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Plessen kehrte schwermüthig in seine Wohnung heim. Er öffnete das Fenster und schaute lange in die Nacht hinaus.
Der Winter war wieder vorüber, die scharfen Ostwinde, welche den Nerven des Kränkelnden stets eine gewisse Spannkraft gaben, hatten einem feuchten Westwinde Platz gemacht, der nach den kalten Tagen verhältnißmäßig warm erschien, und das Aufthauen des Eises beförderte. Die Wolken hingen schwer in der Luft, nur hie und da flimmerte ein Stern mit mattem Strahl hervor. Leise und gleichmäßig tropfend fiel das Wasser des schmelzenden Schnees von den Dächern nieder, bis sich dann und wann größere Schneemassen loslösten und mit dumpfem Schlage auf die Straßen und Gehöfte herunter fielen. Die Laternen, vom Winde bewegt, schaukelten sich knarrend an ihren Ketten und glänzten trüb aus den Lachen wieder, die sich zwischen dem Eise zu bilden anfingen, die Straßen waren öde und leer, die einzelnen Windstöße zogen leise pfeifend durch die Stille.
Plessen hatte sich schon den ganzen Tag unter dem üblen Einfluß dieser Witterung befunden. Er fühlte auch jetzt ihre nachtheilige Wirkung auf sich, und blieb doch, eben weil er so ermattet war, mit schlaffer Gleichgültigkeit im Fenster liegen. Aber es war nicht die äußere Atmosphäre allein, die ihn bedrückte. Seine eigene Lage und die Verhältnisse seiner Umgebung fingen an ihn zu beunruhigen.
Er konnte es sich nicht mehr verbergen, daß er sich in Zuständen bewegte, welche seinen Ansichten entgegen waren, daß er auf einen Weg geleitet worden war, den er nicht selbst bestimmt hatte. Seine Natur war in ihrer seelischen Anlage eine durchaus weibliche. Gefühlvoll, schwärmerisch, weichherzig und doch begierig zu herrschen, rastlos thätig im Kleinen und voll Scheu vor großen Unternehmungen, die eine lange Ausdauer und eine starke Energie verlangen, hatte er in der glaubensseligen Frömmigkeit und in der Armenpflege, wie er sie in früherer Zeit geübt, ein volles Genügen gefunden. Diese Zufriedenheit war noch erhöht worden, seit er die Baronin und Cornelie kennen gelernt, und, wie es solchen Männernaturen meist zu geschehen pflegt, grade durch seine Hülfsbedürftigkeit und Schwäche eine große Herrschaft über die kräftige Cornelie gewonnen hatte.
Aber es war ihm gegangen wie dem Zauberlehrling, welcher die heraufbeschworenen Kräfte nicht zu bannen weiß und darum endlich ihrer Uebermacht erliegen muß. Er hatte Cornelien in seine Richtung hineinverlockt, an seiner Hand war sie die ersten Schritte auf dem neuen Wege gegangen, jetzt hielt sie diese Hand fest in der ihren, und riß ihn mit sich fort auf Pfade, die er niemals zu betreten gedacht hatte. Die Hoffnungen, welche er als fromme Wünsche ausgesprochen, die Gedanken, die er über eine Wiedergeburt der ursprünglichen christlichen Kirche gehegt, hatten ihm zu einer inneren Erhebung gedient, ohne daß er sich selbst die Fähigkeit zutraute, sie zu verwirklichen. Cornelie aber vermochte es bei ihren Anlagen nicht zu begreifen, wie man etwas wünschen oder als Recht erkennen, und nicht mit aller Kraft nach der Ausführung seiner Wünsche und Ueberzeugungen streben könne. Sie war die That von seinen Gedanken, und mit einem unheimlichen Gefühle empfand er, daß er lange aufgehört habe, Herr seines eigenen, geschweige denn Herr über Corneliens Willen zu sein.
Es hatte ihm Nichts geholfen, daß er besorgt auf das Treiben des Predigers und der Gräfin hingewiesen, daß er Cornelie beschworen, nicht weiter zu gehen und die neue Gemeinde nicht zum Gegenstande einer Aufmerksamkeit zu machen, welche ihre Anhänger in Zwiespalt mit der öffentlichen Meinung bringen und die Erbauung einzelner Freunde zu einem Gegensatze gegen die herrschende Küche erheben konnte. Cornelie hatte in diesem Zaudern und Warnen nur eine Folge seiner Kränklichkeit gesehen, die ihn vor gewaltsamen Anstrengungen zurückschrecken ließ, und mit der Liebe, die sie für ihn fühlte, hatte sie, ihn fortzutragen über jeden Zweifel, fast immer die Thaten ausgeführt, die er ihr als bedenklich vorgestellt. So hatten seine Schwäche und ihre Energie sich gegenseitig fortgerissen, und Plessen war seit lange dahin gekommen, die überreizte Inbrunst der Andachtsübungen zu tadeln, denen er sich nicht zu entziehen vermochte und die ihn durch die Exaltation der Freunde immer wieder fanatisirten, wenn er sich ihnen überließ.
So war es ihm in gewissem Sinne willkommen gewesen, als der Baron sich gegen Corneliens Zusammenhang mit der neuen Gemeinde erklärte. Er hatte sogar versucht, die Freundin zur Fügsamkeit in den Willen des Vaters zu überreden, und sich und sie auf diese Weise von dem Prediger und der Gräfin allmählich zu entfernen gehofft, aber seine Vermittlung, seine Versöhnlichkeit waren mit Entrüstung zurückgewiesen worden. Weil Plessen ihr gegenüber nicht den Muth besaß, sich offen gegen das Treiben des Predigers zu erklären, hatte Cornelie in seinen Ermahnungen zum Gehorsam nur eine Besorgniß für ihr häusliches Verhältniß gesehen, und zum Beweise, daß es ihr nicht an der nöthigen Kraft gebreche, dem väterlichen Willen Widerstand zu leisten, sich nur noch fester mit den Freunden verbunden, von denen Plessen sie zu trennen wünschte.
Oft schon hatte er daran gedacht, sich durch einen raschen Entschluß zu befreien, den Ort zu verlassen, und sich ohne weitere Erklärung, von der Gemeinde durch diese Thatsache loszusagen. Aber er wollte sich nicht von Cornelie trennen, sie nicht ganz den Einflüssen Preis geben, die er für verderblich hielt.
Die ganze Reihenfolge dieser Erfahrungen und Gedanken kam ihm heute mehr als jemals traurig vor, und doch gab es nur einen Ausweg, sich diesem Labyrinthe zu entziehen, eine Ehe mit Cornelie, auf die zu dringen ihm bisher der Muth gefehlt. Er hatte Scheu getragen vor der Gewalt, welche sie über ihn ausübte, und vor dem Widerstande des Vaters, auf den er rechnen mußte.
Er wußte sich keinen Rath und war so müde vom Denken, so aufgeregt von den sich rastlos kreuzenden Vorstellungen, daß sein Kopf ihm brannte, die Adern in seinen Schläfen fieberhaft klopften, und er sich endlich, zusammenschauernd unter der feuchtkalten Nachtluft, vom Fenster entfernte. Er schloß die Vorhänge, legte sich nieder, konnte jedoch nicht schlafen.
Es giebt keine tiefere Abspannung als die, welche wir nach einer in unentschlossenem Brüten durchwachten Nacht empfinden. Plessen kam sich am Morgen wie zerbrochen vor, und doch wußte er, daß diese inneren Kämpfe damit ihr Ende nicht erreicht hatten. Er wollte sein gewohntes Morgengebet verrichten, und auch dazu fehlten ihm Schwung und Kraft.
»Einen Entschluß!« rief er, die Hände faltend, »nur einen Entschluß!« und so inbrünstig war dieser Ruf, daß sich an ihm die Möglichkeit des Betens entzündete. Das machte ihn ruhiger. Er schüttete sein Herz aus vor dem Gotte, auf dessen Beistand er vertraute. Er flehte ihn an, ihm ein Zeichen zu senden.
Da klopfte es an seine Thüre, er rief herein und Cornelie stand vor ihm.
»Das also ist Dein Wille!« rief er feierlich, nachdem er einen Augenblick schweigend und betroffen vor ihr stehen geblieben war. Dann trat er ihr entgegen und bot ihr die Hand, ohne weiter Etwas zu sagen.
Cornelie konnte sich sein Betragen nicht erklären. Sie glaubte ihn durch ihr Erscheinen betroffen, denn sie war nie zuvor in seiner Wohnung gewesen.
»Warum sind Sie so bestürzt?« fragte sie ihn. »Sie machen es wie die Weltmenschen, die sich über das Natürlichste immer am Meisten verwundern. Ich habe schon zwei Besuche bei unseren Kranken gemacht, und da ich bei Ihnen vorüberging, kam ich herauf, denn ich muß Sie sprechen!«
Während dieser Worte hatte sich Plessen von dem Eindrucke erholt, den eine nach seiner Meinung so sichtbare Einwirkung Gottes auf ihn gemacht hatte, und nachdem er die Freundin zum Sitzen genöthigt, sagte er: »Ich habe in dieser Nacht mich viel mit Ihnen beschäftigt, theure Cornelie!«
»Auch ich habe Ihrer gedacht!« fiel sie ihm in's Wort, »und deshalb komme ich zu Ihnen.«
Sie hielt einen Augenblick inne, als überlege sie noch Etwas, dann fuhr sie fort: »Der gestrige Abend hat einen Entschluß in mir zur Reife gebracht, mit dem ich mich schon lange herum getragen habe. Es kann Ihnen nicht unbemerkt geblieben sein, daß mein Vater mit dem Doctor ein förmliches Bündniß geschlossen hat, mich von der Unwahrheit des Heiligsten zu überzeugen. Wie unwirksam diese Unternehmung auf mich ist, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. – Aber sie peinigen mich mit ihren Erklärungen, ich bleibe in einem beständig gereizten Zustande und habe Stunden, in denen ich mich förmlich erbittert gegen meinen Vater fühle. Das darf nicht in mir aufkommen. Diese Nacht habe ich mich fest entschlossen, das Vaterhaus zu verlassen!«
»Und das sagen Sie mir, Geliebteste!« rief Plessen sehr bewegt, »mir, und grade in diesem Augenblick?«
»Wem sollte ich mich sonst vertrauen?« entgegnete sie mit ruhiger Sicherheit. »Sie stehen mir am Nächsten und haben eine ausgebreitete Bekanntschaft. Schaffen Sie mir in einer Familie von unserer Gesinnung außerhalb der Vaterstadt die Möglichkeit, ungestört mir selbst zu leben!«
Plessen traute sich selber nicht, so wunderbar kamen die Worte seiner Freundin seinen Absichten entgegen. Er glaubte die höhere Fügung nie in solcher Deutlichkeit erlebt zu haben, und näher an Cornelie heranrückend, sagte er: »Auch ich habe grade gestern Abend und heute früh daran gedacht, mich von hier zu entfernen – aber nicht allein! Gehen Sie mit mir, Cornelie!«
Sie sah ihn nachdenklich an und fragte dann mit mildem Tone, in dem die Bangigkeit vor einer Trennung hörbar durchklang: »Wohin wollen Sie gehen?«
»Ich habe seit langer Zeit die Neigung gehabt, mich nach Gnadenfrei zu wenden und dort in schlichteren Verhältnissen, als die Gesellschaft sie bietet, in der wir uns bewegen, Ruhe bei einfacher Thätigkeit, und in der Ruhe Freiheit des Geistes zu suchen. Ich fühle mich sehr müde, es ist mir als würde ich nicht mehr lange leben – und am Abend sehnt man sich nach Stille, um friedensvoll sich vorzubereiten für den sanften, erlösenden Schlaf der Nacht!«
Corneliens Fassung schmolz dahin vor dem Gedanken, den Freund zu verlieren. Sie reichte ihm die Hand und bat: »Sprechen Sie nicht so! ich kann's nicht hören.«
Er sah ihr in's Auge, sie weinte. Da flog eine leichte Röthe über sein bleiches Gesicht und mit allem Zauber seiner weichen Stimme sagte er: »Ich habe lange in mir nach einem Entschluß gerungen und konnte ihn nicht finden, bis ich mich im Gebet zu ihm gewendet habe, von dem allein die Wahrheit kommt. Und als ich ihn heute früh anflehte, mir den Weg meiner Zukunft vorzuzeichnen – da sind Sie eingetreten, die meine Gedanken suchten und mieden, und die der Herr mir so sichtbar zugeführt hat.«
Er hielt inne. Corneliens Hände ruhten in den seinen, ihre Augen hingen an ihm. Er war ihr so nahe, daß sie den warmen Hauch seiner Lippen empfand, und leise flüsternd sagte er: »ein Loos, wie die Weltkinder es nennen, habe ich Ihnen nicht zu bieten. Ich bin einsam und krank und der Weg vor mir wird nicht lange sein. Aber Sie sind mir das Licht der Tage und der Stern der Nacht! Ich bedarf Ihrer, Cornelie! Gott selbst hat Sie mir in meinen Pfad geführt. Werden Sie mein Weib!«
Sie war nicht betroffen durch seinen Antrag, sie bedurfte auch keiner Ueberlegung. »Ja! das will ich!« sagte sie. »Ich will Ihr Weib werden!« Aber diese Antwort war so ruhig und bestimmt, daß sie ihn anfröstelte, daß er es nicht wagte, Cornelie an seine Brust zu schließen, wozu es ihn doch drängte.
Sie saßen einander schweigend gegenüber. Cornelie, wie Jemand, der reiflich die Ausdehnung der Verpflichtungen erwägt, welche er übernommen hat, Plessen unter dem Mißempfinden getäuschter Erwartung. Endlich wendete sie sich zu ihm, legte ihren Arm um seinen Hals, zog ihn an sich, wie man ein Kind an seinen Busen drückt und sprach: »Hier sollen Sie ruhen! hier Frieden finden. Und wenn der Kampf des Lebens naht, so will ich mich mit Gottes Hülfe zwischen den Kampf und Dich stellen – und Deine Tage sollen Ruhe sein und Frieden, damit sie mir erhalten bleiben lange Zeit!«
Sie küßte ihn auf Stirne und Mund, indeß selbst ihre Zärtlichkeit hatte etwas Mütterliches, das ihm eben so peinlich war, als die beschützende Versicherung ihrer Liebe, die sie ihm gegeben hatte. Die gottgesandte, gottergebene Braut verletzte sein Selbstgefühl, beleidigte ihn als Mann. Sie war ihm nicht Weib genug in diesem Augenblick. Seine Scheu vor einem dauernden Beisammensein, vor einer Ehe mit ihr wurde in der Stunde der Verlobung mächtiger als je zuvor, und erst als sie gemeinsam das Haus verließen und auf der Straße sich im Freien neben einander bewegten, fühlte er sich weniger beängstigt und mehr sich selbst zurückgegeben.
Dicht vor ihrer Thüre kamen ihnen der Doctor und Friedrich entgegen, aber die Verlobten bogen schnell in eine Seitengasse ein, weil sie nicht aufgelegt wann, mit Jenen zusammen zu treffen. Der Doctor bemerkte es, und mit einer ihm ganz fremden Heftigkeit rief er: »Es ist ein wahres Unglück, daß der Mensch das Mädchen so in den Händen hat!«
Dann, nachdem sie ein Ende weiter gegangen waren, trennte er sich plötzlich unter einem Vorgeben von seinem Begleiter, wendete um und begab sich in das Haus, welches Plessen bewohnte. Er wollte wissen, ob noch andere Mitglieder jener Secte in demselben lebten, ob Cornelie diesen einen Besuch gemacht haben könne, oder ob sie bei Plessen gewesen sei. Das Nachforschen ward ihm durch eine Familie erleichtert, deren Arzt er einst gewesen war. Es konnte ihm kein Zweifel bleiben, daß Cornelie sich über die Ansichten ihres Vaters, über die allgemeine Sitte fortgesetzt, daß ihr Besuch Herrn von Plessen gegolten. Das verdroß und freute ihn zugleich. Er hatte von ihrer Kindheit an den selbstständigen Charakter in ihr geliebt, und oft daran gedacht, was aus einer solchen Frauennatur bei vernünftiger Leitung werden könne. Indeß seine Scheu, in den Entwicklungsgang eines Menschen einzugreifen, hatte ihn gehindert, sich mehr und angelegentlicher mit ihr zu beschäftigen. Jetzt warf er sich diese Scheu als ein großes Unrecht vor. Er hatte Gründe, der religiösen Richtung des Kreises zu mißtrauen, in dem Cornelie sich bewegte. Er wußte, daß mit einer Warnung in diesem Falle jetzt nichts mehr ausgerichtet werden konnte. Er sagte sich, daß allein sein Schweigen und Zögern ihn der Mittel zur Wirksamkeit beraubt habe, und daß also – – Cornelie ihm verloren sei.
Er hielt inne bei diesem Gedanken; denn er war ihm neu.
»Cornelie mir verloren!« wiederholte er sich. »Mir verloren? Also hätte ich nach ihr verlangt?« –
Er bedurfte für sich keiner Antwort auf diese Frage, aber er machte die Bemerkung, daß auch in seinem Geiste, daß auch in dem Herzen eines sich selbst beobachtenden Mannes, Geheimnißvolles, Verborgenes wachsen und gedeihen könne, ohne daß er's fühle.
Ja! er liebte Cornelie, er hatte sie immer geliebt, aber er gestand es sich zum ersten Male, sie sei das einzige Mädchen gewesen, das er gewählt haben würde, hätte er daran gedacht, sich zu vermählen. Die Entdeckung dieses Gefühls machte ihn weiter nicht betroffen. Gefaßt wie immer nahm er es als eine Thatsache, als eine Wahrheit in sein Leben auf, mit der er auf die eine oder die andere Weise fertig werden müsse, und bald nannte er sich kleinmüthig, daß er einen Augenblick der Vorstellung Raum gegeben, Cornelie sei ihm verloren, ehe er noch versucht habe, sie zu gewinnen.
Seine Gedanken verweilten mit großer Innigkeit bei ihr. Er kam sich verantwortlich für sie vor, und nie, seit den Tagen seiner ersten Jugend, hatte er sein Herz so weich und sanft bewegt gefühlt, als jetzt, da er die Sorge für ein Weib in seine Seele aufgenommen hatte, das er mit der ernsten Liebe des reifen Mannes zu beschützen und zu gewinnen wünschte.