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Heinrich Lersch, der Sänger des deutschen Krieges

von Julius Bab

Ich weiß wohl, daß es einigermaßen kühn ist, einen einzigen aus der ungeheuren Schar der deutschen Kriegspoeten herauszugreifen und ihn mit überragendem Ehrentitel zu nennen »den Sänger des deutschen Krieges«. Aber gerade weil es das Schicksal gewollt hat, daß ich die Tausende und Millionen deutscher Kriegsgedichte, die begabten und die unmöglichen, die dilettantischen und die artistischen, die widerlichen und die liebenswürdigen, die künstlerischen und die gewerblichen, in ihrer ganzen unermeßlichen Menge vollständiger sammeln und prüfen mußte, als die meisten andern Zeitgenossen, gerade deshalb wage ich es, und nenne diesen einen, Heinrich Lersch, und nur ihn: den Sänger des deutschen Krieges! Das reinste und stärkste Geschenk, das die singende Kraft der deutschen Volksseele auf die ungeheure Ansprache des Kriegs hergab. Gewiß, ein paar von Deutschlands starken Dichtern, die wir schon vorher ehrten, Dehmel, Dauthendey, Hesse und andere, haben jeder von seiner besonderen Lebenssituation aus ein paar mächtige Verse, auch liedhafte sind darunter, zum Kriege gegeben; merkwürdige Talente, wie der fast allzu kunstreiche phantasievolle Balladendichter Albrecht Schäffer, der großzügig leidenschaftliche eisern-sachliche Rhetoriker Josef Winckler, der visionär-pathetische Leo Sternberg, wie Karl Bröger, der mit edlem Pathos die Gesinnung des deutschen Arbeiters formt, sind hervorgetreten; von manchen, wie von dem schon gefallenen Hugo Zuckermann, ist ein einzelnes Lied weit durch das Volk geflogen – aber ich weiß nur einen, der als ein neuer Dichter, und zwar nicht als Erzähler und Redner, sondern als Sänger im innersten Sinn des Wortes und als Sänger mehr als eines Liedes uns vom Kriege neu geschenkt worden ist, und das ist Heinrich Lersch.

Bei Kriegsausbruch lief ein Lied von Heinrich Lersch durch alle deutschen Blätter und tief in das Volk hinein. Das war der »Soldatenabschied« mit dem Kehrreim »Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen«. Diese sehr starke und ganz schlichte Volksweise, entstanden am ersten Mobilmachungstage, blieb aber nicht, wie das bei ähnlichen erfolgreichen Liedern gar nicht selten ist, ein vereinzeltes Geschenk, das eine übermächtige Stunde einmal in ein sonst künstlerisch schwaches Gemüt legte. Es folgten kleine Hefte mit andern Gedichten von Heinrich Lersch, die bewiesen, daß hier nur das erste Aufzucken einer großen und breitbrennenden Flamme war, es folgten Gedichte, die in vollkommener Liedhaftigkeit dem berühmten »Soldatenabschied« nicht nachstanden und ihn an inhaltlicher Wucht, an sinnlicher Anschauungskraft noch weit übertrafen. Es wurde offenbar, daß in Heinrich Lersch wirklich ein großes, singendes Talent mitten aus dem Volk getreten war, vom Kriege gerufen. Heute, wo der junge Dichter im Verlage Eugen Diederichs seine Liederheftchen zu einem stattlichen Bande zusammenfaßt mit dem Titel »Herz! Aufglühe dein Blut« – heute ist es schon erlaubt und geboten, von der Gesamtansicht dieses noch durchaus unausgereiften, aber gerade deshalb größter Hoffnung zureifenden Talents sich einen Begriff zu machen.

Von Heinrich Lerschs Privatperson sind nur drei Dinge zu wissen gut: Er ist Katholik vom Niederrhein; er war bis vor Kriegsausbruch Arbeiter, Kesselschmied; er ist Soldat gewesen, hat die schreckliche Winterschlacht in der Champagne mitgemacht und wurde verwundet. –

Von seinem Katholizismus spreche ich deshalb, weil er in diesem Dichter offenbar eine durchaus lebendige Kraft ist und dann, wie es sich beim Religiösen von selbst versteht, die tiefste, die alles bewegende, den Stoff lösende, die Form bildende Kraft. Das ist aber nicht etwa so zu verstehen, als ob diese Poesie nun voll und widerstandslos nur für Katholiken zu genießen wäre; sie ist nicht an die katholische, nicht einmal an die christliche, überhaupt nicht an irgendeine kirchlich abgegrenzte Konfession gebunden. Nur in einigen wenigen Wendungen verrät es sich, daß es der besondere katholische Weg war, auf dem Lersch zu dem innersten Gott- und Weltgefühl hinabstieg, das allen Religiösen, d. h. wohl allen wahrhaften Menschen, gemein ist. Daß er religiös empfindet, d. h. daß ihm keine Erscheinungen einzeln, sondern alle in einen großen, heiligen, geheimnisvollen Weltzusammenhang gestellt sind, das gibt seinem Gefühl die Tiefe, aus der das klingende, das singende Wort aufsteigt, das hebt ihn über alle noch so starke Rhetorik, noch so leidenschaftliche Parteinahme, noch so starke Anschauung hinaus, das macht ihn zum Sänger. Denn nur im Weltmittelpunkt wohnt Gesang. – Schon jenes erste Lied, das Lersch bekannt machte, schlägt den Ton an:

Uns ruft Gott, mein Weib, uns ruft Gott!
Der uns Heimat, Brot und Vaterland geschaffen,
Recht und Mut und Liebe, das sind seine Waffen,
uns ruft Gott, mein Weib, uns ruft Gott!
Wenn wir unser Glück mit Trauer büßen:
Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!

Und in sehr vielen Gedichten klingt es dann wieder, daß Gott für Lersch die Summe all der Freuden, die man kennt, aber auch der Inbegriff aller Schmerzen und Leiden ist, durch die und in denen der Mensch reift. Deshalb ist für ihn das Vaterland als Herrlichste Offenbarung Gottes heilig, und Kampf für diese Heimat göttliches Gebot. Aber die Tiefe seines religiösen Gefühls bewahrt Lersch durchaus davor, seinen Gott zu einem Nationalgott herabzudrücken, der parteiisch die allein gerechte Sache führen soll. Ein Gedicht im Schützengraben ruft den »Kamerad Franzos«, auf den er eben geschossen hat, an:

Ich bin dein Bruder ja, bin dein Genoß;
wir sind erlöst durch eines Gottes Blut.

Dieser Gott aber stößt nicht von außen die Welt; er hält sie mit all ihrem Kampf und Streit in sich und bricht deshalb mit all seiner Liebe nicht das Naturgesetz:

Es muß so sein. Es wächst wie Gras und Baum
der Menschheit strebend Volk sich hin zum Licht;
zwei gleiche Bäume stehn zusammen nicht,
der eine frißt des andern Licht und Raum.

Diese harte, von keinem schwärmerischen Gefühl verwischte Klarheit geht in einem Gedicht, in dem die Soldaten mit Schüssen beten, mit Granaten Rosenkränze schlingen, mit Erwürgen Hände falten, bis an die Grenze des zynisch Verzweifelten – aber nur bis an die Grenze: denn dies Gedicht von »Gottes Henkersknechten« schließt doch mit einem ganz merkwürdig positiven Aufschwung:

»Und wir kreuzigen die Liebe,
daß sie euch erlösen soll.«

Hier bricht mit wirklich prophetischer Kraft der altchristliche Gedanke von der erlösenden Kraft des Leides durch: Der Gedanke, dem Hebbel in seiner »Genoveva« nachsann, wie die Menschheit gerade durch den »Mord an Gott« erlöst werden konnte, er findet hier im Grauen des Krieges, an dessen Äußerstem sich die Unzerstörbarkeit der Liebe erproben soll, eine neue Fassung. Und so kann der Gott, der auf allen Seiten und in allen Schlachten sein heiliges Dasein lebt, mitten »im Artilleriefeuer« gelobt werden:

Gott, dich lobt nun sein Tod, das Grauen, die Not und der Schmerz,
so groß bist du selbst in des Menschen elendem Herz;
du bist in der Treue, du bist im Harren, im Sieg,
dich lobt das Leben, der Tod, die Schlacht und der Krieg.

Ich glaube, daß es diese religiöse Grundstimmung, diese immer zitternde Bezogenheit auf den immer schwingenden Mittelpunkt der Welt ist, durch die Lersch im Gegensatz zu andern begabten Poeten des deutschen Krieges ein wirklicher Sänger, ein Liedersänger geworden ist. Denn das körperliche Gegenbild seiner geistigen Religiosität scheint mir im Ästhetischen sein außerordentlich musikalisches Talent, seine Fähigkeit, immer neue und immer fortreißende Rhythmen zu finden. Er machte aus dem Stampfen eines Eisenbahnzuges einen unvergleichlich fortreißenden Takt. Er bringt den Voransturm eines ganzen Heeres in Klang. Er trifft ebenso sicher ein scherzhaft tändelndes Soldatenliedchen wie den wuchtigen Marschtritt von Kolonnen; seine Sprache löst sich über den Massengräbern in eine rhythmisch taumelnde Prosa auf und strafft sich in der feierlichen Ergriffenheit der »Rückkehr aus dem Kriege« fast zu einem antiken, an Hölderlin gemahnenden Pathos. Und dabei hat er eine Fähigkeit, im durchgehaltenen Rhythmus eines Liedes doch zu variieren und zu steigern, daß ihm das sehr schwer zu handhabende Mittel des echten Liedes: die gleiche wiederkehrende Zeile am Anfang oder Ende der Strophe, meist die allervollkommensten Dienste tut.

Diese Kraft der Steigerung ist natürlich nur möglich, weil ihm die andern außermusikalischen Mittel des Dichters, die Fähigkeit, Sinnbilder zu sehen und zu finden vor allem, wie nur einem wahrhaft großen Talent zu Gebote stehen. In jenem Gedicht, das im Eisenbahnrhythmus hinbraust, wächst der Soldat, der mit Kreide an die Wagenwand schrieb: »Hoch! Von der Heimat in den Tod. Hurra!« zu einer Gesamtgestalt des ganzen deutschen Heeres auf. Und in den erschütternden Klängen jenes Gedichts, das von den Zuhausegebliebenen handelt, trifft der »leere Stuhl am Tisch«, von dem der »Tod zu höhnen« scheint, ins Herz des ganzen Heimatlebens im Kriege. Wie schön ist der schwarze Sehnsuchtsvogel aus der Heimat erfunden, der sich über den Massengräbern singend auflöst, – wie schön der Tod, der am Morgen vor der Schlacht das lange Lied singt mit den Namen all derer, die fallen sollen. Wie ergreifend gesehen und gefühlt ist jene tragische glückliche Zuversicht, mit der gerade der Todgeweihte am »Letzten Tag« das Leben umfängt: »Die Freunde wundern sich, wie schön der stirbt«.

Es ist selbstverständlich, daß Lersch diese großen Anschauungen uns nur fühlbar machen kann, weil er über das eigentlichste engste Material des Dichters, die Sprache, in der Weise der wahrhaft Begabten verfügt, weil in jeder seiner Wortverbindungen Bilder und Anschauungen wohnen. Gerade hier freilich ist die Unreife seines literarisch gar nicht geschulten Talentes leicht zu zeigen: Er geht, zumal in einigen Schauerballaden, hier und da noch mit einem trivialen, im schlechten Sinne volksmäßigen Pathos mit; er setzt zuweilen vor lauter Sachlichkeit die bare Prosa mitten in seine Verse. Aber wie groß und rein klingt das Pathos freudigen Erschreckens in einer Zeile, wie: »Mir sprang das Blut aus allen Herzenstiefen« – und wie fruchtbar wird für das Gefühl gerade im Pathos jener Rückkehr-Ode eine schlicht-wirkliche Bahnhofsszene:

O du glückliches Städtchen, dich grüß ich von deinen Söhnen aus fremdem Land!
Ihre Grüße glänzen aus meinen Augen, ihr Blick war sehnend Beneiden.
»Grüß unser Deutschland, die Heimat!« So sagten sie mir beim Scheiden,
drückend die Hand mir, winkten mir nach, bis unser Zug entschwand.

Die sichere Verfügung über eine Menge lebendiger eigener Anschauungen, die ja immer eines Künstlers letzten wichtigsten Fonds ausmachten, sie sind bei Lersch daher so bedeutend, weil er gar nicht vom Schreibtisch, sondern aus der Fabrik und aus der Schlacht kommt – deren Zusammenhang in einer mit ständigen Variationen fortgeführten Lebensschlacht er übrigens sehr stark empfindet. Er kann das Wüten der großen französischen Durchbruchsschlacht durch einen stark durchgeführten Vergleich mit einer riesigen Kesselschmiede höchst anschaulich machen, kann den Granatendreher oder den Weber aus den Bildern ihres Handwerks heraus den Krieg begreifen und besingen lassen. Er kann aus den schwersten Soldatenstunden so furchtbar anschauliche Bilder geben, wie:

»Wie schießen wir, nur gezielt, nur gezielt,
als würd nur mit ledernen Puppen gespielt.«

Und er kann aus eigenster Erfahrung die Schilderung der Hölle im Trommelfeuer gipfeln lassen, in dem Verzweiflungsgebet um ein Erdbeben oder eine tiefe Nacht –

Um so große Not, die allem Streit und Haß
zwischen den Menschen ein Ende macht.

Und das mörderische Erlebnis bleibt so fieberhaft wach in ihm, daß die Nachricht von der neuen, der Herbstschlacht im Westen ihm eine »Erinnerung« auslöst, die mit der Gegenwart des Lazaretts kaum noch scheidbar ineinanderfließt.

Weil er so ganz aus der erlebten Wirklichkeit und aus dem tiefen, Wirklichkeit deutenden religiösen Gefühl kommt, hat Lersch so gar nichts von den Phrasen, dem Literatenpathos, das bei so vielen Leuten von schwachem Erleben Gefühl und Geist ersetzt. Vor allen Dingen der zeitungsmäßige Haß auf den bösen, gemeinen Feind ist ihm ganz fremd. Die Größe des Krieges erschüttert ihn gerade deshalb, weil er im Franzosen den Schicksalskameraden spürt, der auch »für seines Tuns Gerechtigkeit sieht«, und weil er weiß: »Es hat ein jeder Toter des Bruders Angesicht«. Und wie das tragisch gewandte Gefühl der Menschlichkeit, so verläßt diesen der Pflicht ernst hingegebenen Krieger doch auch die leidenschaftliche Friedenssehnsucht nie. Mit dem Frühling der Natur erwacht sie doppelt in ihm. Im Mai bekennt er: »Nichts ist so bitter auf der Welt, als jetzt Soldat zu sein«, und das erschütterndste seiner Gedichte ist vielleicht das von dem Kameraden, der nach einem treu und stumpf getragenen Kriegswinter vom ersten Lerchenlied rettungslos in Traum und Trauer geschleudert wird:

»Er hörte auf kein Kommando, nicht, wenn ein Schrapnell zersprang,
kein Schießen, kein Stürmen, kein Rufen – nur: daß die Lerche sang.«

Und so steigt ihm auch mitten aus der Nacht des wütenden Artilleriekampfes die fast apokalyptische Vision des verzweifelnden Christus auf, der sich zwischen den feindlichen Gräben erhängt und durch diesen neuen Opfertod die Kämpfer hüben und drüben hinreißt, sich in einem Sturm, einer Raserei, einer Orgie des Friedensjubels zu umarmen.

Ich glaube, daß dieser stärkste Sänger, den die Erschütterung des Krieges aus der Mitte und der Tiefe unseres Volkes emporgehoben hat, in seiner Frömmigkeit, in seiner Wahrhaftigkeit und nicht zum wenigsten in seiner nie versagenden Menschlichkeit im besten und tiefsten Sinne ein Deutscher ist, und daß wir Deutschen stolz sein können, daß dieser treue und begeisterte Soldat, dieser kräftige und wahre Arbeiter, dieser reine und fromme Christ als unser schlichtester und stärkster Sänger sein größtes Kriegslied mit den Worten schließt:

»Ich hör das Friedenslied die Kugeln singen.«

In dir, Leser,
pulst Leben, Stolz und Liebe
genau wie in mir.
So seien auch dir diese Lieder geweiht.

Walt Whitman


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