken zu entfliehen, sich oftmals nach dem Pfarrhause wendete, und hier fand er immer heiteres frisches Leben.
»Nun!« rief ihm Feldheim eines Abends entgegen, »was bringen Sie uns für Nachrichten aus Ihrem verwünschten Schlosse, denn es ist still drüben, wie im Palast der verzauberten schlafenden Fee!«
»Und es war doch so anders,« meinte die Pfarrerin, »als die Frau Baronin noch dort waltete und schaltete! Gott, war das ein Leben, eine Zufriedenheit! man konnte nichts Prächtigeres sehen, als das Haus voll schöner, froher Menschen! Aber seit sie die Augen geschlossen hat, ist's, als ob der gute Geist gewichen und ein böser eingezogen wäre. Manchmal kommt mir ordentlich ein Grausen an, daß ich denke, es werde noch irgend ein Unglück dort geschehen!«
Sie brach ab, weil das Mädchen die Abendsuppe auftrug. Die Knaben drängten sich zum Tische, und kaum saß die Familie bei dem bescheidenen Mahl in Heiterkeit versammelt, als der Jüngste, von seinem Teller aufsehend, plötzlich fragte: »Tante! wie spukt es denn drüben?«
»Wie es spukt? was meinst Du damit, mein Kind?«
»Nun! was der böse Geist im Schlosse thut, der böse?«
»Schäme Dich,« rief der Pastor, »wer wird denn solchen Unsinn glauben, es giebt gar keine bösen Geister, es giebt gar keinen Spuk und –«
»Schwager!« fiel ihm Feldheim in's Wort. »Schwager! ruiniren Sie mir die Kinder nicht! – Ich danke Gott, daß ich sie in Italien vor aller Aufklärung bewahren konnte, und vollends den Jungen, in dem ein Künstler steckt! Reden Sie ihm doch die Phantasie nicht zu Schanden, woran soll er denn glauben, wenn nicht an Spuk?« – Und sich gegen den Kleinen wendend, sagte er: »Der Onkel spaßt nur, freilich giebt's böse Geister und alten Spuk, und drüben das ganze Schloß steckt voll davon vom Keller bis zum Dache. In dem großen Saale mit den Sammetmöbeln, in den Du neulich hineingeguckt hast, und der immer verhängte Fenster hat, da sitzt der Eine, das ist der Hochmuthsteufel!«
»Was thut der, Papa?« fragte der Knabe.
»Der zetert und schreit, so wie ein Mensch hereinkommt, der nicht Schuhe und Strümpfe an hat, sondern Stiefel, und kommt Einer, der keine Handschuhe hat, den nimmt er beim Genick und wirft ihn hinaus; und Einer, der, wie ich, eine Blouse hat mit Oelflecken und eine Leinwandhose, den schmeißt er die Treppe hinunter, daß man Arm und Beine brechen kann. Es ist ein scheußliches Geschöpf!«
»Wie sieht der denn aus?«
»Lang und vornehm, und dann hat er große Augen, die er zukneift, und dicke Augenbrauen, die er hoch heraufzieht, er sieht so aus – –«
»Wie der Herr Baron!« rief der Kleine.
»Ja, es wird wohl so sein!« entgegnete der Vater.
»Sind noch mehr böse Geister dort?«
»Ganze Rudel! Da sind die dicken, grauen Vorurtheile und verfluchte Grundsätze, die keinen Menschen dort froh werden lassen, und alle Kinder zum Hause hinaustreiben!«
»Alle Kinder?«
»Ja! alle Kinder! wo Grundsätze sind, gedeiht kein Kind. – Aber iß jetzt Deine Suppe, ich erzähle Dir morgen zu Ende!«
Der Knabe ließ sich das gefallen, und während der Pastor mißbilligend den Kopf schüttelte, sagte Friedrich: »Sie haben schon neulich Ihre Abneigung gegen alle Grundsätze und namentlich gegen ein Leben oder ein Erziehen nach festen Grundsätzen ausgesprochen, so daß ich beinahe glauben muß, es sei Ihnen Ernst damit?«
»Zweifelten Sie daran?«
»Ja! weil ich mir nicht denken kann, wie man ohne feste Anschauungen, ohne feste Principien in den tausend Conflicten bestehen soll, die sich uns entgegen stellen.«
»Lieber Freund!« rief der Maler, »und sind denn die Conflicte, die man gewöhnlich mit diesem vornehmen Namen titulirt, nicht meist die Folge fester Grundsätze? Ist nicht alles Unglück auf der Erde, sind nicht unsere religiöse und staatliche Unfreiheit eine Folge fester Grundsätze? Das Erhabenste, was man mit festen Grundsätzen erreichen kann, ist, daß man Andere damit zu Grunde richtet, oder besten Falls, daß man selbst für sie zum Märtyrer wird. Andere zu Grunde zu richten ist aber ein Verbrechen, und sich zum Märtyrer zu machen, meist eine Thorheit. Ich halte Nichts vom Märtyrthum.«
Mit der ihm eigenen Heiterkeit, hob er sein Glas empor und rief: »Man hat, zum Fluch der Menschheit, so oft den Wein auf die Erhaltung gewisser Grundsätze geleert, daß es Zeit ist, einmal in ehrlichem Bier ihnen ein Pereat zu bringen. Pereant die Grundsätze!«
Er sah dabei so glücklich aus, hielt den Anwesenden so fröhlich sein Glas entgegen, daß selbst der Pastor nicht umhin konnte, lächelnd mit ihm anzustoßen; jedoch bemerkte er: »Es käme nur darauf an, wie Sie die Menschen erziehen wollen, wenn Sie keine feste Dogmen für Recht und Sitte, für Moral und Gesetz, mit einem Worte, keine Schranke für den Menschen anerkennen mögen?«
»Komme ich Ihnen wie ein Verworfener vor?«
»Schwager!« tadelte der Pastor.
»Nein! antworten Sie mir darauf! Komme ich Ihnen wie ein Verworfener vor?«
»Sie sind der bravste Mensch unter der Sonne,« sagte der Pastor und reichte ihm die Hand, »das Muster eines Gatten, eines Vaters, und – –«
»Genug, genug!« rief Feldheim. »Das Attest genügt mir. Nun sehen Sie – ich habe gar keine Grundsätze!«
»Sie sind aber auch von den würdigsten Eltern zu allem Guten angeleitet worden!« meinte der Pastor.
»Ja! indessen war in unserm Hause nie von Grundsätzen die Rede. Oder weißt Du etwas davon, Schwester? hast Du einen Grundsatz uns anpreisen, einen andern Grundsatz bei uns jemals tadeln hören, als den, den die alte Kathrine uns täglich in unserm Cichorienkaffee zu trinken gab?«
»Es ist wahr,« bekräftigte die Gefragte, »man wußte in unserm Hause nicht viel davon. Die Eltern waren Beide gut, thaten einander und uns Kindern alles Liebe, was sie konnten, und waren sonst auch menschenfreundlich und barmherzig. Gesprochen wurde darüber nicht viel und nachgedacht noch weniger. Es war eben so und konnte nicht anders sein!«
»Da habt Ihr's, da habt Ihr's!« rief der Maler, »das ist's ja grade, was ich meine. Es war Einfachheit, Schlichtheit in den Menschen damals; und Einfachheit und Schlichtheit das ist Menschlichkeit, denn der Mensch ist gutartig und bleibt gutartig, bis ihn die festen Grundsätze verdorben haben. Wo aber in einem Hause die rechte schlichte Menschlichkeit herrscht, da ist weiter gar kein Erziehen mehr von Nöthen, da wächst Alles, wie in der himmlischen Campagna felice, fast von selbst – man hat nur den Samen zu streuen und hie und da einen wilden Schößling auszuroden – dazu aber braucht man so wenig eine Art, als zum Erziehen feste Grundsätze.«
»Es ist freilich wahr,« bemerkte Friedrich, »daß wir oft ganz schlichte Eltern Meisterwerke der Erziehung vollbringen sehen; und fragt man sich, was Göthe erzogen und zu dem gemacht hat, was das unvergängliche Schöne an ihm war, so werden wir der unbefangenen, heitern Liebe seiner Mutter mehr Theil daran zuerkennen müssen, als den durchdachten Principien seines Vaters.«
»Versteht sich!« meinte der Maler. »Des Vaters Principien wickelten ihm den Zopf, der Mutter Liebe aber kräuselte ihm die unsterblichen apollinischen Locken.«
»Verständige Liebe,« fiel hier seine Frau ein, die bis dahin schweigend zugehört hatte, »verständige Liebe ist sicher schon darum die beste Erzieherin, weil sie den Menschen zu keinem ihm nicht angemessenen Dinge zwingt. Feldheim hatte es sich in der Jugend in den Kopf gesetzt, daß alle unsere Kinder eine Kunst erlernen sollten, weil er das für ein Mittel hielt, ihr Gemüth zu veredeln und ihr Leben zu erheitern. Wir haben es auch mit Agnes und dem ältern Knaben redlich versucht, indeß es wollte nicht gehen. Weißt Du wohl, Agnes, was Du für ein unlustiges, träges Kind gewesen bist in Deinen Zeichen- und Musikstunden? Wir hätten sie für ihr ganzes Leben mürrisch machen können, hätten wir auf dem Grundsatz der Lebenserheiterung durch die schönen Künste beharren wollen. Jetzt wird sie freilich keine Künstlerin werden, aber doch eine nützliche Hausfrau, wie ihre arme Mama, die auch so talentlos, und mit der ihr Mann doch immer noch zufrieden ist!« Sie reichte dabei freundlich dem Manne die Hand, Agnes war aufgestanden, die Mutter zu küssen.
Als dies kleine Intermezzo zu Ende war, bemerkte Friedrich: »Alles, was Sie da sagen, ist mir nicht neu und dennoch fremd. Ich habe es seit Jahren, fast möchte ich sagen, seit ich selbstständig denken kann, mit Personen zu thun gehabt, die es im Felde der Moral, der Politik, der Religion, ja selbst der Freiheit, auf ein Leben nach festen Grundsätzen angelegt hatten, und ich selbst neige dazu. Es liegt, so schwer es auf der einen Seite ist, den Grundsätzen gerecht zu werden, doch eine Bequemlichkeit darin, sich an sie lehnen, auf sie berufen zu können. Es enthebt uns manches Kampfes, mancher Verletzung« –
»Die Grundsätze,« fiel ihm der Maler in's Wort, »sind, um es kurz zu machen, ein Corsett, ein unbequemes und doch unentbehrliches Ding für die verrenkten Zustände der krank und schwach gewordenen Menschheit – gesunde Menschen brauchen Grundsätze so wenig als ein Schnürleib, um schön zu sein, die rechte Schönheit leidet nur darunter.«
»Es ist freilich oftmals leicht,« meinte der Pastor, »sich hinter seinen Grundsätzen zu verschanzen, wenn Forderungen der Menschlichkeit verweigert werden sollen!«
»In der Erziehung lassen allerdings feste Grundsätze keine Freiheit, also auch kein Individualisiren zu, was doch die Hauptsache bei aller Erziehung ist!« setzte Friedrich hinzu.
Der Maler lachte hell auf. »Bravi! Bravi!« rief er, »da pfeift Ihr ja Alle schon meine Weise! Bedenkt doch nur, daß ein Mensch, der sich hinstellt und sagt: ›Die Menschlichkeit ist eine Pflicht, also will ich menschlich sein,‹ und nun hingeht und bringt dem Armen mit gloriosem Bewußtsein einer überlegten Pflichterfüllung eine Gabe, daß solch ein Mensch die wärmste Armensuppe kalt lächeln kann; während das kalte Stück Brod, das der Warmfühlende sich vom Munde nimmt, um es hinzugeben, weil's ihn dazu drängt, zum Labsal wird für den Empfänger. Wie kommt es denn, daß Ihr hier mit allen Euren Wohlthätigkeitsanstalten keine Liebe ernten könnt? Wie kommt es? –« Er hielt inne, und da man ihm nicht antwortete, antwortete er selbst: »Ihr säet keine Liebe, wie soll sie denn erwachsen, und wie wollt Ihr sie säen? Ist doch Eure ganze Bildung nicht die Bildung freier Menschlichkeit und schöner Liebe, sondern die Bildung der Reflexion, und die ist unfruchtbar im Menschenverkehr, noch unfruchtbarer als in der Kunst. Geht mir mit Eurer Reflexionsbildung, mit Euren Grundsätzen! Ein Lazzarone ist ein Heros gegen Euch in seiner Wildheit und in seiner Großmuth, in seinen Tugenden und in seinen Lastern! Es ist doch Einfall, es ist Kraft darin! – wo aber sollen Einfall und Kraft aufkommen unter der Obhut reflectirter Grundsätze, die jeden neuen Keim gleich lang recken und reglementsmäßig an Spaliere binden möchten? Geht mir mit dem ganzen Plunder, mögt Ihr ihn nun Knechtschaft, oder Freiheit nennen. Die Eine ist so gut wie die Andere Dressur bei Euch – eben weil Euch die naturwüchsige, einfache Menschlichkeit mangelt!«
Hatte er Anfangs scherzend gesprochen, so war er immer ernsthafter geworden und endlich in jenen reinen Zorn gerathen, der frei von allem persönlichen Mißempfinden, durch die allgemeinen Uebel angeregt, eine der erhabensten menschlichen Leidenschaften ist. Auch der Pastor, so weit er zu Anfang des Gespräches von den Ansichten des Schwagers abgewichen war, stimmte ihm jetzt bei, und Friedrich gab ihm aus voller Ueberzeugung Recht.
»Welche Weisheit,« sagte er, »liegt in den Worten: »So ihr nicht werdet wie die Kindlein« – aber wie sollen wir es anfangen, uns von der Reflexionsbildung zu erlösen? wie können wir jemals wieder zur Ursprünglichkeit gelangen, wir, die wir sie verloren haben?«
»Gewöhnt Euch nur,« meinte der Maler, »die Dinge mit festem Auge anzusehen, sie fest in die Hand zu nehmen und beim rechten Namen zu nennen, und Ihr werdet den Unterschied merken. Haltet Euch an das, was Ihr an ihnen sehen und greifen könnt, und sie werden bald ein anderes Ansehen und den rechten Werth für Euch bekommen. Warum sind wir Künstler denn meist so viel frischer als Ihr? Uns ist die Dame, vor deren Vornehmheit und seidenen Kleiderbehang Euch das richtige Urtheil vergeht, ein Weib wie jedes andere; sie ist uns nur Etwas durch ihre wirklichen Eigenschaften, mit ihren geselligen Qualitäten haben wir Nichts zu thun, – und betrachtet man erst ein Wesen mit solchem Auge, sieht man erst ein Ding richtig an, so lernt man bald alle Wesen, alle Dinge, alle Zustände nur als dasjenige schätzen, was sie an und für sich, was sie wirklich sind. Erzieht Euren Formensinn, bildet Euch zur Schönheit heran, davor verschwindet die Unnatur, davor schwindet das Streben nach leerem Prunk und die Bewunderung und Verehrung vor denen, die sich mit ihm und durch ihn von Euch unterscheiden und die Ihr als unnahbar über oder unter Euch gestellt glaubt. Die Aesthetik wird mehr reine Menschlichkeit unter Euch erzeugen, die Vorurtheile siegreicher bekämpfen, als die Religion!«
Er wendete sich dabei zu dem Pastor, reichte ihm die Hand und sagte: »Und jetzt können Sie meinetwegen auch wieder gegen meine heidnischen Kunstansichten und gegen alle Kunst zu Felde ziehen, Schwager! es schadet ihr Nichts, denn sie ist unsterblich – hab' ich doch wieder einmal Alles herunter gesprochen, was ich auf der Seele hatte! – Nun aber Marsch in's Bett, Jungen!« rief er den Kleinen zu, »und nehmt Euch vor dem Hochmuthsteufel in Acht!«
Die Kinder gingen um den Tisch herum, die gute Nacht zu wünschen, und entfernten sich dann, während die Erwachsenen noch beisammen blieben. Als sie das Zimmer verlassen hatten, sagte der Pastor: »Wenn Sie so in Abstracto gegen die festen Grundsätze zu Felde ziehen, so ließe sich dagegen wohl so Manches sagen, indeß mit den Grundsätzen unseres Herrn Barons ist es doch wirklich fast ein mißlich Ding. Die Kinder haben nie ein rechtes kindliches Herz zu ihm gefaßt, er hat immer vor ihnen gestanden, wie der strenge Gott Israels, sie haben ihn in Ehrfurcht angebetet, und er hat gerichtet über Leben und Tod. Er hat ihnen Gesetze und Lebensregeln gegeben nach seinem Sinn, und keines von Allen ist damit zu Rechte gekommen. Auch mit dem jungen Herrn Baron soll's nicht so sein, wie der Vater es wohl wünschte!«
»Mit Erich?« fragte Friedrich, »was wissen Sie von ihm?«
»Er hat 'nen schlimmen Handel mit einem Frauenzimmer,« sagte der Pastor. »Es soll ein schönes Mädchen sein, rechtlicher Leute Kind, und lebt nun schon seit Jahren mit ihm in seinem Hause!«
»Woher haben Sie die Nachricht?« fragte Friedrich, schmerzlich betroffen über des Freundes Thun und über sein mangelndes Vertrauen.
»Der Sohn der alten Anna, des jungen Herrn Spielkamrad, der im Garde-Regimente als Unteroffizier dient, ist bei der Mutter zum Besuch gewesen und hat's erzählt!«
»Es mag nicht wahr sein!« begütigte die Pastorin.
»Nicht wahr? Er hat das Frauenzimmer selbst gesehen, wenn er ab und an zum jungen Herrn gekommen ist, und er sagt, er habe sie sogar gekannt. Ihr Vater habe ihn vor zehn Jahren in Königsberg einexercirt!«
Eine unheimliche Ahnung zuckte in Friedrich auf. Wenn es Regine wäre? wenn er deshalb geschwiegen hätte? dachte er. Aber er verwarf den Einfall eben so schnell wieder, als er ihm gekommen war. Hatte Regine ihm doch mehrmals in jedem Jahre geschrieben, ohne irgend Etwas zu erwähnen, was auf solche Verhältnisse hindeuten konnte; hatte er doch erst nach seiner Genesung einen Brief von ihr erhalten, in dem sie ihm gesagt, sie denke daran, Berlin zu verlassen und wolle sehen, daß sie eine Stelle als Bonne oder als Begleiterin einer Herrschaft finde, die auf Reisen gehe. »Thorheit, Wahnsinn!« rief er im Selbstgespräch, so daß die Anderen ihn erstaunt betrachteten und er seine Zerstreutheit vor ihnen zu entschuldigen hatte. Aber so undenkbar ihm die Sache schien, so fest er sie als unglaublich von sich wies, dennoch kehrten seine Gedanken immer wieder auf den Gegenstand zurück. Er fragte, ob der Unteroffizier noch bei der Mutter sei, aber er hatte das Dorf bereits verlassen. Der quälende Zweifel blieb also in Friedrich's Seele haften und ließ ihm keine Ruhe.
Er hörte kaum, was der Pastor von des Barons wachsender Strenge sagte, von der Härte, mit der er, seit Fräulein Cornelie verreist sei, alte Gerechtsame hervorsuche, und wie alle seine Leute darüber klagten, daß er gar nicht mehr derselbe, daß er wetterwendisch in seinen Anordnungen geworden und auf keine Weise mehr zu befriedigen sei.
»Es ist hohe Zeit, daß der junge Herr zurückkehrt, daß wieder ein zufriedener Mensch und vor Allem eine Frau in's Schloß kommt, denn Alles verdüstert und verkümmert dort sowohl, als auch im Dorfe. Die alte Liebe schwindet in den Leuten. Das arme Mädchen aber, die Auguste, hat vollends böse Tage!« sagte die Pastorin, und Alle flossen nun über in des Fräuleins Lob, so daß Friedrich wieder aufmerksam zu werden begann.
»Sehen Sie, wie gut sie ist,« meinte die Pastorin gegen ihn gewendet, »und wie sie an Alles denkt! Da ist sie gestern bei mir gewesen und hat mich gefragt, ob es denn nicht zu machen wäre, daß Ihre Mutter hier im Dorfe bliebe, weil Sie selbst den Winter hier verleben wollen; und klug wie sie ist und umsichtig, hat sie gemeint, wenn Ihre Mutter sich bei der alten Anna in Kost geben wollte, so würde es Ihnen billiger sein als sie in der Stadt zu unterhalten, sie würde besser leben und die beiden alten Frauen hätten das größte Behagen davon. Sie hatte die Sache auch schon mit der Anna besprochen, und wollte nun wissen, was ich davon dächte, ehe sie es Ihnen sagte.«
»Ja!« sagte Friedrich, gerührt von dieser Vorsorge, »sie ist in der That sehr gut. Wie viel habe ich ihr schon zu danken, mit welcher Aufopferung hat sie meiner Mutter es erleichtert, mich zu pflegen, mit welcher Freundlichkeit weiß sie sich zu den Ansichten und Begriffen der alten Frau herabzustimmen! Sie ist sehr gut – und leider ist auch sie nicht glücklich!«
»Es ist Alles richtig, was Sie zu ihrem Lobe sagen,« bemerkte der Pastor, »und ich spreche Nichts dagegen; nur will mir, der ich sie von ihrer Jugend an kenne, ein gewisser Zug der Unzufriedenheit in ihrem Wesen nicht gefallen. Sie weiß nicht sich an das Gute ihrer Lage zu halten, sie denkt selten an das, was sie hat, aber desto öfter an Alles, was ihr fehlt, sie sieht stets über sich, nie unter sich – und mit solchen Menschen ist nicht leicht zu leben; denn kämen sie auch in den siebenten Himmel, sie finden doch noch Etwas, was ihnen fehlt und sind nie recht zufrieden.«
»Zufrieden?« rief Feldheim, »wo soll denn einem Frauenzimmer von sechsundzwanzig Jahren die Zufriedenheit herkommen, wenn es noch keinen Mann und Aussicht hat eine alte Jungfer zu werden? Und es wär' Schade um sie, denn sie ist hübsch und frisch!«
»Sehr hübsch!« sagte die Pastorin, deren entschiedener Günstling das Fräulein war. »Sie ist die Einzige, auf welche die eigenthümlichen Verhältnisse des Hauses keinen üblen Einfluß übten, und es ist keine Spur von Hochmuth oder Ueberspannung in dem guten Herzen, es ist eine so schlichte, nüchterne Natur. Ich habe oft gedacht, seit Sie hier so unter uns leben, Herr Brand, Auguste wäre eine rechte Frau für Sie!«
Friedrich wurde roth, weil seine Mutter ihm dasselbe alltäglich wiederholte, der Maler aber rief: »Nüchtern ist sie? wirklich nüchtern? dann halten Sie sich das Fräulein nur vom Leibe, lieber Freund! Nüchterne Weiber sind Quälgeister, sind schlechte Lebensgefährten. Du lieber Himmel! wo soll denn die Liebe, die Duldung in der Ehe herkommen, wenn man einander ewig nur mit nüchternem Verstande betrachtet? Was hätte meine Frau an mir, sähe sie mich nicht immer noch durch die Verschönerung des ersten Liebesrausches? was sollten wir mit unsern beginnenden Runzeln, mit unserm grauen Haare machen, schiene nicht alles Gold glücklicher Erinnerung darüber, und berauschten wir uns nicht alltäglich an der alten Liebe?«
»Ja!« wendete die Pastorin ein, »aber in bösen Tagen, da ist ein nüchterner Sinn –«
»In bösen Tagen,« fiel der Bruder ihr in's Wort, »in bösen Tagen, bei Noth und Sorge, bei Zank und Streit, da ist ja eine nüchterne Frau, die all die Noth so klar vor Augen sieht, ohne sie durch ein Bischen Täuschung oder Hoffnung zu mildern, die all den Zwiespalt mit scharfer nüchterner Gerechtigkeit betrachtet, ohne die liebenswürdige Schwäche der Nachgiebigkeit, – da ist ja solche Frau ein wahres Unglück. Ich hänge mich auf, Weib, wenn Du mir jemals nüchtern wirst!« rief er lachend, und gegen Friedrich gewendet wiederholte er: »Ist sie nüchtern, so halten Sie sich den Schatz vom Leibe! Sonst ist's ein stattlich Mädchen und eine Frau müssen Sie ja einmal haben, Herr Pastor in spe!«
Ohne daß er es sich eingestand, machte diese Unterredung einen unangenehmen Eindruck auf Friedrich. Es verdroß ihn, daß man ihn aus seiner Ruhe störte, daß man ihm Wünsche und Pläne unterbreitete, die er nicht hegte, ja selbst Augustens Fürsorge für seine Mutter ward ihn dadurch verleidet, oder doch mindestens verdächtig gemacht. Er verlor seine Unbefangenheit gegen das Fräulein, er glaubte sich zurückhalten zu müssen, um nicht gegen seinen Willen in ein Verhältniß gezogen zu werden, das man zwischen ihnen herzustellen dachte; und doch reizte es ihn zu wissen, ob Auguste die Pläne der Anderen theile, doch schmeichelte ihm die Vorstellung, eine Nichte, eine Pflegetochter des Hauses zur Frau zu nehmen, das einst eine Verbindung mit ihm als eine Unmöglichkeit betrachtet hatte.
Aber kein Zug in seinem Herzen sprach für Auguste. Er schätzte sie, er war ihr dankbar, aber er liebte sie nicht. Der Maler hatte das rechte Wort gefunden, sie war zu nüchtern; ihr fehlte, um Friedrich's Neigung zu gewinnen, jene Anmuth, ohne welche das tägliche Beisammensein farblos und bald zu einer, allen Reizes baaren Gewohnheit und Ermüdung wird. Dennoch beschäftigte ihn seit jenem Abende der Gedanke an die Ehe oftmals, und das glückliche Familienleben, dessen Zeuge er in dem Pfarrhause war, ließ ihm zum ersten Male seit den Tagen seiner Jugend ein beschränktes Dasein in bürgerlichen Verhältnissen als etwas Schönes, Begehrenswerthes erscheinen. Was hatten der Reichthum, der Rang, die Bildungsmöglichkeit, welche allen Kindern des Barons zu Theil geworden waren, für diese zu bewirken vermocht? Welche Erfolge hatten sie für die Zufriedenheit und richtige Entwicklung der Einzelnen geliefert? welche Segnungen konnte jenen Begünstigten das Leben bieten, die der Pastor und seine Frau, die das Künstlerpaar nicht eben so voll und schön genossen? Nicht die äußeren Bedingungen waren es, die hier den Frieden, dort das Unglück der Familien erzeugten, es war der Geist der Liebe, der hier waltete und dort fehlte. Nicht in dem, was wir besitzen, sondern darin, wie wir es besitzen, liegt sein Werth, seine Kraft, seine Wirksamkeit für uns. Wir sind Herren über unsere Zufriedenheit, so lange wir Herr bleiben über unsern Willen. Die Möglichkeit des Strebens und des Erringens oder die Möglichkeit einer Selbstbeschränkung sind Jedem gegeben, und Jeder hat nach diesen Anlagen eben auch die Aussicht, in dem Einen oder dem Andern seine Zufriedenheit zu finden. Unentschlossenheit die nicht mit sich fertig zu werden weiß, ist weniger ein Naturfehler, als Mangel jener Selbsterziehung, ohne die Niemand sich zum Charakter bildet.
So ward auf doppelte Weise Friedrich's Sinn von dem Schweifen in die Ferne, von dem Verlangen nach Großem und Vollendetem zurückgerufen in die Enge, seine Neigung sich auszudehnen in Wissen und Wirken auf Beschränkung gelenkt, seine theoretischen Studien in praktische Bemühungen verwandelt. Er, der sonst nur an das Heil und die Erlösung der Menschheit gedacht, der von socialen Reformen geträumt, gelangte, je länger er auf dem Gute weilte, immer mehr dahin, für das Kleinleben jedes einzelnen Dorfbewohners Theilnahme zu gewinnen, und die Förderung einer kleinen Commune in ihren geistigen und leiblichen Bedürfnissen als ein Ziel zu betrachten, in dem ein liebevolles Herz, ein reger Geist seine volle Thätigkeit und Befriedigung finden könnten.
Georg's Briefe, welche die Lust an seinem Berufe verriethen, weit hinaus in Ferne und Zukunft deuteten, und Schilderungen des rastlosen merkantilischen Treibens gaben, in das Jener sich mit Behagen hineingezogen sah, weil es seinem Drange nach Thätigkeit und Selbständigkeit entsprach, diese Briefe machten Friedrich die Stille nur noch lieber. Er empfand sie als ein Bedürfniß für sich nach den Leiden seiner Krankheit, und ohne daß er es gewahr ward, spann sich sein Leben in die Schranken seiner jetzigen Umgebung ein.
Was er von Plessen über den Fortgang des Processes gegen die gemeinsamen Freunde hörte, was der Doctor ihm über die, gegen ihn verhängte und immer noch nicht entschiedene Untersuchung, so wie über den wachsenden Druck berichtete, den Polizei und Censur über die Presse ausübten, war nicht geeignet, ihn in seine früheren Verhältnisse zurückzulocken. Der Doctor selbst begann an eine Entfernung aus dem Lande zu denken, Plessen, der Corneliens Entscheidung erwartet hatte, schickte sich an nach Gnadenfrei zu gehen, und damit waren die wesentlichsten Beziehungen gelöst, die ihn dort gefesselt hatten.
Mit Behagen sah er die Tage kürzer, die Abende länger, die Natur herbstlicher werden. Die Einsamkeit, welche dadurch auf dem Lande hervorgerufen wird, die Abgetrenntheit von der übrigen Welt waren ihm willkommen, nur die Sorge um Regine zog seine Gedanken aus dem Kreise fort, in dem er sich bewegte. Er konnte sich nicht überwinden, den Verdacht gegen sie auszusprechen, der ihm so grundlos gekommen war, und doch ließ es ihm keinen Frieden, bis er sich entschloß, Erich zu fragen, was es mit den Gerüchten sei, die er vernommen.
Mit unumwundener Offenheit gestand der Freund ihre Wahrheit zu. Er schilderte ihm die Art, in der er das Mädchen wiedergefunden, das er schon in der Jugend gekannt, erwähnte mit bitterer Reue seiner Handlungsweise, mit Liebe des Mädchens, mit großem Schmerz der zwischen ihnen nothwendig gewordenen Trennung. Dann aber sprach er in dem Briefe die Bitte aus, Friedrich möge ihm, als einen Freundschaftsbeweis, die Gunst gestatten, ihm die letzten Details und den Namen seiner Geliebten erst mündlich mittheilen zu dürfen.
So auffallend dies letzte Verlangen für Friedrich sein mußte, so hatten Erich's Offenheit und vor Allem der Umstand, daß er seine Geliebte schon in der Heimath gekannt haben wollte, ihn doch völlig beruhigt; denn Regine hatte nach seiner festen Ueberzeugung Erich niemals gesehen, und bald zog er sich wieder in die kleine Welt zurück, in der er heimisch zu werden begonnen hatte.
Er selbst nahm Augustens Vorschlag, seine Mutter nach dem Gute überzusiedeln, wieder auf, um sich auch von dieser Seite abzuschließen, und mit Zufriedenheit sah er die bescheidene Habe der Meisterin im Hause der alten Anna anlangen. Selbst die Aussicht, daß die Familie des Malers, daß der Baron und Auguste mit Anfang des Winters den Ort verlassen würden, erschreckte ihn nicht; er freute sich vielmehr darauf, bald ganz auf sich selbst und auf den Verkehr mit den schlichtesten Menschen angewiesen zu sein, und das Zusammensein mit den Bewohnern des Schlosses war ohnehin nicht erheiternd.
Die Erschütterung, welche der Baron durch Corneliens Entfernung erlitten, hatte eine ihm sonst fremde krankhafte Heftigkeit in ihm zurückgelassen, und der Undank, den er erfahren zu haben glaubte, ihm ein Mißtrauen gegen die Menschen im Allgemeinen eingeflößt, das um so tiefer wurzelte, je unumwundener er es in seiner Umgebung verrieth. Da er nicht mehr an die Menschen glauben konnte, seit die eignen Kinder keiner seiner Hoffnungen entsprachen, schien er die milden Eigenschaften gewaltsam aus seinem Innern zu verbannen, ohne zu bedenken, wie man verarmt, wenn man statt der immer versöhnenden Liebe die starre Gerechtigkeit zu seinem Panier erhebt.
Eine solche Stimmung konnte auf Auguste nur die schlimmste Wirkung haben. Fühlte doch auch sie sich verrathen, war doch auch sie in ihren heiligsten Empfindungen gekränkt! Mit einer Art von Wollust nahm sie die Aussprüche der Welt- und Menschenverachtung als Wahrheiten in sich auf, die sie den Onkel wiederholen hörte, und nur für Friedrich und die Meisterin ließ sie eine Ausnahme gelten, nur ihnen wollte sie die sorgliche Theilnahme nicht entziehen, weil sie die Beiden, wie sich selbst, als Stiefkinder des Glücks betrachtete, weil es ihr wohlthuend war, von ihnen liebevoll anerkannt zu werden, und weil sie es als eine Schickung ansah, daß ihr die Sorge für den kranken Friedrich in dem Augenblicke zugewiesen worden war, in dem Georg sie für immer verlassen hatte.