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Dreizehntes Kapitel.

Der Prozeß gegen die Gemeinde der Heiligen bildete einen stehenden Artikel in den Zeitungsblättern jener Tage, und Erich fand es bald eben so lästig, mit Fremden als mit befreundeten Personen zusammen zu treffen, weil er sich nirgend vor Erörterungen sicher fühlte, die ihn peinigten. Er hatte Regine von den Vorgängen, von der Verwicklung Corneliens in dieselben erzählt. Sie hatte um seinetwillen Theil daran genommen, aber ihr mittelbares Interesse an seiner Schwester, und ihre Unfähigkeit, sich in die Geistesrichtung einer solchen Gemeinschaft zu versetzen, machten, daß ihm ihre Theilnahme nicht ausreichend erschien.

»Es ist sonderbar,« sagte er eines Tages, »daß Du bei aller Liebe, die Du für mich fühlst, meinen Schmerz um meine Schwester nicht verstehen kannst!«

»Ich verstand ihn wohl,« antwortete sie, »als Du sie schuldig glaubtest. Aber Du selbst, die Richter, Dein Vater und vor Allem ihr Bräutigam, Ihr seid ja alle von ihrer Unschuld vollkommen überzeugt!«

»Was hilft das!« rief er ungeduldig.

Regine sah ihn befremdet an. »Was das hilft? Mehr als vollkommen schuldlos kann doch der Mensch nicht sein!« sagte sie ruhig.

»Ja!« rief er, gereizt durch ihre Ruhe, die er Kälte schalt, »ja! man kann mehr sein, ein Mädchen muß mehr sein, als eben nur schuldlos! Es muß unangetastet sein. Fühlst Du denn nicht, daß mit solcher Untersuchung der Ruf eines Weibes für immer vernichtet ist? Siehst Du nicht, daß ihre Heirath nur ein Rettungsanker ist, an das mein Vater sie ketten muß, um sie vor dem Untergange zu bewahren? Weißt Du was es heißt, zu sehen, daß ein Mann, den man im Grunde zu gering für seine Schwester achtet, sie unter Verhältnissen zur Frau nimmt, in denen man es als Gnade ansehen muß, daß er es schließlich thut?«

Es giebt Tage, an denen ein böser Dämon uns verhindert, die Stimmung unserer liebsten Menschen richtig zu erkennen und uns ihr anzupassen, denn auch das innigste Beisammenleben zu einander gehöriger Personen, ist nur durch ein stetes Ausgleichen der verschiedenen Naturen möglich, die wie chemische Stoffe unter veränderten Verhältnissen eine veränderte Wirkung auf einander üben. Ein solcher Dämon waltete heute über Regine.

»Aber Deine Schwester liebt den Mann und er liebt sie!« wendete sie ein, statt Erich ruhig seine Erregung aussprechen zu lassen.

»Was hat ihre Liebe damit zu thun. Was hilft diese Liebe ihr von dem Urtheil der Welt?«

»Wie kannst Du das fragen, Erich? Ich begreife Dich heute nicht!«

»Natürlich!« fuhr er auf. »Was kannst Du auch wissen von der Ehre einer Familie, von der Schmach eines solchen zerstörten Rufes!«

Er hatte sich mit dieser Heftigkeit genug gethan, seine Brust befreit und ging nun nach seiner Gewohnheit in dem Zimmer auf und nieder, ohne weiter auf Regine zu achten. So entschwand mehr als eine Viertelstunde. Plötzlich begann die Stille ihm beängstigend aufzufallen. »Warum sprichst Du nicht zu mir, Regine?« fragte er.

»Was könnte ich Dir sagen?« antwortete sie mit dem sanftesten Klange ihrer Stimme. Der Ton rührte ihn. Er hatte schon lange das Bewußtsein der Roheit gehabt, die er begangen, und war bereit sie zu büßen, die Geliebte zu versöhnen. Langsam trat er zu ihr heran.

»Als ob ich nicht wüßte, wie die Blicke der Menschen lasten können!« rief Regine, als er vor ihr stand und hob ihre thränenvollen Augen zu ihm in die Höhe.

Diese Worte reizten ihn auf's Neue.

»Deine Reue kommt zu spät!« sagte er grausam, indem er sich von ihr entfernte.

»Ich habe Nichts zu bereuen Erich, und ich bereue Nichts!«

»Aber Du rechnest mir das Opfer an, das Du mir brachtest!« rief er, »das thut die Liebe nicht!«

»That ich das je?«

»Du thust es jetzt! und grade heute hätte ich einer selbstlosen Liebe bedurft, indeß« – – –

Er hielt inne, nahm ein Buch und setzte sich nieder zu lesen. Regine konnte an seiner Unruhe sehen, wie wenig er bei dem Werke war. Er schlug die Blätter hin und her, fing auf verschiedenen Stellen zu lesen an, kämmte dabei mit seinem kleinen Taschenkamme Haar und Bart, bis er ungeduldig mit den Worten: »Ich muß ausgehen und sehen, ob ich mich nicht im Freien los werden kann!« von seinem Sitze aufstand.

»Soll ich Dich nicht begleiten?« fragte sie.

»Nein! ich will allein gehen, und das Wetter ist auch zu schlecht, Du könntest Dich erkälten!«

»Wann darf ich Dich zurück erwarten, Erich?«

»Ich weiß es nicht! – Fragst Du mich aber heute viel!« – rief er mit gezwungenem Lächeln, bot ihr flüchtig die Hand und ging mit einem eben so flüchtigen Lebewohl davon.

Regine sah ihm schweigend nach, dann schlug sie die Hände schmerzlich zusammen und hielt sie fest vor das Gesicht gepreßt, als wolle sie die Augen verschließen vor jeder äußeren Störung, um sich zu besinnen, wie eine solche Veränderung zwischen ihnen entstehen, wie diese Scene hatte stattfinden können. Und doch war sie nicht die erste ihrer Art gewesen.

Je unwandelbarer sie sich in ihrer Liebe, je fester sie sich Erich eigen fühlte, um so unbegreiflicher mußte es sie dünken, daß seine Zärtlichkeit für sie erkaltete, daß sie ihm nicht wie sonst, die Außenwelt ersetzte, aber sie konnte es sich nicht verbergen, daß dem also war.

Seit Georg den Abschied genommen hatte, um Kaufmann zu werden, seit Cornelie zur Untersuchung gezogen worden war, hatte Erich seine Ruhe an Reginens Seite nicht wieder zu finden vermocht. Die Neugier und die Theilnahme, die sich bei diesen ungewöhnlichen Ereignissen auf seine Familie hefteten, die Gerüchte, welche in der großen Welt über Helenens Liebesabenteuer im Schwunge waren, hatten ihn mehr und mehr mit drückender Schwere belastet. Er konnte seines Vaters nicht gedenken, der Stunde nicht gedenken, in welcher er und Helene den Segen des Barons für ihren Lebensweg empfangen, ohne mit brennender Reue zu empfinden, daß auch er das Gelöbniß nicht gehalten habe, das er in des Vaters Hand geschworen hatte. Er fühlte sich schuldig gegen ihn, schuldig gegen Regine, gegen seine eigene Zukunft, aber mit dem Naturbedürfniß der Selbstbefreiung strebte er, die Schuld von sich zu wälzen – und er fand dazu Regine gegenüber leichtes Spiel.

Hatte er sonst in glücklichen Zeiten ihr scherzend vorgehalten, daß sie ihm ihre Liebe ungesucht gewährt, daß sie sie ihm fast wie eine Nothwendigkeit aufgedrungen habe, so war er allmählich dahin gekommen, ihr ernstlich einen Vorwurf daraus zu machen, oder mindestens ihre Unerfahrenheit und seine Leidenschaft in Stunden des Mißmuths als ein schweres Unglück für sie Beide zu beklagen. Ein Mißmuth aber, dem wir Raum gestatten, kehrt oftmals wieder, wächst rasch empor, schlägt unzerstörbar Wurzel in unserm Innern, und wo man sich gewöhnt, sich unglücklich zu glauben, da wendet das Glück sich unwiederbringlich von den Herzen ab.

Dieser Zustand seiner Seele konnte dem Auge der sorglichen Freundschaft nicht entgehen. Frau von Werdeck, viel zu erfahren, um jemals einen Versuch gegen Erich's Verhältniß zu Regine zu machen, hatte nie aufgehört, es mit Kummer zu betrachten, nie die Hoffnung aufgegeben, er selber werde einer Verbindung überdrüssig werden, die ihm vielfach im Wege stand, und ihm nach ihrer Meinung Nichts, als die Befriedigung einer sinnlichen Leidenschaft zu bieten hatte. Die Frauen, welche sich die gebildeten nennen, vergessen aber nur zu leicht, daß Bildung des Herzens, klarer Verstand, Reinheit und Größe der Empfindung, nicht das Erbgut einer Kaste sind, daß sie nicht in den Schulen, nicht in den Familien gelehrt zu werden brauchen, und daß sie in dem Weibe mehr werth sein können, als das schulgerechte Wissen, als die Formen und Traditionen auch der sorglichsten Erziehung.

Mit feinem Tacte fühlte Frau von Werdeck, daß Erich sich von der eigenen Wohnung zu entfernen, daß er die lang gemiedene Gesellschaft seiner früheren Umgangsgenossen aufzusuchen wünsche, daß er sich ihnen aber fremd geworden glaubte. Und ohne je ein Wort des Rathes oder des Beistandes für ihn auszusprechen, wußte sie ihm zu Hülfe zu kommen.

Der Mensch, als ein Theil der sogenannten Gesellschaft, ist ein Product, das sich selbst zu Markte bringt. Er hat seinen Preis wie alle anderen Dinge, seinen steigenden und fallenden Werth. Was wir viel verlangt sehn, wird uns begehrenswerth. Und kaum sah man das alte Verhältniß engsten Verkehres zwischen der allgemein verehrten Frau und ihrem jungen Freunde sich herstellen, als alle seine früheren Verbindungen sich schnell wieder anknüpften. Schon nach wenigen Wochen hatte Erich das aufgegebene und halb verlorene Terrain zurückerobert, sah er sich wieder als den Günstling der Mütter, als den gesuchtesten Verehrer ihrer Töchter.

Eine neue Lebenslust, wie nach einer Krankheit, welche den Gebrauch unserer Fähigkeiten lähmte, war damit über ihn gekommen. Es war ihm, als finde er sich nach bangem schwerem Traume wieder. Niemals war er heiterer, liebenswürdiger gewesen, als in diesem Augenblicke. Er hatte Freude an seiner Wohlgestalt, Freude an seiner geselligen Gewandtheit, an seiner Bildung, an seinem Wissen und eine fast übermüthige Lust in dem Gefühle, alle Vorzüge seiner Person und seiner Stellung wieder ungeschmälert geltend machen zu können, obschon er es so lange aufgegeben hatte, sie zu benutzen. Denn aufgeben hatte er sich müssen um Reginen's Willen, aufgeben mußte er sich nach seiner Meinung neben ihr. Was half es ihm, daß er ihren Geist gebildet, was half es, daß sie sich mit dem ganzen Ernste ihrer Natur bemüht hatte, sich Kenntnisse zu erwerben, um ihn zu verstehen, ihm zu genügen? Ihre dankbare Liebe, ihre tiefe stille Verehrung für ihn, boten ihm nicht den Reiz immer neu befriedigender Eitelkeit, und er hatte sich gewöhnt ihn zu begehren. Der Beifall der Gesellschaft war der Spiegel, dessen er bedurfte, wollte er wissen, was er war, wollte er sich seiner Vorzüge erfreuen.

Seine Erfolge hatten ihn für einige Zeit auch in Reginen's Nähe heiterer gemacht. Er hatte Lust daran gehabt, sie ihr zu schildern. Ihre demüthige Freude, daß sie ihn, den Vielbegehrten, doch allein besitze, war ihm wohlthuend gewesen. Mehr und mehr aber war ihm die Gesellschaft wieder unentbehrlich, die Einsamkeit mit der Geliebten ermüdend geworden, und schon seit vielen Wochen hatte er keinen Abend mehr bei ihr verlebt.

Anfangs hatte sie sich darüber sanft beklagt, dann war ihr Stolz erwacht und sie hatte sich gelobt zu schweigen. Indeß der Stolz hält nicht Stand vor den Qualen der Eifersucht, weil sie das Selbstgefühl vernichtet, in dem er wurzelt. Die täglichen Besuche bei Frau von Werdeck, das Lob, welches Erich ihrer Tochter sonst gespendet, und das er jetzt nicht vor Regine auszusprechen wagte, hatten ihren Argwohn rege gemacht. Ihre Einsamkeit hatte ihr Zeit gelassen ihn zu nähren, und die Heiterkeit oder der Mißmuth, mit denen Erich spät in seine Wohnung zu ihr heimzukehren pflegte, waren für sie gleich entmuthigend und unheilverkündigend gewesen.

Ihr verzagtes Schweigen, ihre leidenschaftlichen Klagen wurden ihm zur Qual. Er scheute sich mit ihr allein zu sein, und die Ruhe, die heitere Unterhaltung, deren er im Hause seiner Freundin sicher war, machten ihm dasselbe nur noch werther. Auch an diesem Abende hatte er kaum den Weg in's Freie eingeschlagen, als er seine Schritte bald wieder nach dem Thore zurück lenkte, das hin zu Frau von Werdeck führte.

Verstimmt ging er durch die menschenbelebten Straßen. Reginen's und Sidoniens Bilder drängten sich ihm wechselnd vor die Seele. Er klagte sich an, die Liebe der Erstern nicht genug zu würdigen und zu schonen, er tadelte sich, die sichtlich wachsende Neigung der Letztern zu nähren. Aber das erste Unrecht begann ihn allmählich leichter zu dünken als das zweite.

»Thor, der ich war!« sagte er sich, »an die Befriedigung einer Leidenschaft ein Stück meines Lebens, meinen Ruf zu setzen! Thor, der ich war, Regine zu mir zu nehmen! mir ein ideales Loos dadurch bereiten zu wollen! Mein falscher Idealismus, meine blinde Hingebung sind von jeher mein Verderben gewesen. Was hatte ein Mädchen wie Regine von mir zu fordern? Welcher Zufall war es, der mich in der Jugend zu ihr führte, welch ein Leichtsinn, der sie mir später in die Arme warf, ohne daß ich es gesucht hatte? Es waren zweideutige Verhältnisse, in denen ich sie beide Male fand.«

Obschon er allein war, fühlte er die Röthe der Scham auf seinen Wangen brennen, als er sich mit solchen Waffen gegen die Unglückliche gewendet hatte.

»Sie wird mich noch zur Selbstverachtung bringen!« rief er aus, »sie wird mich und sich verderben, das unglückselige Weib!«

Er hatte während dessen das Haus der Frau von Werdeck erreicht, und zog mechanisch die Glocke. Ihr heller Schall schreckte ihn empor. Er fuhr mit der Hand über seine Stirne, athmete tief auf, als wolle er sich befreien, und ließ sich melden.


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