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Erstes Kapitel.

Noch war kein Jahr verflossen, seit die beiden ältesten Kinder des Barons aus dem Vaterhause geschieden waren, als auch in diesem der Tod sein Opfer gefordert hatte. Die Baronin war nach kurzem Krankenlager gestorben, und das sonst so heitere, gastliche Familienleben dadurch für immer zerstört worden. Bei der Unterordnung, in welcher der Baron selbst die von ihm innig geliebte Gattin zu halten gewohnt gewesen war, hatte er nie bemerkt, welch segensreichen Einfluß sie auf ihn ausgeübt, wie nöthig ihm ihre Milde gewesen, um die Starrheit seiner Grundsätze mit den Ansprüchen und Forderungen des Lebens zu vermitteln. Jetzt, da sie ihm entzogen war, empfand er es um so tiefer, je mehr die Wendung, welche die öffentlichen Zustände in Europa genommen hatten, seinen Ueberzeugungen widersprach.

Den französischen Julitagen waren die Revolution in Belgien und die Erhebung in Polen gefolgt, ganz Süddeutschland befand sich in lebhafter Gährung, das Hambacher Fest hatte es dargethan, wie verbreitet der Wunsch nach einer ständischen Vertretung, wie weit er eingedrungen sei in die arbeitenden Volksklassen. Die Namen Börne's, Siebenpfeifer's, Wirth's waren in jedem Munde und der Unparteiische konnte es sich nicht verbergen, daß es in Hambach nur an entschlossenen Führern gefehlt habe, um die dort versammelten Massen zu einem Unternehmen für die Befreiung Deutschlands von der absoluten Herrschaft zu bewegen. Auch in der Literatur gab sich eine neue frische Richtung kund. Börne, Heine, Wienbarg stachelten jeder auf seine Weise das erwachte Bewußtsein des Volkes zur Empfindung seiner Knechtschaft auf, andere Talente trugen den Gedanken der Freiheit in die gesellschaftlichen und in das Verhältniß der Geschlechter zu einander über, und forderten, wenn auch oft in mißverstandener Weise, die Wiedereinsetzung des Menschen in einen freieren Genuß der Erdenfreuden.

Man wollte nicht mehr entbehren und entsagen, man wollte besitzen und des Besitzes froh werden, man war es müde, in müssigem Weltschmerz darüber zu klagen, daß die Wirklichkeit dem Ideale Hohn sprach, man wollte sie idealischer gestalten, aber man hatte kein allgemeines, kein sittliches Ideal, und Jeder versuchte sich seine Grillen oder Leidenschaften zum Ideale zu erheben. Die Literatur der Selbstbespiegelung und mit ihr der Selbstverschönerung begann. Neben der tiefsten und reinsten Poesie machte der Cynismus sich in ekelerregender Weise breit und verlangte Anbetung vom Volke, weil er individuell und das Recht der Individualität nicht länger zu bestreiten sei. Tagebücher, Reiseskizzen und eine große Anzahl phantastischer Productionen überraschten und verwirrten das Publikum, fesselten die Einen verlockend und zur Nachahmung reizend, stießen die Anderen eben so lebhaft ab, und wie immer in solchen Epochen, bemächtigte sich die Menge der technischen Phrase, um sie, verstanden oder nicht, fanatisch als Parteiwort zu gebrauchen. Während es sich darum handelte, den Geist zu befreien, schwor man auf die Emancipation des Fleisches oder kämpfte wider sie, vergessend, daß der Absolutismus dem Sinnengenusse immer volle Freiheit gewährt hatte, daß die orthodoxeste Hierarchie, der Katholicismus, sich leicht mit ihm verständigte, und daß es nur die Emancipation der Geister war, gegen die man mit Censur und Waffen aller Art zu Felde zog.

Auch that die Lehre von der Emancipation des Fleisches und die Leichtfertigkeit, mit denen man sinnliche Ausschweifungen als Gegenstände der Verherrlichung behandelte, im Grunde wenig Schaden. Sie gaben den träge gewordenen Gemüthern einen Anstoß und wirkten fast das Gegentheil von dem, was man gefürchtet hatte. Der Deutsche besitzt im Allgemeinen nicht den Esprit, der im Franzosen die Frivolität erzeugt. Die Sinnlichkeit schlägt bei ihm in Rohheit oder in Sentimentalität um, und endet meist in Verthierung oder in Askese. Mochten Menschen wie Larssen sich auch behaglich dehnen in der Nebelsonne dieser falschen Aufklärung, mochte der Trotz des Lieutenants Alles mit Leidenschaft ergreifen, was sich gegen die bestehende Ordnung richtete, so schuf es in solchen Naturen doch nichts Neues. Wo aber Jugend und Unschuld mit diesen Lehren in Berührung kamen, da entstand höchstens ein Rausch, von dem der Ernst des Lebens sie bald wieder ernüchterte und zur Besinnung brachte.

Neben diesen zum Lebensgenusse ladenden Elementen, mahnte aber jene Zeit auch vielfach an den Ernst des Daseins und an die Vergänglichkeit des Irdischen. Das Schicksal der zum zweiten Male gestürzten französischen Dynastie, die Leiden und die Verbannung, welche die Mehrzahl des polnischen Adels getroffen hatten, von dem Viele durch Preußen geflohen waren, während Andere dort in tiefer Zurückgezogenheit lebten, trauernd um den Tod der Ihrigen und Stärkung suchend in der Religion, das Alles, und endlich das Hereinbrechen der Cholera mit ihrem furchtbaren memento mori, war ganz dazu gemacht, ernste Gemüther grade im Gegensatze zu der neuen Schule der Genußfordernden in eine dem Genuß entsagende Richtung zu treiben.

Das war Corneliens Fall gewesen. Der Tod der Baronin hatte ihr plötzlich eine neue Stellung, neue Verpflichtungen gegeben, und das Bestreben, dem Vater die treue Gefährtin zu ersetzen, sie dahin gebracht, dem Verkehr mit ihren Altersgenossen fast gänzlich zu entsagen. Die Bälle und andere derartigen Lustbarkeiten waren in ihrem Vaterhause meist um Helenens willen veranstaltet worden, ihre Entfernung und das bald darauf folgende Trauerjahr hatten ihnen ein Ende gemacht, und da Cornelie keinen Werth darauf legte, hatte man auch nach dem Ablaufe der Trauerzeit die zur Gewohnheit gewordene stillere Lebensweise beibehalten.

Der Stimmung des Barons gereichte das nicht zum Vortheil. Er vermied es, zu seinem kleinen Kreise Personen zuzulassen, welche nicht seine Ansichten theilten, und konnte bald nicht mehr den leisesten Widerstand gegen dieselben oder das freie Aussprechen einer abweichenden Meinung ohne Mißmuth neben sich ertragen. Die alten Freunde des Hauses, wie der Doctor, schonten ihn und hüteten sich ihn zu verletzen, Fremde, welche eine solche Rücksicht nicht zu nehmen nöthig fanden, wurden ihm allmählich immer lästiger, er verweigerte es, neue Bekanntschaften zu machen, und schon nach zwei Jahren beschränkte sich sein näherer Umgang, soweit er nicht den von ihm hochgehaltenen Familienverbindungen galt, fast ausschließlich auf den Doctor, auf Plessen und auf Friedrich, und auch mit diesen war er meistens unzufrieden. Hatte er früher den Andersdenkenden gegenüber die Milde gehabt, welche aus dem Gefühl der eigenen Unfehlbarkeit gegen den Irrenden hervorgeht, den man früher oder später zu überzeugen hoffen darf, so fühlte er sich durch die Zeit und ihre Forderungen jetzt gedrängt, seine Weltanschauung, seine aus ihr hervorgehenden vielfach angefochtenen Rechte zu vertheidigen, und dies mit Strenge zu thun, mußte einem Charakter wie dem seinigen, als Pflicht erscheinen.

Corneliens Lage war unter diesen Verhältnissen nicht leicht. So jung sie bei dem Tode ihrer Mutter gewesen war, hatte diese gewünscht, daß keine Fremde zur Verwaltung des Hauses und zur Erziehung der beiden Pflegekinder in die Familie aufgenommen werden möge, während die Tochter im Vaterhause weilte. Ihr allein hatte sie die Sorge für Augustens Fortbildung übertragen, während Richard der Aufsicht des Herrn von Plessen übergeben worden war, ohne daß derselbe als Gouverneur des Knaben in dem Hause lebte.

Von dem Plane, ihn durch Friedrich erziehen zu lassen, war der Baron zurückgekommen, nachdem er sein Verhältniß zu der Tochter kennen lernen, aber kurz nach der Abreise der Neuvermählten hatte die Baronin selbst mit einem freundlichen Schreiben ihn zu sich entboten und es war zu einer Erklärung zwischen ihnen gekommen. Sie hatte ihm ausgesprochen, wie sehr sie und der Baron sein ehrenhaftes Verhalten, seine freiwillige Entsagung zu schätzen gewußt, wie hoch er in ihrer Freundschaft gestiegen sei, und die wahrhaft mütterliche Zuneigung, welche sie ihm bewies, die achtende Anerkennung, mit der der Baron ihm begegnete, würden ihm eine Genugthuung, eine Erquickung geworden sein, hätte er sich ihnen gegenüber unter solchen Verhältnissen nicht doppelt gedrückt gefühlt durch die Art seines letzten Begegnens mit der Gräfin.

Er hatte lebhafte Theilnahme bei ihnen gefunden für den Tod seines Vaters, er war oft in den letzten Lebenstagen der Baronin noch an ihrer Seite, und sie selbst war es gewesen, die ihm von Zeit zu Zeit Nachrichten über das Ergehen ihrer Tochter mitgetheilt. Aber diese Nachrichten hatten ihn nicht beruhigt, denn so hoch sie die äußeren Lebensverhältnisse Helenens auch angeschlagen, so oft sie der Vorzüge und Genüsse ihres Daseins erwähnt, niemals hatte die Baronin es ausgesprochen, daß Helene glücklich sei, obschon Friedrich ihr gesagt, welch ein Trost es für ihn sein würde, sie sich mit ihrem Loose ausgesöhnt und befriedigt denken zu können.

In dem engen Kreise, welcher seit dem Erkranken der Baronin sich um dieselbe versammelt, waren Friedrich und Plessen sich näher getreten. – Der stets regen Beobachtung des Letzteren hatten die religiösen Zweifel nicht verborgen bleiben können, welche Jenen bewegten, und weit entfernt, ihm Einwendungen zu machen gegen die Philosophie des Doctors oder gegen den Unglauben seines Vaters, hatte er sich stets damit begnügt, Friedrich die Beseligung auszudrücken, welche er selbst durch seinen Glauben in sich trage, und ihn darauf hinzuweisen, welche Früchte der Glaube, welche Früchte der Unglaube an den Personen wirke, deren Leben man beobachtend verfolgen konnte. Dieser Beobachtung zu genügen, wußte er ihn für seine Armenpflege zu gewinnen, und bald sah sich Friedrich in eine ihm ganz neue Thätigkeit hineingezogen.

Noch vor der Verheirathung ihrer Tochter hatte die Baronin von der Regierung die Erlaubniß nachgesucht und erhalten, eine Armenschule zu begründen, an der sie selbst, ihre Töchter, Herr von Plessen und einige ihnen befreundete Frauen und Männer den Unterricht ertheilten. Selbst die lebensfrohe Helene hatte eine Genugthuung an dem Verkehre mit den Kindern gewonnen, und es lag nahe genug, Friedrich zur Uebernahme der Unterrichtsstunden zu bewegen, welche die Geliebte sonst ertheilt. Von der Beschäftigung mit den Kindern war man zur Beaufsichtigung ihrer häuslichen Verhältnisse übergegangen. Man hatte eingesehen, wie unmöglich oft für die außer dem Hause arbeitende Mutter der sonntägliche Besuch der Kirche werde, da grade dieser Ruhetag ihr zur Besorgung ihres Hauswesens dienen muß, und man war zu der Errichtung einer Betstunde am Sonntag Abende geschritten, zu der man die Eltern derjenigen Kinder versammelte, welche in die Armenschule aufgenommen waren.

Noth und Elend der Familien, mit denen man in so vielfältige, nahe Berührungen kam, konnten den Vorstehern der Schule und der Betstunde nicht verborgen bleiben, welche die Mittel besaßen, ihnen rathend und helfend beizustehen. Man pflegte die Kranken, man sorgte für die Wöchnerinnen, man hielt darauf, die Gesunden sauber gekleidet zu sehen, und wo die Mittel dazu fehlten, schaffte man ihnen Kleidungsstücke, zu denen man die tüchtigsten und einfachsten Stoffe und Schnitte wählte. Allmählich entstand auf diese Weise für die Familien, welche man in Obhut genommen hatte, eine Art von gleichmäßiger Tracht, welche dieselben, wenn auch durch kaum bemerkbare Unterschiede, von ihren Nachbarn absonderte, wie die Erbauungsstunden an den Sonntagsabenden, ihre Beschützer von einem Theile ihrer gewohnten Geselligkeit abzutrennen begannen.

Der Mensch aber hat einen doppelten Zug in seinen Naturanlagen, und wie ihn eine Seite seines Wesens zum Anschluß an die Menschen zieht, so macht die andere ihn geneigt, sich in der Masse gruppenweise zu isoliren. Darin beruht das geistige Geheimniß der Aristokratien und Gemeinden.

Die Befriedigung, welche die Baronin und ihre Tochter in der neuen Thätigkeit und an dem Gedeihen ihrer Schützlinge fanden, machte die ihnen befreundeten Frauen geneigt zu gleicher Wirksamkeit. Man sah plötzlich ein, daß man müssig gewesen sei, daß man seine Zeit für sich und Andere nützlich verwerthen könne, und mit der Zahl der zum Wohlthun geneigten Theilnehmer, schritt gleichmäßig die Ausdehnung ihrer Unternehmung fort. So lange die Baronin gelebt, hatte man die ursprüngliche freie Thätigkeit der einzelnen Mitglieder fortbestehen lassen, und es war doch ein gewisser Zusammenhang in derselben geblieben, da das Alter und die Stellung der Baronin sie zur gemeinsamen Beratherin der verschiedenen Teilnehmer gemacht hatte. Nach ihrem Tode machte sich aber bald die Notwendigkeit einer festen Organisation geltend, sollten die mannigfachen Bestrebungen der Einzelnen sich nicht kreuzen und dadurch hemmen.

Es war unerläßlich, daß man Conferenzen für die mannigfach nöthigen Besprechungen anordnete, die Zahl der versorgten und beaufsichtigten Familien war auch schon zu groß geworden, um die Abenderbauungen im Heidenbruck'schen Hause fortzusetzen, und mit Erstaunen fast wurde man es gewahr, daß sich innerhalb der Kirche eine Gemeinde gebildet hatte, die durch ein streng geregeltes und bald auch gegenseitig überwachtes Leben, sich von der Allgemeinheit schied. Als man zu überlegen anfing, was man zu beginnen habe, sah man sich gezwungen, sich mit fast allen Fragen um die Einzelheiten der Armenpflege an Cornelie zu wenden, die als beständige Gehülfin ihrer Mutter die beste Auskunft und Anleitung zu geben vermochte, und ehe man noch zur Wahl einer Vorsteherin des sogenannten Armenvereines geschritten war, hatten die Thatkraft und Entschiedenheit des jungen Mädchens Cornelie dazu erhoben, so daß gar nicht mehr die Rede von einer solchen Ernennung war, sondern man, wie früher der Mutter, so jetzt der Tochter, die wesentliche Leitung überließ.

Der Eindruck aber, den eine solche Verpflichtung auf die Mutter und auf die Tochter machte, war ein sehr verschiedener. Hatte jene darin nur die Ausdehnung ihrer bisherigen Sorgfalt für die Familie auf einen größeren Kreis erblickt, ohne sich davon in ihrem persönlichen Empfinden anders gestimmt zu fühlen, so machte es für das junge Mädchen einen Lebensabschnitt aus. Sie trat die Nachfolge ihrer Mutter mit dem Bewußtsein an, einen neuen ernsten Beruf zu übernehmen, dessen werth zu sein sie sich erst heiligen müsse, und die erste Handlung, welche sie ausübte, bestand darin, daß sie sich eine jüngere Freundin ihrer Mutter, die Gräfin Wöhrstein, als Mitvorsteherin erbat, der sie sich unterzuordnen beschloß, um mit einer That der Selbstbeherrschung zu beginnen.

Die Gräfin, eine hochbegabte, schwärmerische und dabei thätige Natur, war früh, nach einer sehr glücklichen Ehe, Wittwe geworden, und, kinderlos und unbeschäftigt, eine der Ersten gewesen, die sich, durch Messen angeregt, den Bestrebungen der Baronin angeschlossen hatte. Ihre Schwärmerei sah in Corneliens Entschluß einen Fingerzeig des Himmels, ihre Thätigkeit ergriff mit leidenschaftlichem Eifer die neue Wirksamkeit, und wie ihre jüngere Freundin hielt sie Selbstheiligung für die erste Bedingniß, sollte das Unternehmen einen gedeihlichen Fortgang haben.

An jedem Morgen, ehe sie an ihr Tagewerk gingen, kamen die beiden Frauen zu einer besonderen Andachtsstunde zusammen. Sie lasen religiöse Werke, sie untersuchten ihr eigenes Innere, jeder Gedanke, den man gehegt, wurde einer gemeinsamen Prüfung unterworfen, und bald hatten Beide die Wollust einer erkünstelten Reue, und den Genuß der Erhebung nach der Selbstzerknirschung in berauschender Weise kennen lernen, ohne daß Eine von ihnen gewußt hatte, wie dieser ganze Seelenzustand ein freiwillig erzeugter sei. Mit unerbittlicher Strenge hielten sie sich gegenseitig ihre Mängel vor. Corneliens scharfe Urtheilsweise, die Liebe der Gräfin für Schönheit und Eleganz der äußeren Erscheinung, waren Gegenstände des wechselseitigen Tadels, und wie die Eine sich zu einer ihr fremden Milde des Urtheils und des Ausdrucks zu erziehen strebte, so kamen Beide dahin überein, daß es unpaßlich sei, in der schmuckreichen Tracht der Weltmenschen an den Stätten des Leidens zu erscheinen, und machten sich eine Kleidung zur Pflicht, wie man sie an den Herrnhutherinnen und Quäkerinnen zu sehen gewohnt war.

Dem Baron entgingen diese Thatsachen nicht, aber er ließ die Tochter gewähren, weil fast der ganze Kreis der Verbundenen aus Frauen und Männern der Aristokratie bestand und es seinen Grundsätzen entsprach, daß gerade diese sich zur Wohlthäterin und Erzieherin der Armen und Nothleidenden machte, während der bürgerliche Liberalismus in den fortdauernden politischen Krisen sich gegen den Adel aussprach, und unter dem Vorgeben, für Freiheit und Aufklärung des Volkes zu kämpfen, selbstsüchtig für den eigenen Vortheil arbeitete. Freilich war dem Baron persönlich das religiöse Gewand nicht zusagend, in das sich jene Thätigkeit verhüllte, aber dem in Schriften aller Art gepredigten Unglauben gegenüber, hielt er für das Volk die kirchliche Zucht und die stete Hinweisung auf Gott, auf seine Vorsehung und sein jenseitiges Richteramt für unerläßlich. Nur wenn Cornelie ihm zu weit zu gehen schien in ihrer Selbstverleugnung, wenn er sie an den Krankenbetten ihre eigene Gesundheit gefährden, wenn er sie mehr und mehr sich von den bestehenden Verhältnissen der Wirklichkeit abwenden, und all ihr Augenmerk auf einen neu zu schaffenden, idealen Zustand des Lebens richten sah, hatte er warnend einzuschreiten und zu hemmen versucht, aber es war vergebens gewesen. Eine stärkere Hand hatte sich ihrer Leitung bereits bemächtigt.

Gezwungen für die Gemeinde nach einem Versammlungsorte zu suchen, und durch die Gesetze gehindert, ohne besondere Erlaubniß und Concession einen eigenen Betsaal zu erwerben, war man übereingekommen, an den Sonntag Nachmittagen den allgemeinen Gottesdienst in einer der städtischen Hauptkirchen zu besuchen, deren Prediger durch seinen reinen Lebenswandel eben so geachtet, als bewundert um seine Redegabe ward. Da er seit langen Jahren neben dem Sonntagscultus allwöchentlich an einem bestimmten Tage, eine freilich nur wenig besuchte Frühpredigt gehalten hatte, so entsprach er doppelt dem Bedürfniß des Vereines, und die beiden Frauen, welchen er bereits in seiner amtlichen Thätigkeit vielfach begegnet war, führten ihm ihre sämmtlichen Freunde und Schützlinge zu, sich selbst seiner Seelsorge anvertrauend.

Dadurch gewannen die Verhältnisse eine neue Gestalt. Der Prediger, ein schöner, majestätischer, Mann auf der Höhe des Lebens, fühlte sich gehoben und neu belebt durch das in ihn gesetzte Vertrauen. Er wollte demselben entsprechen, sein Enthusiasmus für das Christenthum, sein Glaube an dessen sittliche und politische Bedeutsamkeit, sein Ehrgeiz, die Wahrheit dieser seiner Ueberzeugung durch praktische Erfolge zu bethätigen, machten, daß er sich mit leidenschaftlicher Begeisterung dem Vereine anschloß. Plessen, welcher bis dahin der Berather der Frauen gewesen war, mußte bald die größere Kraft des Predigers anerkennen, und ward mit Erstaunen den Einfluß gewahr, welchen derselbe und die beiden Freundinnen wechselseitig auf einander übten.

Die täglichen Morgenandachten der Frauen waren nach dem Zutritt des Predigers in Erbauungsstunden umgewandelt worden, zu welchen man sich an zwei Abenden in jeder Woche bei der Gräfin zusammenfand, und zu denen Anfangs nur Herr von Plessen und der neue Seelsorger zugelassen wurden, bis dieser selbst den Vorschlag gemacht hatte, auch Friedrich dazu einzuladen, den auf dem Wege des Glaubens zu erhalten, er als eine sittliche Pflicht seiner Freunde bezeichnete.

Als Friedrich sich zum ersten Male mit Plessen zu der Andachtstunde begab, fand er die drei Anderen schon beisammen in einem Cabinette, das er nie zuvor betreten hatte. Der Schönheitssinn und die Künstlernatur der Gräfin, die sich nur schwer von der neuen Lebensauffassung unterdrücken ließen, und sich bei jeder Gelegenheit immer wieder geltend machten, hatten das kleine Gemach zu einer Art von Capelle umgestaltet.

Obschon es noch Tag und die Sonne eines schönen Aprilabendes eben erst im Sinken war, verhüllten bereits schwere Vorhänge von einem dunkelblauen Wollenzeuge, mit dem auch die Wände tapezirt waren, die beiden Fenster, und eine Ampel, über deren Flamme eine mild duftende Essenz verdampfte, hing von der Decke herab, einen Ecce homo zu beleuchten. Möbel von altem gediegenen Holzschnitzwerk vollendeten die Einrichtung.

Die Gräfin, eine stolze, hohe Figur, deren schöne Züge einen festen Charakter verriethen, während die seelenvolle Glut ihrer großen blauen Augen alle Blicke an sich fesseln und jeden Willen unter den ihrigen beugen zu wollen schien, saß, als Plessen die Portière aufhob und mit Friedrich in das Zimmer trat, auf dem Sopha der Thüre gegenüber. Ihr blondes Haar war einfach gescheitelt, und schmückte in prächtigem Kranze den Kopf. Ein schwarzes Seidenkleid, das hoch zum Halse heraufging und über dem ein fein gefältelter Kragen herabfiel, hob in seiner Schmucklosigkeit den Adel ihrer Erscheinung um so deutlicher hervor, Cornelie, in fast gleicher Art gekleidet, saß zu ihrer Rechten, der Prediger an der linken Seite des Tisches, und so wenig berechnet es war, bot der Augenblick doch ein vollständiges Bild dar, in dem selbst die schönen, über der Bibel ruhenden Hände der Gräfin, und Corneliens nachdenkend auf den Arm gestütztes Haupt die Gesammtwirkung erhöhten.

Da es bei diesen Zusammenkünften mehr auf allgemeine geistige Erhebung als auf einen eigentlichen Gottesdienst abgesehen war, so machten das gemeinsame Gebet und die Vorlesung eines Kapitels aus der Bibel nur die Einleitung zu dem Gespräche, aber es schien Friedrich, als habe er seit Jahren nicht mehr sein Herz so tief vom Gebete ergriffen gefühlt, als in diesem engen Kreise, da die Gräfin, das Vaterunser gleichsam paraphrasirend, in freier Rede ihre Gedanken sammelte. Es lag etwas Ueberwältigendes darin, den Ausdruck anbetenden Dankes, inbrünstig liebender Hingebung gegen Gott, von Lippen fließen zu hören, die nie durch ein hartes Wort entweiht zu sein schienen, und die Sehnsucht nach dem Höchsten, nach dem Jenseits von einem Wesen zu vernehmen, das kaum eine harte, rohe Berührung der Erdenwelt erfahren haben konnte.

Friedrich sprach das gegen die Anwesenden aus, und der Prediger stimmte ihm bei. »Die Menschheit,« sagte er, »ist durch die Erbsünde so verblendet worden, daß sie Jahrtausende braucht, um zu der Wahrheit zurückzukehren, die ursprünglich in ihr lag, und die die Offenbarung hervorgehoben hat, wie der Bergmann aus lang verschüttetem Schachte das Gold zu Tage fördert, aber selbst dies Gold zu erkennen und zu würdigen hat unsere Herzensverderbniß uns zu schlecht gemacht. Die Heiligkeit des Weibes ist leider keine Wahrheit unter uns, weil wir es entweihen mit unseren sinnlichen Begierden, weil wir es kalt und andachtslos zum Werkzeug unserer Fleischeslust erniedrigt haben, statt uns ihm zu nahen in gemeinsam anbetender Hingebung an den Schöpfer und in den Ebenbildern des Weibes, das in reiner Jungfräulichkeit einst unsern Heiland zur Welt geboren hat, den schönsten und mildesten Ausdruck alles von Gott Erschaffenen zu ehren. Die Zeit des priesterlichen Weibes hat noch erst zu kommen!«

»Und doch,« wendete Plessen ein, »ist die Erkenntniß schon so häufig aufgetaucht. Das Mittelalter, das im Cultus der Ritterlichkeit die Frau verklärend anbetete, das ihr als Oberhaupt klösterlicher Gemeinden eine große geistige Gewalt überantwortete, die Quäker, Herrenhuther, Menoniten, welche die Priesterschaft des Weibes in ihren Gemeinden anerkennen, und grade jetzt wieder in unserer Zeit die St. Simonisten, sie Alle müssen mehr oder minder das Bewußtsein der Wahrheit und dessen, was uns Noth thut, empfunden haben. Woran liegt es nun, daß diese Wahrheit sich noch nie rein und voll aus ihrer Mitte herauszugestalten vermochte?«

»Woran es liegt?« rief Cornelie, »an der Unvollkommenheit des Weibes liegt es! Wir Alle wollen noch Etwas sein, um unserer selber willen, wir verlangen noch Dank, noch Anerkennung, noch Liebe für uns allein, für die körperliche Wesenheit, die wir unser irdisches Selbst nennen. Aber das Weib, das als heiliger Priester Gottes verehrt werden soll, das darf kein Ich besitzen, das muß selbstlos sein und Nichts begehren um sein selber willen. Es muß Gott danken in jedem Augenblicke, daß ein Theil seines Geistes in ihm Fleisch geworden ist, es muß sein leiblich Theil unterdrücken durch Buße und Entsagung, damit der Geist Gottes um so freier in ihm walte, sich um so reiner in ihm zur Erscheinung bringen könne. Und erst wenn wir dienstbar geworden sind Jedem, der Noth leidet, wenn wir mitgetheilt haben Alles, was wir an leiblichem und an geistigem Gute besitzen, wenn wir Nichts mehr unser eigen nennen, als das Herz voll ewig unsterblicher Liebe zu dem, der uns geschaffen hat, dann können wir würdig werden ihn zu preisen, dann können wir aufblicken und sprechen: walte in mir heiliger Geist der Gnade, daß ich dich erkenne und dich verkünde, als ein reines Werkzeug deiner Liebe in der Gemeinde deiner Heiligen! Dann wird der Geist Gottes auf uns herniedersinken, und dann wird das Weib die Priesterin der allwaltenden Liebe werden, die alle Liebe in sich schließt auf Erden! Und daß wir dies erringen, dazu helfe uns der Allhelfende, danach lasset uns streben, dazu uns stützen und anfeuern als Brüder und Schwestern in unserm Herrn und Heilande Jesu Christo!«

Sie war aufgestanden, hatte ihre Arme betend empor gehoben, und reichte, da sie in hoher Begeisterung geendet hatte, ihre Rechte, als fordere sie einen Eid, dem neben ihr sitzenden Plessen dar, der sie ergriff, und vor ihr niederknieend, ihre Hand auf sein Haupt legte. »Laß Deinen Segen über uns walten Du reines Herz! Du liebevolle Seele!« rief er, »laß Deinen Segen uns stark machen uns zu erheben zu dem, was wir sein wollen und sollen von dieser Stunde ab, eine brüderliche Gemeinde der Heiligen, ein Samenkorn in der allgemeinen Verderbniß, ausgestreut durch Gottes Vaterhuld, daß von ihm ausgehe die Sehnsucht nach Licht und Gnade. Und auf meinen Knieen schwöre ich Dir, die ich verehre als ein Ebenbild der Gebenedeiten, daß ich Nichts verlangen will in dieser Welt, als den Geist Gottes zu verkünden allerwegen, daß ich nicht achten will die Bande der Blutsverwandtschaft, daß nicht Vater, nicht Mutter, nicht Bruder oder Schwester, daß nicht Amt und Würde mich ketten sollen an sich, und daß ich fortan Nichts achten und anerkennen will als die Bande, die mich binden an die Gemeinde der Heiligen, und daß kein Gesetz mich leiten soll, als der Geist Gottes, der ihr Führer sein soll und ihr Gesetz. Daß wir also würdig werden wollen der Gnade Gottes, durch Hingabe an die hingegebene Selbstlosigkeit in der Gestalt des reinen Weibes, das laßt uns schwören vor Gott dem Allmächtigen, und dazu verhelfe uns der Heiland!«

Seine Stimme hatte in dieser tiefen Erregung den sanft vibrirenden weichen Klang, der sie in alle Herzen dringen machte, seine Augen leuchteten in mildem Glanze, obschon die Thränen in ihnen zitterten, und verklärten das bleiche Angesicht, dessen Ausdruck der Kränklichkeit seinen Anblick noch rührender machte. Er glich den Bildern sterbender Heiligen, deren Seele sich frei und begeistert der erschauten Himmelsglorie entgegenschwingt. Corneliens Herz wallte über in tiefer Bewegung, und sich mit Thränen zu dem Knieenden hernieder neigend, breitete sie die Arme gegen ihn aus, und schloß ihn an ihr Herz.

Die Handlung war eine unwillkürliche gewesen, kaum aber hatte sie sie vollzogen, als die Gewohnheit der ihr anerzogenen Sitte in ihr rege ward. Sie fühlte sich beschämt, und ihre Verwirrung zu verbergen und der Umarmung das Gepräge einer besonderen Gunst zu rauben, umarmte sie auch die beiden anderen Männer, während die Gräfin, in der die religiöse Begeisterung den Takt der Weltdame nicht vermindern konnte, ihr zu Hülfe kam, indem sie ihrem Beispiele folgte.

Dieser Vorgang, der die Frauen durch seine Plötzlichkeit und Ungewohnheit außer Fassung brachte, und sie verstummen ließ, begeisterte die Männer. Sie fühlten sich wie zu einem Mysterium geweiht, und zum ersten Male tauchte verführerisch in dem Prediger der Gedanke auf, aus dieser Gemeinschaft frommer Seelen, für die man fortan die von Cornelien gewählte Bezeichnung, der Gemeinde der Heiligen, annahm, eine wirkliche Gemeinde, eine Sekte zu gründen. Eine Wiedergeburt des Christenthumes zu seiner ursprünglichen Reinheit durch diese Sekte zu bewirken, erschien ihm nicht unmöglich, sondern als das lang geahnte Ziel seines Lebens und Wirkens.

Die frühere Erwähnung der Bedeutung, welche die Frauen in einigen der christlichen Sekten genossen, bot den Anlaß, den Geist jener Sekten zu prüfen. Man kam also überein, bei den nächsten Zusammenkünften die Werke des Grafen Zinzendorf zu studiren, für dessen Ideen die Gräfin immer eine gewisse Neigung gehabt hatte, während der Prediger und Friedrich anerkannten, daß in den Institutionen, auf deren Grundlage die Brüdergemeinschaften gegründet worden, jene Idee der allgemeinen Gleichheit wesentlich vertreten sei, aus der seit der ersten französischen Revolution mehr oder weniger alle politischen Bewegungen hervorgegangen waren, und die zur Geltung zu bringen, also die Aufgabe der Zukunft sein werde.

Plessen betheiligte sich bei diesen Erörterungen in keiner Weise. Er war still in sich versunken, und auch Cornelie war schweigsam. Erst als man das Cabinet verließ, um in einem andern Zimmer die Abendmahlzeit einzunehmen, welche der Prediger mit Gebet einsegnete und beschloß, fanden jene Beiden ihre gewohnte Fassung wieder, und das Gespräch wendete sich nun erst der praktischen Thätigkeit des Vereines, dann Gegenständen von allgemeinem Interesse zu, wobei die Bedeutung der Kunst für die Erhebung der Seele zu Gott, in vielfache Betrachtung kam, weil die Gräfin sie zu den geistigen Elementen zählte, die wir unter uns anzubauen und zu pflegen hätten, während Cornelie sie, als der Sinnenwelt angehörend, verwarf, und darauf bestand, daß man das Christusbild aus dem Betcabinette entfernen, und höchstens ein einfaches Kreuz an seine Stelle setzen solle, denn es stehe geschrieben: »die ihn anbeten, sollen ihn im Geiste und in der Wahrheit anbeten.«

Die ganze Art der Unterhaltung aber hielt die Theilnahme der Freunde unablässig in würdiger Weise beschäftigt, und Friedrich kehrte am Abende mit einer Fülle anregender Gedanken in seine Wohnung heim, in sich befriedigter als er es seit langer Zeit gewesen. In einer kirchlichen Gemeinschaft, die rein menschlichen und socialen Zwecken diente, und sich auf dem Boden des Christenthumes zum Erklären, Läutern und Verwirklichen desselben vereinte, hoffte er gefunden zu haben, was er so lange gesucht hatte. Die abstracte, speculative Philosophie entsprach seinem inneren Bedürfnisse nicht, ihre Terminologie war ihm ein Stein, den man ihm für das Brod des Lebens hinreichte, nach dem er schmachtete, ihr zersetzendes Wesen entwurzelte ihn selbst, und doch hatte er die Unbefangenheit seines früheren Glaubens seit dem Tode seines Vaters nicht mehr wieder gewonnen. Jetzt aber wähnte er, jenen naiven Glauben an das Christenthum durch diese neue poetische und mystische Exaltation für dasselbe in sich ersetzt zu fühlen. Er hatte sich es oft gesagt, daß eine andere Form gefunden werden müsse, in der das ideale Streben der Menschennatur sich genug zu thun vermöchte, und sich nach einer neuen Religion gesehnt, welche die geistigen und leiblichen Elemente nicht vereinte, (denn er betrachtete sie als gesonderte, ja einander feindliche Kräfte), sondern ihnen innerhalb ihres Kreises den ihnen nöthigen Spielraum gönnte, nach einer Religion, die, wie der Monotheismus der Juden und der Mahomedaner, Gott zum Lenker und einzigen Gesetzgeber auch auf Erden machte. Die Trennung der Religion und ihrer Vorschriften von den staatlichen Gesetzen sah er als eine Quelle unserer meisten Uebel an, und schon lange hatte ihm der Gedanke an eine neue Reformation vor der Seele geschwebt, durch welche die Religion und das Staatsgesetz in sich einig und unzertrennlich werden sollten, so daß die Priester zugleich Vertreter des Gesetzes, und der von ihnen ertheilte Religionsunterricht die Erziehung für dies eine untheilbare Gesetz werden mußte. Diese Ideen den Freunden mitzutheilen, sie mit den ihren auszutauschen und zu berichtigen, lag ihm sehr am Herzen, und wie man in dem engvertrauten Kreise sich dem Studium der Zinzendorf'schen Werke überließ, so wendete er seine ganze Aufmerksamkeit den Schriften St. Simon's und Fourier's zu, um ihre auf Theokratie gegründeten Vorschläge zu einer neuen Gesetzgebung und Umgestaltung der socialen Verhältnisse im Interesse der Gemeinde der Heiligen kennen zu lernen.


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