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Achtzehntes Kapitel.

Der Doctor hatte sich während aller dieser Vorgänge sehr ruhig gehalten und anscheinend nur mit seinen persönlichen Angelegenheiten beschäftigt, denn noch war die Anklage, welche seiner Schriften halber gegen ihn erhoben worden, nicht beseitigt, sondern ging in dem langsamen Instanzenzuge der damaligen Rechtspflege ununterbrochen vorwärts. Zwei Gerichtshöfe hatten gegen ihn auf Majestätsbeleidigung erkannt, er selbst hatte die juristische Geschicklichkeit befreundeter Advokaten von sich abgewiesen, seine Vertheidigung vor den Richtern selbst geführt, und diese Vertheidigungen im Auslande drucken lassen, woraus ihm neue Anklagen erwachsen waren, und von nah und fern riethen ihm seine Freunde, sich der ihm sicher drohenden Strafe einer langjährigen Gefangenschaft durch ein freiwilliges Exil zu entziehen. Indeß ein solches Verfahren lag vollkommen außer seiner Sinnesart. Das Feld aus Furcht vor einer möglichen Niederlage zu räumen, dünkte ihm eben so schimpflich als thöricht; sich von seinem Berufe, von seinem Wirkungskreise zu trennen, ehe seine Thätigkeit für dieselben ihm unmöglich gemacht wurde, das wußte er weder mit der Liebe für diesen Beruf, noch mit seinem Gewissen zu vereinen, und endlich kam die sorgende Neigung für Cornelie dazu, ihn in der Vaterstadt zu fesseln.

Niemand konnte sich darüber täuschen, daß mit der Verlobung derselben für ihren Frieden Nichts gewonnen worden war. Ihre Gesundheit besserte sich nicht, ihre Niedergeschlagenheit blieb dieselbe. In launenhafter Unruhe beschäftigte sie sich mit Plessens Zukunftsplänen, bei denen ihr stets die gewagtesten und fernliegendsten die erwünschtesten schienen, und mit leidenschaftlichem Eifer betrieb sie das Studium aller Missionsberichte, suchte sie Plessens Neigung für die Laufbahn eines Missionairs zu beleben. Konnte die geistige Bedeutung derselben ihn nicht bestimmen, seine Wünsche nach einem stillen Leben umzuändern, so strebte sie, seine frühere Reise- und Beobachtungslust in ihm wieder zu erwecken und ihm die Vorzüge darzustellen, welche das Leben in wärmeren Zonen für ihn haben müsse; aber alle ihre Bemühungen blieben erfolglos. Die Spannkraft seiner Natur war gebrochen, Corneliens Versuche, sie zu beleben, riefen nur eine augenblickliche Erregung hervor, welche nachließ, sobald die Ursache derselben aufhörte, und er fing an, das Verfahren seiner Braut mehr und mehr als eine Lieblosigkeit und eine Ungerechtigkeit zu empfinden, vor denen er sich zu schützen, vor denen er Ruhe zu suchen habe, wollte er nicht untergehen.

Cornelie ihrerseits sah bang dem Herannahen des Hochzeitstages entgegen, der für den Herbst festgesetzt war, und der Aufenthalt in Gnadenfrei, den das junge Ehepaar auf alle Fälle nach der Verheirathung für einige Monate machen sollte, fing an ihr immer trostloser zu erscheinen. Es widerstrebte ihr, in eine Gemeinschaft einzutreten, deren Mitglieder sie nicht persönlich kannte. Eine Lebensrichtung einzuschlagen, bei der sie fortan der Freude entbehren sollte, welche die Künste dem Menschen gewähren, dünkte sie barbarisch; und sich einer Autorität in geistigen Dingen zu unterwerfen, auf's Neue den absoluten Glauben ohne Verstandesprüfung zum Paniere zu erheben, kam ihr nach den eben gemachten Erfahrungen mehr als bedenklich vor. Besonders aber sträubte sich ihr Unabhängigkeitssinn gegen den Zwang der Gemeindeordnung, und sie, die seit Jahren freiwillig den äußeren Genüssen des Lebens entsagt, die sich alles Schmuckes enthalten hatte, fand es unerträglich, grade in diesen Dingen nicht Herr ihres Willens und ihres Geschmackes zu sein.

Mit Erstaunen bemerkten es die Personen ihrer Umgebung, daß sie bisweilen wieder in hellfarbiger Kleidung erschien, daß sie Armbänder und Ohrringe anlegte, daß sie es war, die zum Besuche bei andersdenkenden, befreundeten Familien aufforderte und an die Nothwendigkeit erinnerte, diese oder jene Fremde einzuladen, mit einem Worte, daß sie sich wieder der Geselligkeit und dem gewöhnlichen Leben zuzuwenden begann.

Seit der Prediger gefänglich eingezogen worden, hatte die Gemeinde sich um einen jüngern, ihr im Geiste angehörigen Theologen versammelt, und die Betstunden und Andachtsübungen waren für kleinere Gruppen der Frommen in einzelnen Privathäusern abgehalten worden, während die Auserwählten sich nach wie vor um die Gräfin scharten, welche das Anathem gegen ihre frühere Freundin zum Gesetze unter ihnen erhob. Alle Versuche Corneliens, sich mit der Gräfin zu verständigen, ihre flehende Bitte um ein volles Vertrauen, damit gemeinsames Forschen ihnen möglich und der Bund ihrer Freundschaft erhalten werden könne, waren von der Gräfin mit der Kälte geistigen Hochmuthes zurückgewiesen worden.

»Wer nicht für mich ist, der ist wider mich!« hatte sie der Freundin geantwortet, als diese sie vor dem Verhöre um Aufklärung, um Wahrheit beschworen hatte. »Vermagst Du nicht unbedingt zu glauben an die Menschen, die Du siehst und kennst und liebst, vermagst Du nicht zu glauben an uns über Dein Verständniß hinaus, wie willst Du glauben an den Unsichtbaren? wie willst Du glauben an die Wunder, mit denen er uns umgeben, uns zur höchsten menschlichen Tugend, zum Glauben zu gewöhnen? Wer aber nicht mit uns glauben kann, der kann auch nicht mit uns wirken!«

Unter diesem Vorwande hatte die Gräfin plötzlich Cornelie von dem Unterricht an den Armenschulen und von der Armenpflege auszuschließen gewußt. Man hatte ihr, mit der offenen Erklärung, daß sie das Vertrauen und die Achtung der Gemeinde durch ihre im Verhöre und in privater mündlicher Besprechung kund gegebenen Zweifel an den Häuptern der Gemeinde verscherzt habe, die Cassenverwaltung abgenommen. Eben so waren die Nothleidenden, deren persönliche Beaufsichtigung ihr obgelegen, angewiesen worden, keine Hülfe und keinen Rath mehr von Fräulein von Heidenbruck anzunehmen, da der gute Geist von ihr gewichen und also ihr Beistand nicht mehr heilsam sei.

Die Meisten dieser Pflegebefohlenen wußten, daß Cornelie nur noch kurze Zeit an diesem Orte verweilen, daß die Gräfin dauernd an demselben bleiben werde, und zogen die bleibende Wohlthäterin der Fortgehenden vor. Andere waren selbst so weit fanatisirt, Cornelie zu mißtrauen, so daß sie sich plötzlich von allen Seiten mit Uebelwollen und Zurückweisung bedroht und in eine gänzliche Unthätigkeit versetzt sah. Je mehr sie an der Gräfin, an der Gemeinde, an der eigenen Wirksamkeit und ihren Schützlingen gehangen, um so tiefer mußte dieser Schlag sie treffen. Ein Mensch, der lange in einer ihn mit sich tragenden Gemeinschaft lebte, gleicht der am Spalier erzogenen Treibhauspflanze, die Luft und Freiheit nicht ertragen kann.

Cornelie fühlte sich ihrem Element entfremdet. Haltlos, ohne Beschäftigung, ohne Liebe für ihren Verlobten, ohne Vertrauen und ohne Neigung für die von ihm beabsichtigte Zukunft, konnte nur ein gewaltiger Entschluß sie retten, aber er mußte aus dem eigenen Innern kommen, um nachhaltig zu sein.

Niedergebeugt von der offenen Verachtung, welche ihre früheren Glaubensbrüder ihr bewiese», aufgerieben von Plessens Ermahnung zur Demuth und Unterwürfigkeit, erwachte plötzlich jene Leidenschaft in ihr, welche meist der Vorbote der Freiheit ist, der zornige Trotz. Sie fragte sich: »Wer hat alle diese Menschen zu Herren und Meistern über mich gemacht? Wer hat Plessen Rechte über mich gegeben, als nur mein Glaube und mein freier Wille? Hört mein Glaube auf, so endet seine Herrschaft über mich, erkenne ich diese nicht mehr an, so bin ich frei!« Mit diesem Gedanken kam ein neues Leben über sie.

Seit sie nicht mehr fragte, was die Gräfin, was die Geistesgenossen zu ihren Zweifeln sagen, wie sie über ihre rückkehrende Selbständigkeit urtheilen würden, fiel es wie Schuppen von ihren Augen.

Zögernd holte sie aus der Bibliothek des Vaters die Wolfenbüttel'schen Fragmente, zögernder noch ging sie daran, die Werke Kant's und Fichte's zu lesen, so weit sie ihr verständlich waren, aber mit jedem Tage wuchs ihre Zuversicht bei der Lectüre und mit der Zuversicht auch ihre Kraft. Ihr festes Gottvertrauen ward ihr bester Lehrmeister. Ihr Glaube an seine Allweisheit, welche nicht das Geringste nutzlos geschaffen, Nichts von allem Geschaffenen zur Unthätigkeit verdammt, gab ihr den Muth wieder, ihre Seelenkräfte, ihr Urtheil zu gebrauchen.

Wie Verbannte, die sich ihr Vaterland wieder erobert haben, so fühlte sie, als sie sich die Freiheit des Denkens wieder zuerkannte. Wie der Genesene froh die Glieder regt, so freudig übte sie den Geist in immer fortschreitendem Verstehen der Systeme, die den Menschen einsetzen in seine Heimath, in die Erde, in seine Rechte, in die freie, nur durch die eigene Fähigkeit beschränkte Forschung und Selbstbestimmung.

Niemand wußte um diese Studien, Allen aber war die Veränderung in ihrem Aeußern sichtbar. Ihr Auge schaute wieder hell umher, ihr Gang ward sicher, als habe sie auf's Neue festen Fuß gefaßt auf dieser Erde. Ihre Stimme verlor den klagenden Ton, der fortdauernd die Unvollkommenheit des irdischen Daseins zu beweinen schien, und seit sie sich nicht mehr gewaltsam verschloß gegen die heitere Schönheit des Lebens, begann dasselbe ihr wieder mit seinem Sonnenschein die Seele zu erwärmen.

Mit Freuden begrüßte sie den Zeitpunkt, in dem ihr Vater die Stadt zu verlassen und sich auf das Land zu begeben pflegte. Bei großen inneren Krisen ist es eine Wohlthat, sich von dem Orte zu entfernen, der Zeuge unserer Leiden, unserer Irrthümer gewesen ist. Die Unmöglichkeit, den früheren Genossen zu begegnen, die früheren Beschäftigungen fortzusetzen, mußte Cornelie auf dem Gute das Vergessen leichter machen, und eine schmerzliche Vergangenheit muß man zu vergessen suchen, will man eine neue Zukunft beginnen.

Plessen war verhindert, der Familie gleich auf das Gut zu folgen, aber Friedrich sollte mit ihnen gehen, um dort einen längeren Aufenthalt zu machen und sich allmählich jene Einsicht in die Landwirthschaft zu erwerben, ohne welche der Geistliche auf dem Lande immerdar ein Fremder unter seinen Pfarrkindern bleiben muß, denn der Bauer glaubt nicht, daß Jemand ihm in den höchsten Dingen Rath geben könne, der in den täglichen Erlebnissen weder sich noch Anderen zu helfen weiß.

Am letzten Abende, den sie in der Stadt zubrachten, kam der Doctor so spät zu seinen Freunden, daß man ihn kaum noch erwartet hatte. Er sah bleich und abgespannt aus, als habe er eine heftige Anstrengung gehabt, erklärte aber, da man ihn deshalb fragte, er fühle sich wohl und habe nur einen weiten Spazierweg durch die Felder gemacht. »Da ich selten dazu komme,« fügte er hinzu, »so gehe ich denn immer zu lange und zu weit, und ziehe mir meist eine große Ermüdung zu, welche mir indeß schließlich doch wohlthätig ist!«

Der Baron tadelte ihn, daß er im Ganzen zu wenig für sich selbst lebte; Plessen meinte, so fern dem Genusse der Natur, müsse endlich das Gefühlsvermögen für dieselbe sich abstumpfen, aber der Doctor bestritt diese Behauptung.

»Wir haben uns leider so sehr gewöhnt, den Menschen und die ihn umgebende Welt zu trennen, sagte er, daß wir ihn derselben entgegensetzen, daß wir von Menschenbeobachtung und von Naturbeobachtung sprechen, als ob die erstere nicht auch eine Naturbeobachtung wäre. Wir nennen die Freude an der Welt Genuß, die Freude an einem Menschen Liebe, während man reinen Naturgenuß empfinden kann im Anschauen und Betrachten eines in sich vollendeten Menschen, und die Natur lieben mit der Hingebung seines ganzen Wesens. Ueberhaupt könnten wir mit viel weniger Worten fertig werden, wären unsere Begriffe klar, unsere Gefühle nicht verwirrt.«

»Sie sind heute so aphoristisch, Doctor!« meinte Plessen, »wie die goldnen Sprüche des Pythagoras!«

»Keinesweges! es handelt sich hier um eine sehr einfache Wahrheit und um eine noch einfachere Erfahrung!«

»Und welche wäre das?« fragte der Baron.

»Die Erfahrung, daß aller Idealismus Liebe, aller Realismus Selbstsucht ist, und der Kampf dieser beiden gleichberechtigten Kräfte das bewegende Prinzip im Menschen. Ohne eine ausdauernde Selbstsucht kann der Mensch nicht bestehen, sie ist seine Bedingniß, seine Notwendigkeit – aber seine Schönheit liegt in der bewußten Liebe, wenn diese mächtiger wird als das Gefühl der Selbsterhaltung!«

Es war selten, daß der Doctor sich in Erklärungen und Besprechungen solcher Themas einließ, darum fiel es Allen auf. Er schien jedoch mit seiner Behauptung die Sache für erledigt anzusehen, und fragte abbrechend den Baron, welche Nachrichten die Zeitungen gebracht, so daß die Unterhaltung schnell eine andere Wendung nahm, ohne deshalb wie sonst eine angeregte zu werden. Der Doctor blieb gegen seine Gewohnheit theilnahmlos, und als er kaum eine Stunde dagewesen war, stand er mit dem zehnten Glockenschlage auf, sich zu entfernen.

Er sagte dem Baron Lebewohl, man sprach noch von kleinen Dienstleistungen und Besorgungen, die man von einander erwartete, es war ein ganz gewöhnlicher Vorgang, und doch legte sich eine Befangenheit über die Anwesenden, die Jeder fühlte und Niemand sich zu erklären vermochte. Hatte der Doctor sich schnell und plötzlich erhoben, so zögerte er jetzt, obschon alles Nöthige durchsprochen war. Cornelie hielt sich fern von ihm, und eben trat er an sie heran, ihr zum Abschiede die Hand zu geben, als Auguste die Bemerkung machte: »Sie Beide werden sich also nun vor Corneliens Abreise wohl nicht mehr wiedersehen?

»Nein!« sagte der Doctor ruhig, aber es flog eine heftige Bewegung über seine Züge, die er nicht bemeistern konnte.

»Ich soll Sie nicht mehr wiedersehen!« sprach Cornelie nach, und ihre Rechte ward kalt in der seinen.

»Nein!« sagte er nochmals, »aber vergessen Sie mich nicht!«

Er drückte dabei ihre Hand und schritt schnell der Thüre zu. Cornelie war bleich geworden, die Thränen traten ihr in die Augen, sie sah ihm einen Moment sprachlos nach, dann raffte sie sich zusammen, und folgte ihm mit raschem Entschlusse. Als sie in das Nebenzimmer traten, sagte sie: »Ich kann es nicht fassen, daß ich so und jetzt von Ihnen scheiden soll. Ich hatte nie daran gedacht!«

»Sie hatten nicht daran gedacht?« fragte er.

»Es war mir, als hätte ich Ihnen noch so viel, so viel zu sagen!« sprach sie mit ängstlicher Hast.

»Und was, Cornelie?«

»Ich meinte, Sie sollten mir rathen, mir helfen! – Nun ist es zu spät!« fügte sie fast tonlos hinzu, als Friedrich und Plessen aus der Wohnstube herein traten.

Da ergriff der Doctor Corneliens beide Hände und sagte leise: »Für das Rechte ist es nie zu spät!« und ehe sie ein Wort erwiedern konnte, hatte er das Zimmer verlassen.

Friedrich eilte ihm nach, um mit ihm zusammen nach Hause zu gehen, Plessen und seine Braut blieben allein zurück. »Was war das, Cornelie?« fragte er.

Sie antwortete nicht.

»Der Doctor« hob Plessen wieder an.

»Sprich nicht von ihm! ich bitte Dich!« flehte Cornelie, »er war mein ältester, mein treuester Freund!«

»Und das fühlst Du erst jetzt, erst so plötzlich in dieser Stunde?«

»Die Todesstunde macht hellsehend!« antwortete sie, und brach in Thränen aus. Dann schwiegen Beide.

»Ich werde Euch morgen bis Mitteldorf begleiten! der Vater hat es mir angeboten!« sagte Plessen endlich.

»So sehen wir uns ja noch!« entgegnete Cornelie, erwiederte mechanisch den Händedruck ihres Bräutigams, und Plessen verließ das Haus.


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