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Die Presse steht während des Krieges unter der Diktatur der Zensur. Zustände in den Ländern unserer Verbündeten, die uns unbequem sind oder deren Bekanntwerden unserm politischen Interesse widerstreitet, können öffentlich nicht erörtert werden. Die Wahrheit kann nicht immer gesagt werden. Unwahrheiten können nicht widerlegt werden. Halbwahre Dinge zu sagen, hat keinen Wert. Diejenigen, die am besten unterrichtet sind, sind am wenigsten in der Lage, zu reden. Ihre Mitteilungen würden ohne weiteres der Zensur verfallen. Da aber das Publikum von Dingen, über die man nicht reden darf, doch etwas läuten hört, so kann es nicht ausbleiben, daß sich die Phantasie die Möglichkeiten so zurecht legt, wie sie uns am bequemsten sind. Der Wunsch wird der Vater des Gedankens. Vermutungen werden für Informationen, Erfindungen für Tatsachen genommen. Solange der Krieg dauert, muß man diese Übelstände hinnehmen. Durch die natürliche Verstopfung der Quellen und die künstlichen Verschüttungen der Zensur wird der Nachrichtendienst aus dem Auslande in ein schmales Rinnsal eingedämmt, das oft genug ganz versiegt. Überall aber, wo die Presse auf Selbstzucht hält, wird sie es verschmähen, die Lücken ihrer Kenntnisse phantasievoll auszufüllen und rücksichtslos wird sie der Verbreitung von Lügen, selbst wenn sie unserem politischen Interesse schmeicheln, entgegentreten.
Auch im Kriege erringt man, wie die Presse unserer Gegner zu ihrem Leidwesen erfahren hat, durch Lügen keine Siege.
Was von der Presse gilt, gilt natürlich auch von der Broschürenliteratur.
In der Beurteilung der armenischen Frage stand, wie sich jeder überzeugen konnte, der die deutsche Presse verfolgt hat, den Verfassern von Zeitungsartikel und Broschüren eigenes Material nicht zur Verfügung. Der einzige Stoff, der verarbeitet wurde, waren die wenigen türkischen Communiqués, von denen von vornherein angenommen werden mußte, daß sie in militärischem und politischem Interesse eine lückenhafte und einseitige Darstellung der Vorgänge gaben. Die deutsche Presse hatte keine Möglichkeit, diese Darstellung nachzuprüfen. Von vornherein war sie geneigt, alle für den Bundesgenossen vorteilhaften Nachrichten zu glauben und alle Nachrichten, die weniger schmeichelhaft waren, zu unterdrücken. So war es dem türkischen Pressebureau bequem gemacht, für die Außenwelt einen Schleier über die Vorgänge im eigenen Lande zu werfen und nur diejenigen Auffassungen, die ihr bequem waren, in die Presse der verbündeten Mächte zu lancieren.
Die deutsche Presse hat pflichtschuldigst in den ersten Monaten des Krieges die anerkennenden Urteile und die Lobeserhebungen der türkischen Presse über die Haltung der Armenier abgedruckt und hat ebenso in den späteren Monaten die türkischen Communiqués (meist ohne Kommentar) wiedergegeben. Die türkischen Communiqués behaupteten zuerst auch nur, daß einzelne Armenier landesverräterische Handlungen begangen hätten, wie das auch bei Muhammedanern vorgekommen sei, zugleich aber bezeugten sie ausdrücklich, daß die Maßnahmen der Türkei » nicht eine gegen die Armenier gerichtete Bewegung darstellen« und » mit der größten Mäßigung und Gerechtigkeit angewendet würden«, auch daß die armenische Bevölkerung » in Ruhe ihren Geschäften nachgehe und sich der größten Sicherheit erfreue«. Noch am 27. August 1915 setzte der türkische Generalkonsul in Genf allen Nachrichten über Verfolgungen der Armenier in der Türkei ein formelles Dementi entgegen und versicherte, daß » die gesamte armenische Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder, sich in vollständiger Sicherheit des Schutzes der Behörden erfreuten«. Natürlich nahm man in der deutschen Presse gern von diesen Versicherungen der befreundeten Macht Kenntnis und schenkte ihnen das gebührende Vertrauen.
Als dann im August und September in Amerika die ersten Berichte über die vernichtenden Maßregeln der türkischen Regierung gegen die Armenier veröffentlich wurden, fanden sie in der deutschen Presse keinen Glauben. Man gab sie für böswillige Erfindungen aus, und beschuldige in erregter Weise die Amerikaner, sie wollten durch solche Bluffs nur Deutschland Knüttel zwischen die Beine werfen. Natürlich fehlte es auch nicht an solchen, die die Berichte der amerikanischen Presse für englische Lügenfabrikate ausgaben. Hätte man die Berichte gekannt, so hätte man diese Beschuldigungen unterlassen. Die englischen Berichte gaben ausschließlich die amerikanischen Quellen wieder.
Die amerikanischen Berichte sind von einem Komitee herausgegeben worden, dem Männer angehören, die auch in Deutschland großes Vertrauen besitzen. Die Berichte enthalten nur Mitteilungen von Augenzeugen, hauptsächlich von Konsuln und Missionaren, und beschränken sich auf die Darstellung von Tatsachen, ohne in die Erörterung der politischen Seite der Frage einzutreten. In den 25 umfangreichen Berichten, die publiziert worden sind, findet sich nur ein einziger Satz (im Bericht des amerikanischen Konsuls von Aleppo), in dem »die Deutschen« getadelt werden, daß sie die Vernichtung der armenischen Rasse zugelassen hätten. Man konnte in Amerika nicht wissen, daß Deutschland wiederholt die schärfsten Proteste gegen das Vorgehen der türkischen Regierung eingelegt hat. Es hat damit ebensowenig erreicht, wie Amerika durch seine Proteste. Der Grund dieser Mißerfolge kann hier nicht erörtert werden. Die unwürdige Verleumdung, daß deutsche Konsuln die armenischen Massakers geleitet oder ermutigt hätten und daß der deutsche Konsul Dr. Rößler in Aleppo sich nach Aintab begeben habe, um dort in eigener Person die Massakers zu leiten, stammt weder aus Amerika noch aus England, sondern geht auf die Aussage eines syrischen Flüchtlings (Mitteilung aus Kairo vom 30. September) zurück, die vom »Temps« am 1. Oktober 1915 veröffentlicht und von der französischen Presse verbreitet wurde. Wir haben bereits oben darauf hingewiesen, daß von armenischer Seite den deutschen Konsuln und speziell Dr. Rößler das beste Zeugnis ausgestellt und vollste Anerkennung für ihre menschenfreundliche Tätigkeit ausgesprochen worden ist.
Die Berichte des amerikanischen Komitees bezweckten ausschließlich eine Hilfeleistung für die deportierten und verhungernden armenischen Frauen und Kinder und sind frei von jeder politischen Tendenz. Es sind auch bereits 200 000 Dollar, die gesammelt wurden, der amerikanischen Botschaft in Konstantinopel für die Notleidenden zur Verfügung gestellt worden. Der amerikanische Botschafter Mr. Morgenthau in Konstantinopel war es, der dem Minister des Innern Talaat Bey und dem Kriegsminister Enver Pascha den Vorschlag machte, die gesamte armenische Bevölkerung der Türkei, einschließlich der Armenier von Konstantinopel, nach den Vereinigten Staaten überzuführen. Es wäre sicherlich besser gewesen, diesen wohlgemeinten Vorschlag anzunehmen, statt die armenische Bevölkerung dem Untergange preizugeben. Amerika würde sich glücklich geschätzt haben, ein so arbeitsames und strebsames Volk wie die Armenier der Türkei aufzunehmen und es würde von einer solchen ebenso klugen als menschenfreudlichen Handlungsweise denselben Segen gehabt haben, wie Preußen von der Aufnahme der französischen Réfugiés und der Salzburger Emigranten. Leider ist die türkische Regierung auf den Vorschlag nicht eingegangen, sondern hat es vorgezogen, die Frauen und Kinder der Armenier zu Hunderttausenden in die Wüste zu schicken.
Auch in Deutschland wurde, nach der ersten unbegründeten Aufregung über die amerikanischen Berichte, – die inzwischen in ihrem vollen Umfange durch deutsche Quellen bestätigt wurden, – unter der Hand die Wahrheit der Tatsachen bekannt, und die große Presse, die sich auch in der Kriegszeit ihrer Verantwortung gegenüber der Wahrheit bewußt geblieben ist, zog es mit wenigen Ausnahmen vor, über die armenische Frage zu schweigen, weil die Zensur mit Rücksicht auf die Türkei die öffentliche Erörterung der Frage nicht gestatten konnte.
Auch die Broschürenliteratur hat sich in bezug auf die armenische Frage Zurückhaltung auferlegt. Nur ein Pamphlet, das unverdiente Beachtung gefunden hat, bedarf der Widerlegung. Es ist dies die Broschüre von C. A. Bratter: Die armenische Frage. Berlin SW. 11, Concordia, Deutsche Verlagsanstalt. 1915. Auf dem Umschlage wird Herr Bratter als »Angehöriger eines neutralen Staates und als deutscher Journalist« charakterisiert. Er ist amerikanischer Untertan.
Zu anderen Zeiten würde es nicht verlohnen, von dieser Broschüre Kenntnis zu nehmen, denn nach dem Kriege werden ohnehin alle derartigen Augenblicksprodukte Makulatur sein. Es hat höchstens ein gewisses psychologische Interesse, an einem kleinen Musterbeispiel zu zeigen, wie man es macht, um mit der Miene eines Sachkenners über Dinge zu schreiben, von denen man nichts weiß.
Offenbar ist der Verfasser zu seinem Elaborat durch den in den großen Schweizer Blättern Mitte Oktober veröffentlichten Aufruf zugunsten der Armenier, den er auf Seite 18 abdruckt, gereizt worden, denn die kurze Broschüre (38 Seiten Text) beschäftigt sich auf 3 Seiten mit diesem Aufruf und läuft in eine Apostrophe an »die Schweizer Herren« aus. Der Schweizer Aufruf enthält sich jeder politischen Parteinahme und jeder Anspielung auf eine Mitverantwortlichkeit Deutschlands, wie sie sonst in der Ententepresse geflissentlich betont wird, und vertritt ausschließlich die Interessen der Menschlichkeit. Er lautet:
»Während der Krieg die Aufmerksamkeit der ganzen Welt beschäftigt und alle Kräfte der europäischen Großmächte in Anspruch nimmt, gehen in der Türkei Dinge vor sich, die selbst in unserer an das Schreckliche gewöhnten Zeit furchtbar sind und das, was früher schon dort geschah, noch hinter sich lassen.
Es handelt sich um nichts weniger als die systematische Ausrottung eines ganzen christlichen Volkes, der Armenier, welche jetzt ins Werk gesetzt wird, weil die vollständige Herrschaft des Islam im türkischen Reich durchgeführt werden soll.
Schon Hunderttausende von Armeniern sind entweder hingemordet oder müssen aus ihrer Heimat verschleppt, in den Steppen Mesopotamiens oder anderer Gegenden elend verderben. Eine große Zahl namentlich von Frauen und Kindern ist gezwungen worden, den Islam anzunehmen.
Diese Tatsachen sind festgestellt durch bestimmte Aussagen und Berichte von in jeder Hinsicht einwandfreien Personen, welche ihre Kenntnisse aus eigner Anschauung haben.
Die Unterzeichneten wollen nicht nur das Schweizervolk um Gewährung tatkräftiger Hilfe bitten zur Linderung der Not, welche unter den Überlebenden des unglücklichen armenischen Volkes herrscht. Sie fühlen sich auch verpflichtet, vor aller Welt auf diese Vorgänge aufmerksam zu machen und sich an die öffentliche Meinung aller Länder zu wenden, damit zum Schutz der überlebenden Armenier unverzüglich getan wird, was gegenwärtig in Konstantinopel noch getan werden kann.«
Um die Tendenz des Aufrufs als deutschfeindlich zu verdächtigen, schreibt Herr Bratter: »Der Aufruf trägt die Unterschrift von hundert Personen, zumeist Professoren und Geistlichen aus der Schweiz, der Mehrzahl nach allerdings aus der uns feindlich gesinnten Westschweiz.« Hierauf erwidert Dr. H. Christ-Socin in den »Baseler Nachrichten« vom 18. Dezember 1915:
»Seltsam berührt es, daß der Verfasser behauptet, von den hundert Unterschriften des Aufrufs stamme die Mehrzahl ›aus der uns feindlichen Westschweiz‹. Abgesehen davon, daß in Wahrheit bloß deren 30 der Westschweiz, 32 der Ostschweiz und der Rest der Zentral- und Nordschweiz angehören, ist der durch diese Bemerkung vom Verfasser betonte Zusammenhang der schweizerischen Sympathien für die leidenden Armenier mit irgendwelcher Deutschfeindlichkeit eine glatte Erfindung, denn nichts lag den allen möglichen politischen Schattierungen angehörenden Unterzeichnern des Aufrufs ferner, als gegen Deutschland zu demonstrieren.«
Analysieren wir die Schrift von Bratter.
Die Substanz derselben sind 10 Zeitungsausschnitte. Die ersten 4 betreffen die gegenwärtigen Vorgänge in der Türkei. Es sind die folgenden:
Diese 10 Ausschnitte umfassen 16 Seiten von den 38 der Broschüre.
Die ersten vier beweisen, daß dem Verfasser über die Ereignisse in der Türkei während des Krieges keine anderen Nachrichten zur Verfügung standen, als die, welche jedem deutschen Zeitungsleser bekannt waren, nämlich das Interview von Dr. Rifaat und die türkischen Communiqués. Mehr Material besitzt der Verfasser nicht. Wie benützt er dieses Material?
Seiner Darstellung legt er in wörtlicher Entlehnung, aber ohne Angabe der Quelle das Interview des Jungägypters Dr. Rifaat zugrunde, das wir Seite 164 bereits charakterisiert haben. Vielleicht war der unorientierte Herr Bratter nicht in der Lage, zu erkennen, daß Dr. Rifaat ein Komplott der türkischen Opposition und einen »arabischen« Aufstand für eine »allgemeine armenische Revolution« ausgegeben hat. Umsoweniger hätte er den Inhalt des Interviews als eigene Weisheit auftischen dürfen. Es ist ihm auch unbekannt, daß das von Dr. Rifaat umgefälschte Komplott der türkischen Opposition auf das Jahr 1912 zurückgeht, also auf eine Zeit, in der die Entente noch in guten Beziehungen zu den Jungtürken stand, und daß jenes Komplott bereits vor dem Ausbruch des europäischen Krieges von der Polizei in Konstantinopel aufgedeckt worden ist. Ebenso ist ihm unbekannt, daß »die aktenmäßige Darstellung« dieses Komplotts bereits einige Monate vor dem Erscheinen seiner Broschüre im »Tanin« veröffentlicht worden ist.
Eine Gegenüberstellung des Interviews von Dr. Rifaat Vossische Zeitung, Drahtmeldung Kopenhagen, 14. Oktober 1915. und der Darstellung von Herrn Bratter wird deutlicher zeigen, wie die Sache gemacht ist. Die wörtlichen Entlehnungen sind gesperrt, die Zusätze von Herrn Bratter klein gedruckt.
Man braucht keine philologisch geschulten Augen zu haben, um zu erkennen, daß die grundlegenden Ausführungen Bratters, die er sich den Anschein gibt aus eigenem Wissen beizubringen, aus dem verlogenen Interview von Dr. Rifaat ausgeschrieben sind. Wir mußten das Interview von Rifaat zerlegen und umstellen, um die Übereinstimmung mit dem Plagiat von Herrn Bratter ersichtlich zu machen.
Herr Bratter gönnte England die alleinige Urheberschaft der angeblich »alle Armenier umfassenden Verschwörung« nicht, sondern machte mit einem Federstrich Rußland und Frankreich zu Mitschuldigen. Auch die »Mengen von Waffen und Munition« reichten ihm noch nicht aus, er macht »große« Mengen daraus. Herr Bratter scheint auch einen Hang zur Grausamkeit zu haben, denn er macht das Strafgericht zu einem »furchtbaren« und läßt die Hundert zu schweren Gefängnisstrafen verurteilten Araber noch vorher »peitschen«.
Wir wissen nicht, was an der arabischen Verschwörung des Scheich Abdul Kerim ist. Nach einer anderen Wiedergabe eines Interviews von Dr. Rifaat sind die Mengen von Waffen und Munition und die Polizeiuniformen nicht bei Armeniern, sondern bei dem Araberscheich Abdul Kerim gefunden worden. Die einundzwanzig Gehenkten dagegen sind nicht Anhänger von Abdul Kerim, sondern die 21 Hintschakisten, die in Konstantinopel vor dem Seraskierat aufgeknüpft wurden. (Vgl. Seite 168 ff.) Vier von ihnen waren in das Komplott der türkisch-liberalen Opposition, das vor dem Kriege aufgedeckt wurde, verwickelt. Dieses mit einem arabischen Aufstand kombinierte türkische Komplott ist der einzige Beweis, den Dr. Rifaat und sein Nachschreiber Herr Bratter für die erdichtete »alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassende Verschwörung« beibringt.
So also ist die Grundlage der Bratterschen Beweisführung beschaffen.
Der Eingang, mit dem Bratter sein Plagiat aus dem Interview von Dr. Rifaat versehen hat: »Es wird in nicht allzuferner Zeit aktenmäßig dargelegt werden«, hat ihm so gut gefallen, daß er ihn noch zweimal zur Beglaubigung weiterer Behauptungen verwendet. Er schreibt:
»Es wird in nicht allzuferner Zeit gleichfalls bewiesen werden, 1. daß armenische Revolutionäre in diesem jetzigen Kriege eine Zeitlang die größten Städte des armenischen Hochlandes besetzten und sie den Russen auslieferten, 2. daß diese armenischen Banden überall mit russischen Waffen ausgerüstet waren, am Wansee mit russischen Truppen gegen die Türken kämpften, so daß diese Kämpfe sogar in den amtlichen Petersburger Kriegsberichten als »Siege« verzeichnet wurden, 3. daß die Mehrzahl der armenischen Bevölkerung in der asiatischen Türkei sich in diesem Kriege neutral erklärte (!), anstatt für die Türkei gegen Rußland zu kämpfen.«
Hierzu ist zu sagen. 1. Es bedarf nicht erst eines Beweises, daß (zwar nicht armenische Revolutionäre, aber) Armenier sich in Wan verteidigt und in Schabin-Karahissar den Burgfelsen besetzt haben, denn das ist in den offiziellen türkischen Communiqués zu lesen. Es handelt sich zwar nicht »um die größten Städte des armenischen Hochlandes«, aber um eine der größten Städte und um den Burgfelsen einer kleineren Stadt. Wie die auf den Burgfelsen von Schabin-Karahissar geflüchteten 500 Armenier es hätten machen sollen, die »Stadt an Rußland auszuliefern«, das scheint sich Herr Bratter nicht überlegt zu haben. Wan ist nicht von den belagerten »Armeniern den Russen ausgeliefert« worden, sondern die Russen haben nach dem Abzug der Türken ohne Zutun der belagerten Armenier Wan und das ganze Wilajet Wan besetzt.
2. Auch die selbstverständliche Tatsache, daß die russischen Armenier mit russischen Waffen ausgerüstet und mit russischen Truppen gegen die Türken kämpften und daß diese Kämpfe in den amtlichen Petersburger Kriegsberichten als »Siege« bezeichnet wurden, braucht nicht erst »in nicht allzuferner Zeit bewiesen zu werden«, denn jedermann außer Herrn Bratter weiß, daß 1½ Millionen Armenier im Kaukasus wohnen, und daß diese russischen Armenier so gut wie die russischen Polen auf russischer Seite zu kämpfen hatten. Selbstverständlich sind Siege, die russische Armenier mit russischen Truppen zusammen erfochten haben, »russische Siege«.
3. Daß die Mehrzahl der armenischen Bevölkerung in der asiatischen Türkei sich in diesem Kriege neutral erklärt hätte (!), ist eine so kindliche Vorstellung, daß sie keiner Widerlegung bedarf. Man stelle sich vor, daß sich die Mehrzahl der preußischen Polen »für neutral erklärt hätten«.
»Es wird unter Beweis gestellt werden«, hebt Herr Bratter zum drittenmal an, »daß der englische Konsul in Mersina den Armenieraufstand im Wilajet Adana im April 1909 angezettelt hat. Ebenso daß einige Jahre zuvor 40 000 Armenier, die an einem Aufstande beteiligt waren, mit Erlaubnis und Hilfeleistung der russischen Regierung nach Kaukasien flüchteten«. Man weiß nicht, welche von diesen beiden Behauptungen eine dreistere Erfindung ist. Einen Aufstand in Armenien hat es »einige Jahre vor 1909« überhaupt nicht gegeben. Die »40 000 Armenier«, die sich zu der Zeit nach Kaukasien geflüchtet haben sollen, sind ebenso wie die angebliche Anzettelung des Massakers von Adana durch den englischen Konsul glatt erfunden. Die Wahrheit über das Massaker in Adana vom April 1909 kann jeder, der sie zu wissen wünscht, aus den Berichten von Dr. Paul Rohrbach erfahren, der nach dem Massaker Cilicien bereist hat. Dr. Paul Rohrbach, Die Wahrheit über Adana, Christl. Orient, Oktober 1909, S. 145 ff. – Die Hilfe, Nr. 46, 14. Nov. 1909. – Weltpolitisches Wanderbuch. K. R. Langewiesche, Königstein u. Leipzig. 1916. S. 113 ff. Das Massaker in Adana ist auf türkisches Anstiften unter Mitwirkung jungtürkischer Truppen veranstaltet worden. Die türkischen Anstifter wurden unter dem Druck der Großmächte wenigstens teilweise von der türkischen Regierung bestraft. Für England, das seine intimen Beziehungen zu der jungtürkischen Regierung damals nicht trüben wollte, war die Sache im Gegenteil sehr unbequem, so daß sie möglichst ignoriert wurde.
Die türkischen Communiqués, die Bratter abdruckt, haben wir bereits analysiert. Ebenso haben wir die türkischen Angaben über die Mission von Boghos Nubar Pascha richtig gestellt. (S. 226-229.) Alles, was Herr Bratter erzählt, daß Boghos Nubar Pascha sich »in den Dienst der Mächte des Dreiverbandes gestellt habe«, daß er »Geldsammlungen zur Anwerbung armenischer Freiwilliger für die im Kaukasus operierende russische Armee veranstaltet« habe, daß er in amerikanischen Blättern Aufrufe zum Aufstande der armenischen Nation veröffentlicht habe, daß er »ein unabhängiges Armenien unter ausländischer Kontrolle habe schaffen« wollen usw., ist wörtlich aus der Konstantinopeler Korrespondenz ausgeschrieben, und entbehrt der Wahrheit. Wenn Herr Bratter aus seinem Eigenen hinzufügt, daß Boghos Nubar Pascha (der als ägyptischer Großgrundbesitzer zu der konservativen Schicht des armenischen Volkes gehört) »einer der Haupträdelsführer der revolutionären Armenier« sei, und schließt: »daß die Fäden der von Boghos Nubar geleiteten Verschwörung im russischen Gouverneurspalast zu Tiflis zusammenlaufen, ist längst erwiesen«, so ist die Leichtfertigkeit, mit der derartige lächerlichen Erfindungen mangels jeder Beweise als »längst erwiesen« ausgegeben werden, höchlichst zu bedauern.
Mit den Zeitungsausschnitten, die die Tätigkeit »einer Legion von Missionaren, die England nach Kleinasien entsandte« beleuchten sollen, ist Herrn Bratter ein arges Mißgeschick begegnet. Er will nämlich durch sie beweisen, daß England in Kleinasien »allenthalben protestantische Schulen und Kirchen gründen ließ, die nach außen hin der religiösen, in Wahrheit der politischen Propaganda unter den Armeniern dienten«, und einen »Seelenfang mit ausgesprochen politischer Tendenz« betrieb, um »die christlichen Völkerschaften in der Türkei als gebrauchsfertige Werkzeuge zur Hand zu haben, wenn England sie einmal gegen die Türken benötigen sollte«. Zwar weiß jedermann, daß England seit dem Krimkriege das politische Interesse gehabt hat, die asiatische Türkei als Pufferstaat gegen Rußland zu erhalten, daß es nur notgedrungen seit Beginn dieses Krieges von seiner früheren Politik abgewichen ist. Nach diesem Kriege wird es vermutlich durch seine Mittelmeerpolitik und zum Schutz des Suezkanals gezwungen sein, seine alte Politik weiterzuführen. Das Mißgeschick, das Herrn Bratter begegnet ist, besteht aber darin, daß es in Armenien überhaupt keine englischen Missionen gibt, sondern lediglich amerikanische, denen er selbst das Zeugnis ausstellt, daß sie ohne politische Absichten in die Türkei kamen. Natürlich gefallen ihm auch die amerikanischen Missionare nicht, denn er weiß von ihnen ebensoviel als von den englischen. Wo er es brauchen kann, beruft er sich zwar auf das Zeugnis eines amerikanischen Missionars »des hochangesehenen Geistlichen Cyrus Hamlin«, aber zuvor läßt er sich vom »Newyork Herald«, dem er ein besonderes Maß von Glaubwürdigkeit für deutsche Leser beizumessen scheint, ein nettes Leumundszeugnis über amerikanische Missionare ausstellen. »Enthusiastische, halbgebildete und unerfahrene Männer, die imstande sind, jedes Land der Welt in Verwirrung zu bringen.« Will man sich über die grandiosen Werke der amerikanischen Schul-Missionen in der Türkei ein Urteil bilden, so tut ein Deutscher sicherlich besser, deutsche Sachkenner, z. B. Prof. D. Jul. Richter von der Berliner Universität, zu befragen, Allgemeine evangelische Missionsgeschichte II. Band. Mission und Evangelisation im xOrient. Gütersloh, 1908. als den »Newyork Herald«. Dann wird man nicht solche Böcke schießen, daß man nicht existierende englische Missionen politischer Umtriebe in Armenien bezichtigt. Das Unglück will noch, daß die vom »Newyork Herald« übel beleumundeten Missionare, die »ihre Bureaus in Newyork haben«, Presbyterianer sind, die in Armenien gar keine Arbeit haben. Die amerikanischen Missionare in Armenien sind Kongregationalisten, die ihre Bureaus in Boston haben.
Noch schlimmer geht es Herrn Bratter mit seinem »kundigen deutschen Beobachter, der die Verhältnisse an Ort und Stelle kennen lernte«. Auch dieser kundige Thebaner ist auf England geladen. Auch er regt sich über englische Missionare und Schulen in Anatolien auf, die im Interesse »der englischen Politik« armenische Kinder »in Siwas, Kharput, Diarbekir« durch ihre Erziehung auf die Bahnen des Anarchismus getrieben haben. Hierfür solle man nicht das armenische Volk anklagen, »das sonst die meisten Eigenschaften besitzt, die einen ruhigen Staatsbürger auszuzeichnen pflegen« und »nicht bloß die revolutionäre Jugend verantwortlich machen«, sondern solle »jene Engländer (die Missionare nämlich) schonungslos an den Pranger stellen, welche in die Seele des armenischen Volkes das Gift getröpfelt haben, das nun dem unglücklichen Volke Not und Tod bringt«.
Der »kundige deutsche Beobachter« muß »an Ort und Stelle« Visionen gehabt haben, denn an all den genannten Orten und in ganz Armenien hat es niemals einen englischen Missionar gegeben.
Als Beweis dafür, daß englische Missionare in Mersiwan (wo es nie englische Missionare gegeben hat) und in Kumkapu, (wo es ebenfalls keine englischen Missionare gibt) vom Hintschak veranstaltete Tumulte angestiftet hätten, wird eine amerikanische Enquete ins Feld geführt.
Den »Hintschakisten«, einer revolutionären Partei, die vor 20 Jahren im Kaukasus eine Bedeutung hatte, aber seitdem so gut wie verschollen ist, widmet Herr Bratter (da er nichts anderes über Armenien zu berichten weiß) auf 5 Seiten seine besondere Aufmerksamkeit. Was er darüber weiß, entnimmt er zwei längeren Zitaten, die aus dem Anfang der neunziger Jahre stammen, also mehr als zwanzig Jahre alt sind. Das eine ist dem Bostoner Missionsorgan der Kongregationalisten entnommen, also dem Organ derselben Missionare, die angeblich Anarchisten erziehen und in einem ihrer Kolleges in Mersiwan angeblich Hintschakistentumulte veranlaßt und geschürt haben. Dieser Artikel des kongregationalistischen Blattes, geschrieben von dem Missionar Rev. Cyrus Hamlin, dem »hochangesehenen« Zeugen Bratters, verurteilt in der schärfsten Weise eben jene Hintschakisten, vor denen das armenische Volk aufs eindringlichste gewarnt wird. Herr Bratter scheint nicht bemerkt zu haben, daß dieser kongregationalistische Missionar, Rev. Hamlin, in dem von ihm zitierten Zeitungsausschnitt die Hintschakisten beschuldigt, die Türken gegen die protestantischen Missionare und die protestantischen Armenier aufzuhetzen, und daß er ihnen die Unruhen vor Mersiwan in die Schuhe schiebt, während Herr Bratter dieselben Unruhen in Mersiwan ebendenselben kongregationalistischen Missionaren, in deren Namen Rev. Hamlin spricht, auf Rechnung setzt. Es ergibt sich dabei folgendes Bild: Die Hintschakisten hetzen gegen die protestantischen Missionare von Mersiwan, und die protestantischen Missionare von Mersiwan schüren die Hetzereien der Hintschakisten. Wenn amerikanische Missionare so handeln, dann sind sie allerdings »Männer, die«, wie der Newyork Herald sagt »jedes Land der Welt in Verwirrung bringen können«. Sie würden nach dem Worte Jesu handeln: »Setzt sich nun der Satan wider sich selbst, so kann er nicht bestehen, sondern es ist aus mit ihm«. Aber solche Narren sind die amerikanischen Missionare wirklich nicht. Herr Bratter wird allerdings sagen, er habe nicht die armenischen Missionare von Mersiwan, sondern die englischen Missionare gemeint (die es dort niemals gab).
Was haben nun diese ganzen Deklamationen gegen die Hintschakisten, ein kleines Grüppchen revolutionärer Auslandarmenier, die unter den Armeniern der Türkei längst jeden Einfluß verloren haben, mit dem gegenwärtigen Stande der armenische Frage zu tun? – Nichts. Nur der Mangel an Stoff kann es begreiflich machen, daß sich Herr Bratter so lebhaft für sie interessiert und noch einen Artikel aus dem »Hajk« vom Jahre 1895 ausschreibt. Dem »berüchtigten« Hamparzum, einem ihrer früheren Führer, der elf Jahre in türkischen Gefängnissen schmachtete und erst von den Jungtürken freigelassen worden ist, werden dabei die unglaublichsten Schändlichkeiten angedichtet. Entweder man verurteilt jede Revolution, oder man hat sich Revolutionäre darauf anzusehen, aus welchen Motiven sie handeln, und ob die Not ihres Volkes ihr Vorgehen rechtfertigt. Dann wird man zu einem billigen Urteil gelangen. Man vergesse doch nicht, daß die Jungtürken, die gegenwärtig unsere Bundesgenossen sind, zu jener Zeit Gesinnungsgenossen und Kameraden der Hintschakisten waren; beide wandten sich gegen die terroristische Regierung Abdul Hamids. Die revolutionären Bestrebungen der Jungtürken sind geglückt, die der Hintschakisten nicht. Das ist der Unterschied. Wer anders urteilt, macht sich der Heuchelei schuldig. Über das Massaker in Sassun sind ebenso wie über die großen Massakers, die Abdul Hamid veranstaltet hat, die Akten geschlossen. Wer mit dem Urteil, das alle Welt gewonnen hat, nicht übereinstimmt, soll erst die Bände von Konsular- und Botschaftsberichten aller Mächte, die darüber vorliegen, widerlegen und sich mit Männern wie Dr. Paul Rohrbach und anderen, die die Zustände in Armenien und ihre jüngste Geschichte aus eigener Anschauung kennen, auseinandersetzen.
Zur Charakteristik der Hamidschen Massakers, von denen Herr Bratter aus eigenen Quellen nichts weiß, zitiert er eine ungedruckte »analytische Geschichte der Regierung Abdul Hamids« von einem »dem Jungtürkentum feindlich gesinnten freisinnigen albanesischen Fürsten«. Ob ein Historiker, der die Regierung Abdul Hamids behandeln will, über die Dutzende von europäischen Schriften vorliegen, sich gerade dem Urteil eines ungedruckten Albanesen anvertrauen würde, ist uns zweifelhaft. Immerhin läßt der zitierte Albanese dem armenischen Volk noch mehr Gerechtigkeit widerfahren, als Herr Bratter, denn augenscheinlich verurteilt er, daß Abdul Hamid »die Schuld einiger bestochener armenischer Fanatiker und Hallunken ...«, » das ganze armenische Volk, das früher im osmanischen Reich fast das herrschende war, da es die meisten hohen Stellen und die größten Reichtümer besaß«, habe entgelten lassen. Auch lehnt sich das Gerechtigkeitsgefühl des Albanesen dagegen auf, daß »das ganze armenische Volk mit den paar Verbrechern identifiziert wird und unter schrecklichen Verfolgern leiden« mußte.
Völlig schief ist bei dem Albanesen die Beurteilung des Zweckes, den die armenischen Revolutionäre mit der Besetzung der Ottomanbank verfolgten. Selbstverständlich waren die Armenier nicht so töricht, zu glauben, daß sie »eine Revolution in Konstantinopel würden anzetteln« können. Der Zweck der Besetzung der Ottomanbank war eine Demonstration an die Adresse der sechs Großmächte, die den § 61 des Berliner Vertrages unterschrieben und vor der Tatsache kapituliert hatten, daß Abdul Hamid ihre Reformbestrebungen für das unglückliche Armenien mit einer Abschlachtung von 80 bis 100 000 Armeniern beantwortete. Darum ist die Frage des Albanesen, ob die Armenier mit der Besetzung der Ottomanbank »irgendwelche verständliche Zwecke verfolgten«, unangebracht. Abdul Hamid wußte von dem Vorhaben und seinem Zweck, aber statt dem Anschlag vorzubeugen, ließ er die Revolutionäre gewähren und bereitete als Antwort auf die im übrigen unschädlich verlaufene Demonstration in aller Stille ein Massaker der Armenier von Konstantinopel vor, das dann unter den Augen der Botschafter der Großmächte vor sich ging. Nach dem offiziellen Bericht für den Palast zählten die Opfer 8750 Ermordete, nach dem Botschafterbericht 5-6000.
Ebenso unrichtig ist die Behauptung des Albanesen, »daß England die armenische Frage aus dem Nichts künstlich hervorgerufen habe zur Zeit, als der britische Einfluß in der Türkei stark gesunken war und das Ansehen Deutschlands zu steigen begann«. Die armenische Frage datiert vom Jahre 1878, aus der Zeit nach dem Russisch-Türkischen Kriege. Die deutsche Orientpolitik setzt 20 Jahre später ein. Wenn jemand die armenische Frage »geschaffen« hat, so ist es nicht England, sondern Rußland, das in dem Vertrag von San Stefano den § 16 aufnahm, der die Grundlage des § 61 des Berliner Vertrages bildet. Nicht England allein, sondern alle sechs Großmächte, Deutschland eingeschlossen, haben sich als Unterzeichner des Berliner Vertrages für das Schicksal des armenischen Volkes verantwortlich gemacht. Ihre löbliche Absicht ging nach dem Buchstaben des Vertrages dahin, den Armeniern Schutz des Lebens und Eigentums gegen Kurden und Tscherkessen zu verbürgen. Bald genug wurde die armenische Frage ein Spiel der internationalen Diplomatie, die durch den Gegensatz der russischen und englischen Interessen in der Türkei bestimmt war. Als in den Jahren 1893-95 das armenische Reformprogramm entsprechend den Verpflichtungen des Berliner Vertrages von den Botschaftern Englands, Frankreichs und Rußlands unterschrieben und von Abdul Hamid unterzeichnet war, untersiegelte Abdul Hamid den Reformplan mit dem Blut von 100 000 Armeniern. Die jungtürkische Regierung ist seinem Beispiel gefolgt. Sie hat die russisch-deutschen Reformverhandlungen vom Jahre 1913/14 mit der Vernichtung des armenischen Volkes beantwortet. Ob zum Heile der Türkei, das wird die Zukunft lehren.
Soviel zur Richtigstellung der Urteile des Albanesen, der zwar über armenische Dinge schlecht unterrichtet ist, aber sich immerhin eines unparteilichereren Urteils befleißigt, als Herr Bratter.
Mit den Zitaten des Herrn Bratter aus dem Werk des Albanesen hat es aber noch eine eigene Bewandtnis, die für die Art, wie Herr Bratter zitiert, charakteristisch ist. Er gibt sich nämlich den Anschein, als ob er seine Zitate dem »Manuskript gebliebenen« Geschichtswerk des Albanesen entnommen habe und bemerkt, daß in diesem Werk »natürlich auch die armenische Frage einen breiten Raum einnimmt«. In Wahrheit hat Herr Bratter die »Analytische Geschichte der Regierung Abdul Hamids« niemals gesehen und ebenso wenig stammen seine Zitate aus diesem Werke, denn die Anführungen von Bratter sind ein Plagiat aus dem Buch »Der erlöschende Halbmond, Türkische Enthüllungen von Alexander Ular und Enrico Insabato«, Verlag der Literarischen Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M. 1909.
Die Verfasser, die vielen bösartigen Klatsch zusammengetragen haben, mit der Absicht, die deutsche Orientpolitik zu verdächtigen, machen über das Manuskript des Albanesen die folgenden Angaben, denen wir das Plagiat des Herrn Bratter gegenüberstellen; die Änderungen von Bratter sind gesperrt gedruckt, Zusätze klein.
Wie man sieht, stammen die von Bratter angeführten Zitate nicht aus dem Geschichtswerk, das niemand gesehen hat, da es angeblich von den Jungtürken geraubt wurde, sondern aus Reminiszenzen aus diesem Werke, die der Albanese den Herren Ular und Insabato in die Feder diktierte. Dies verschweigt Herr Bratter, wie er auch die Quelle seiner Zitate, den »Erlöschenden Halbmond« verschweigt. Der »breite Raum«, den die armenische Frage in diesen Reminiszenzen einnimmt, beträgt 1½ Seiten. Es ist das ungefähr alles, was Herr Bratter anführt, mit sehr charakteristischen Auslassungen und Zusätzen. Stellen wir Original und Kopie gegenüber:
Man sieht, daß Herr Bratter, wie er oben den »Mordanschlag« der Jungtürken auf den albanesischen Fürsten und die Tatsache, daß ihm sein Manuskript »durch einen ungeheuerlichen Gewaltstreich der Jungtürken« entrissen wurde, unterdrückte, auch die Ausführungen seines angeblichen Gewährsmannes abzuschwächen sucht, indem er die » Verfolgungen und Gemetzel, vor denen Europa in Entsetzen erstarrte« unterdrückt und das » sich jammervoll dahinmorden lassen« zu einem »untergehen« abschwächt. Auch die Änderung von »und wer weiß nicht, daß« in »wer weiß, ob« ist charakteristisch.
Wir wollen nun aber auch noch »den breiten Raum«, den angeblich die »armenische Frage« in der »Analytischen Geschichte« einnimmt, (die Herr Bratter niemals gesehen hat), ausfüllen, indem wir den Rest der Reminiszenzen aus dem Buche von Ular und Insabato hinzufügen:
»Diese Gemetzel haben nicht nur die Armenier fürchterlich mitgenommen, sondern auch der türkischen Regierung entsetzlichen Schaden gebracht. Sie hatten nämlich zur unmittelbaren Folge nicht nur einen äußerst nachteiligen Stillstand des ganzen wirtschaftlichen Lebens und vor allem des Handels, der zum großen Teil in armenischen Händen war, sondern auch die Auswanderung sehr vieler reicher Armenier, Großhändler und Finanzleute, die sich in alle möglichen fremden Länder zerstreuten, sich in Ägypten, Westeuropa und sogar in Amerika niederließen, und die nie wieder zurückgekehrt sind. Der türkische Fiskus hat dadurch jährlich wenigstens 10 bis 15 Millionen Franken an Steuern eingebüßt! ... Und da erscheint auf dem Plane wieder Wilhelm II., der den Sultan gegen die reichsbedrohlichen Wutausbrüche der armenischen Freunde in westländischen Regierungen in Schutz nimmt, seine Haltung gut heißt und aus dem plötzlichen Verfall des armenischen Handels und der armenischen Finanz Nutzen zieht, indem er an die Stelle der Getöteten und ausgewanderten armenischen Großhändler deutsche Firmen setzt.«
Das ist alles, was der Albanese den Herren Ular und Insabato über die armenische Frage in die Feder diktiert hat. Herr Bratter weiß wohl, warum er den Rest unterdrückt, denn erstens wollte er sich den Anschein geben, als ob in seiner »Analytischen Geschichte« noch mehr wissenswerte Dinge über die armenische Frage zu lesen wären, zweitens konnte er nicht wohl wagen, einem deutschen Publikum die niederträchtige Verleumdung des deutschen Kaisers, auf die es seinem Gewährsmann in erster Linie ankam, vorzusetzen. Sein Gewährsmann hätte damit sofort jedes Vertrauen für alles, was Herr Bratter von ihm abschreibt, verloren.
Zur Sache ist noch zu bemerken, daß die Beschuldigung, der Angriff auf die Ottoman Bank sei auf englisches Anstiften und mit englischem Gelde erfolgt, vollkommen aus der Luft gegriffen ist. Die Armenier wünschten im Gegenteil gerade die öffentliche Meinung in England gegen die englische Regierung mobil zu machen, die die Massaker Abdul Hamids lediglich mit papiernen Noten beantwortete und den armenischen Reformplan ein- für allemal fallen ließ. Hätte England den Sultan Abdul Hamid bedrohen wollen, so hätte es andere Mittel zur Verfügung gehabt, als die Demonstration einer Handvoll Armenier.
Mit besonderer Kunst umgeht Herr Bratter die hamidischen Massakers aus dem Jahre 1895/96. Es gab ja eine Zeit, wo manche Leute davon lieber schwiegen. Nach dem Sturz von Abdul Hamid war dies anders geworden. Seit dem Siege der jungtürkischen Revolution gab jedermann dem toten Löwen Fußtritte. Auch in der deutschen Presse wurde Abdul Hamid nur noch der »rote« oder der »blutige« Sultan genannt. Die Armenier nennen nach ihren jüngsten Erfahrungen den Sultan Abdul Hamid jetzt ironisch »ihren Wohltäter«, da ihnen die Schläge, die er ihrer Nation versetzt hat, gegen ihr jetziges Schicksal erträglich erscheinen. Mögen die Armenier zu dieser »Rettung« Abdul Hamids berechtigt sein, Herr Bratter ist es nicht. In keinem Falle aber ist ihm eine Geschichtsfälschung erlaubt, wie er sie auf Seite 34, 35 und 36 in seiner Schilderung der Massakers von 1894/95/96 begeht. Ich ziehe es vor, anzunehmen, daß auch hier Herr Bratter, wie im Falle der Ausschreibung des Dr. Rifaat und der Herren Ular und Insabato, ein Plagiat begangen hat. Denn ein so gehäuftes Maß von Lügen zu erdichten, wie sie auf diesen drei Seiten zusammengedrängt sind, kann ich ihn nicht für fähig halten.
Über das Massaker von Sassun 1894 liegen ausführliche Berichte des Untersuchungsausschusses vor, der an Ort und Stelle die Tatsachen festgestellt hat. Bei Bratter haben nicht die Kurden das Massaker veranstaltet, sondern »der berüchtigte Hamparzum« nebst 3000 armenischen Bauern.
Die Mordbrennereien von 3000 armenischen Bauern, desgleichen die »englische Hilfe«, sind frei erfunden.
Die Armenier-Massakers unter Abdul Hamid werden von Bratter in Türken-Massakers umgedichtet. Die Geschichte der hamidischen Massakers ist der Welt bekannt. Über die Armenier-Massakers von 1895/96, die mit dem 2. Oktober 1895 in Trapezunt einsetzten, liegt der jedermann zugängliche Botschafterbericht vor, der am 4. Februar 1896 durch eine Kollektivnote der Botschafter der sechs Großmächte ( auch Deutschlands) an die Hohe Pforte überreicht wurde. Er ist abgedruckt in: Lepsius, Armenien und Europa (Sechste Auflage Berlin 1897). Wenn jemand über die Wahrheit noch im Zweifel sein sollte, so lege er den Botschafterbericht neben die Darstellung von Herrn Bratter, und er wird über die groteske Verlogenheit (seiner, wie ich annehme kritiklos benutzten ungenannten Quelle) erstaunt sein. Es genügt daher, diese grobe Fälschung niedriger zu hängen. Man höre: »Der blutig unterdrückten Revolte von Zeitun Bekanntlich wurde von den europäischen Konsuln ausgerechnet den Leuten von Zeitun eine Amnestie erwirkt, so daß sie von einem Massaker verschont blieben.) folgte im Herbste 1895 die bewaffnete Bekanntlich war diese Kundgebung unbewaffnet.) Kundgebung der Armenier in Konstantinopel und dieser die Aufstände (!) in Trapezunt im Wilajet Hundawendigiar Europäer pflegen dieses Wilajet »Brussa« zu nennen. Der Umstand, daß Herr Bratter die türkische Bezeichnung (lies: »Khodawendighiar«) gebraucht, läßt wohl darauf schließen, daß sich Bratter einer türkischen Quelle bedient., im Wilajet (lies Schandschak) Ismid, im Wilajet Bitlis, im Wilajet Siwas, im Wilajet Diarbekir, im Wilajet Aleppo und eine nochmalige Revolte in Zeitun. (?) Fast überall setzen die Aufstände mit der Ermordung von Türken und Überfällen auf die Moscheen ein. Mit Bomben und Petroleum vollendeten die Revolutionäre, was sie mit Flinten und Dolchen begonnen hatten. In Trapezunt, in Aka Hissar (lies Akhissar), bei Erzerum führten sie förmliche Kriege gegen die muhammedanische Bevölkerung. Die Führer ließen im Wilajet Erzerum alle Armenier, die den Aufstand nicht unterstützen wollten, ermorden. Den armenischen Notabeln wurde bei Todesstrafe verboten, in die von dem türkischen Gouverneur zusammengerufenen Reformausschüsse einzutreten. In Bitlis hetzt der englische (?) Missionar Georges die Armenier öffentlich gegen die Regierung auf. Im Wilajet Diarbekir ist es das englische Konsulat, das die Revolte führt. In beiden Fällen behaupten die Engländer, wenn die Aufstände siegreich seien, werde die britische Regierung dafür sorgen, daß die Türkei gezwungen werde, die sechs armenischen Wilajets an den armenischen Zukunftsstaat abzutreten. In Serwet (gibt es nicht, soll wohl heißen Sört) zündeten die Armenier den Bazar an, so daß alle Türken, die sich in dem Gebäude befanden, bei lebendigem Leibe verbrannten. In Alexandrette gingen die Hintschakisten im britischen Konsulat ein und aus ... Die Stadt Marasch wurde im November 1895 von den Armeniern gleichzeitig an drei Stellen angezündet. Über hundert Muhammedaner kamen in den Flammen um. Alle diese Schandtaten werden aber tief in den Schatten gestellt durch die beispiellosen Greuel, die die Armenier um dieselbe Zeit in Zeitun verübten und die allerdings von den Türken bitter gerächt wurden.« Im Gegenteil, die europäischen Konsuln erwirkten den Armeniern von Zeitun volle Amnestie.
So lautet bei Bratter die Darstellung der Blutbäder Abdul Hamids.
In dieser Darstellung ist jeder Satz eine Lüge.
Man weiß nicht, was man sagen soll, wenn offenkundige geschichtliche Tatsachen so dreist in ihr Gegenteil umgedichtet werden. Aus der Massakrierung wehrloser entwaffneter Armenier werden Aufstände von Armeniern und Abschlachtungen von Türken gemacht. Die Brandschatzung christlicher Stadtviertel und Kirchen wird in Einäscherung türkischer Bazars und Überfälle auf Moscheen verwandelt usw. Natürlich muß als Kinderschreck hinter allem England stecken. Die Behauptung, daß England Aufstände angestiftet habe, ist genau so erlogen, wie die Aufstände selbst erlogen sind. Natürlich müssen wieder englische Missionare, die es gar nicht gab, ihre Hand im Spiel haben. Wie erklärt es wohl Herr Bratter, daß bei diesen angeblichen Türken-Massakers nur eine Handvoll Türken und Kurden umkam, während in allen armenischen Städten und Distrikten die Opfer zu Tausenden zählten, so daß die Gesamtzahl der Getöteten 80- bis 100 000 betrug?
Wie groß muß die Vergeßlichkeit und Kritiklosigkeit der Leser sein, denen man derartige Lügen vorsetzen kann.
Was bleibt noch von dem Inhalt der Bratterschen Broschüre übrig, wenn wir die Zeitungsausschnitte und die vom Verfasser benutzten »Manuskripte« abziehen?
Erstens, ein sinnloses Geschimpfe auf England bei jeder Gelegenheit, die sich bei den erlogenen Tatsachen zu bieten scheint. Zweitens, grundlose Verdächtigungen amerikanischer und gar nicht vorhandener englischer Missionare. Drittens, einige dürftige kritiklose Ausführungen ethnographischer und geschichtlicher Natur. (Seite 20 bis 26.)
Der Verfasser unterläßt hierbei nicht seine Unparteilichkeit zu bezeugen, er wolle »selbstverständlich kein Verdammungsurteil über das ganze armenische Volk« aussprechen, » das zu einem sehr goßen Teile aus friedlichen, arbeitsamen und tüchtigen Elementen besteht.« Natürlich fehlen auch bei Bratter »die vielfach als Betrüger und Wucherer verschrieenen armenischen Kaufleute« nicht. Die Tatsache, daß unsere Großbanken und Exporteure ihr Hauptgeschäft in der Türkei mit armenischen Kaufleuten machen und ihnen die größten Kredite einräumen, sollte eigentlich genügen, diese Reporterlegende aus der Welt zu schaffen. Da die »serbischen Hammeldiebe« und die »armenischen Gauner« schon seit Jahrzehnten den eisernen Bestand der Orientkenntnisse unwissender Reporter bilden, wäre es an der Zeit, daß diese unwürdigen Beschimpfungen ganzer Nationen endlich aus der Presse verschwinden. »Die Armenier in dem Gebiet des Wansees, in dem Quellgebiet des Euphrat und Tigris, in den Tälern des Taurusgebirges«, nennt er sogar »die intelligentesten und fleißigsten Ackerbauer der Türkei«. Leider hat die türkische Regierung gerade diese »friedlichen, arbeitsamen und tüchtigen Elemente« aus ihren Wohnsitzen ausgetrieben und »die intelligentesten und fleißigsten Ackerbauer der Türkei« vernichtet. In den 6 östlichen Wilajets beträgt das armenische Element nicht, wie Bratter angibt, 16 sondern 25 %. Im eigentlichen »Armenien«, wenn man von den kurdischen Randgebieten dieser Wilajets absieht, 39 % (zusammen mit den ebenfalls vernichteten Syrern 43,6 %) der Bevölkerung. Die Unglücksgeschichte von Jahrhunderten ist keineswegs in den »inneren Streitigkeiten« des armenischen Volkes begründet, sondern, wie schon ein flüchtiger Überblick über die Geschichte lehrt, von der geographischen Lage bedingt. Zwischen mächtigen Weltreichen eingekeilt und abwechselnd unterjocht, von Mongolen- und Tartareneinfällen überschwemmt, hat Armenien niemals gute Tage gesehen. Die Behauptung, daß »die hartnäckigsten Feinde der armenischen Reformen die Armenier selbst seien« und »daß der ganze große Anhang der Revolutionskomitees sich heftig jedem Reformversuch widersetze und im Volke, teilweise durch Todesdrohungen, gegen jeden solchen Versuch Stimmung mache«, ist eine lächerliche Erfindung. Das hundertmal ausgesprochene Motiv der revolutionären Gruppen, die vor der Einführung der Konstitution Hand in Hand mit den Jungtürken am Sturz des absolutistischen Regimes arbeiteten, war die Durchsetzung des von den Großmächten im Berliner Vertrage gegebenen Reformversprechens. Nach Einführung der Konstitution verwandelte sich die früher revolutionäre Partei der Daschnakzagan, die einzige, die für das armenische Volk eine Bedeutung hat, in eine konstitutionelle Vertretung der Nation. Den russisch-deutschen Reformverhandlungen von 1913 lag das von den Daschnakzagan ausgearbeitete Programm zugrunde. Boghos Nubar Pascha, den Bratter »einen der Haupträdelsführer der revolutionären Armenier« nennt, hat sich bei den Kabinetten von Berlin, Paris, London und Petersburg um nichts anderes als um die Durchsetzung des Reformprogrammes bemüht, eben in derjenigen Form, die von Deutschland der Pforte empfohlen und am 8. Februar 1914 von der Pforte angenommen wurde.
»Die zahlreichen armenischen Aufstände der letzten 25 Jahre« (Seite 23) sind eine freie Erfindung von Herrn Bratter, und darum ist die Formel (»der unheilvolle Kreislauf: Aufstände der Armenier, – Unterdrückung der Empörung, – Strenge Bestrafung der Rädelsführer, – Raub- und Mordzüge der Kurden, – Ermordung Unschuldiger und dadurch hervorgerufene neue Aufstandsbewegung«), auf die Bratter die armenische Frage bringt, unbrauchbar.
Niemand, weder die Hintschakisten, noch die Daschnakzagan, noch die amerikanischen Missionare, noch europäische Diplomaten, noch Boghos Nubar Pascha haben je von einem »selbständigen Königreich Armenien« geredet oder geträumt, sondern, wie die geschichtlichen Dokumente von 35 Jahren beweisen, niemals etwas anderes als Reformen erstrebt und befürwortet, die den Armeniern das Mindestmaß bürgerlicher Rechte und Freiheiten sichern sollten, das für jeden europäischen Staatsbürger selbstverständlich ist. Daß für Rußland ein »Königreich Armenien« völlig undenkbar ist, braucht nicht erst gesagt zu werden. Alle armenischen Politiker haben die Erhaltung der Souveränität der Türkei als eine Lebensfrage für das armenische Volkstum angesehen, ja selbst heute noch, nach der Vernichtung des halben Volkes und der völligen Ausplünderung der Überlebenden, lehnen russische und türkische Armenier eine Annexion durch Rußland ab und verlangen lediglich die Erhaltung und Wiederherstellung ihres Volkstums in einer nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Freiheit reorganisierten Türkei.
Herr Bratter kommt noch besonders auf die katholischen Armenier zu sprechen, deren Streitigkeiten mit den gregorianischen Armeniern er eine völlig überflüssige Überflüssig ist es auch, daß Bratter eine angebliche Beschimpfung des römischen Papstes durch einen armenischen Patriarchen aus dem Jahre 1828 der Vergessenheit entreißt. (Seite 25) Ausführung widmet, denn diese betreffen nicht das Schicksal der jetzigen armenischen Katholiken, die das Los ihrer gregorianischen und protestantischen Brüder geteilt haben. Die für die »armenische Frage« völlig belanglosen konfessionellen Streitigkeiten zwischen den gregorianischen und den mit Rom unirten katholischen Armeniern »eine gegenseitige Zerfleischung« der Nation zu nennen ist sinnlos. Die Gregorianer zählen insgesammt rund 3 800 000, die katholischen Armenier 140 000, die protestantischen 60 000; also Gregorianer 95 %, Katholiken 3½ %, Protestanten 1½ %. Auch von katholischer Seite wurde eine Eingabe an den Reichskanzler wegen der Vernichtung ihrer armenischen Glaubensbrüder gerichtet. Nicht den lebenden katholischen Armeniern wendet er sein Mitleid zu, wie es der Papst bei seiner letzten Kundgebung für den Weltfrieden und durch energische Schritte bei der Hohen Pforte getan hat, sondern 12 000 längst verstorbenen katholischen Armeniern, die im Jahre 1828 aus der Umgebung von Angora gezwungen wurden, nach Angora zurückzukehren.
Und nun noch ein Wort über die Apostrophen des Herrn Bratter an die Unterzeichner des Schweizer Aufrufes. Auf den Anwurf wegen der Burenfrage hat er im Baseler »Kirchenfreund«, Nr. 2, 14. Januar 1916, S. 30 die gebührende Abfertigung erhalten.
»Woher wissen diese Herren das, was sie öffentlich behaupten? Wer und wo sind die einwandfreien Personen, die alles erzählen? Haben die Unterzeichneten sich die Mühe genommen oder auch nur die Gelegenheit gehabt, sich von der Einwandfreiheit dieser Personen zu überzeugen?«
Wir können Herrn Bratter versichern, daß sich die Unterzeichner die Mühe genommen haben, die er selbst sich nicht nahm. Diese Herren sind nicht so unwissend, wie Herr Bratter. Eine große Zahl von ihnen hat bis in die jüngste Zeit eine Fülle von Beziehungen auch zu entlegenen Teilen der Türkei. Es sind Männer darunter, die die Türkei nach allen Richtungen bereist haben und die Jahre und Jahrzehnte für das unglückliche armenische Volk große finanzielle Opfer gebracht und persönlich unter ihm gewirkt haben.
»Was wissen sie von all diesen Dingen? Und warum faseln sie von einem Vernichtungskampf der Türken gegen die christlichen Armenier?«
Es gehört ein trauriger Mut dazu, Hundert der angesehensten und gebildetsten Schweizer der »Faselei« zu beschuldigen, nachdem man seinen Namen auf eine Schrift gesetzt hat, wie die, welche wir leider genötigt waren, unter die Lupe zu nehmen.
Aufrichtig gesagt, wir würden nicht das Papier verschwendet haben, um uns mit der Schrift von Herrn Bratter zu befassen, aber leider ist Kritiklosigkeit ansteckend und Männer, denen man ein besseres Urteil zutrauen sollte, sind auf sein Pamphlet hereingefallen. Ich nenne zum Beweis dessen nur den Artikel von Graf Ernst Reventlow »Das Wesen der armenischen Greuel« in Nr. 636 der »Deutschen Tageszeitung« vom 19. Dezember 1915, die Nr. 49 der Allgemeinen Evangel. Luther. Kirchenzeitung vom 3. Dezember 1915, das evangelische Kirchenblatt für Württemberg Nr. 48 und eine Presseäußerung des allgemeinen Positiven Verbandes. Die Analyse des Bratterschen Pamphletes wird ja die Verfasser dieser Artikel in die Lage setzen, ihr Urteil zu berichtigen.
Ergebnis.
Die Tatsachen, die wir ermitteln konnten, ergeben das folgende Bild:
Die Zahl der Armenier in der Türkei betrug vor dem Kriege nach der Statistik des Patriarchats ca. 1 845 000. Von der Maßregel der Deportation wurden alle von Armeniern bewohnten Wilajets in Ost- und West-Anatolien, Cilicien und Mesopotamien betroffen. Verschont blieb außer Konstantinopel, Bagdad und Jerusalem nur das Wilajet Aidin mit Smyrna. Der Deportation entgingen die Armenier des Wilajet Wan und der angrenzenden Bezirke, die, soweit sie nicht von den Kurden getötet wurden, teils über die Grenze flohen, teils von den Russen ausquartiert wurden. Als verschont können auch die Familien gelten, die sich unter dem Druck der Behörden durch den Uebertritt zum Islam der Deportation entzogen und die zahllosen Mädchen, jungen Frauen und Kinder, die in türkische Harems verkauft und in kurdische Dörfer abgeführt wurden.
Höchstens ein Drittel der Bevölkerung mag durch Flucht, Islamisierung oder durch Belassung in ihren Wohnsitzen der Deportation entgangen sein. Zwei Drittel der Bevölkerung (ca. 1 200 000) sind von der Deportation betroffen worden. In den östlichen Provinzen waren die Deportationen meist von systematischen Massakers begleitet, durch die hauptsächlich die männliche Bevölkerung, zum nicht geringen Teil auch Frauen und Kinder vernichtet wurden.
Von offizieller türkischer Seite ist die Zahl der getöteten Armenier auf 300 000 angegeben worden. Rechnet man hinzu, was von den Massen der Deportierten unterwegs und am Verschickungsziel durch Hunger und Krankheit umgekommen ist, so muß der Verlust an Menschenleben weit höher veranschlagt werden.
Nimmt man an, daß von den acht- bis neunhunderttausend Deportierten noch ein Drittel auf der Landstraße liegt, in muhammedanische Dörfer versprengt oder in die Berge geflüchtet ist, so bleiben sechshunderttausend, zumeist Frauen und Kinder, die am Ziel der Verschickung in der mesopotamischen Wüste angekommen sein müßten.
Von der türkischen Regierung wurde die Maßregel der Deportation als »Ansiedlung nicht einwandfreier Familien in Mesopotamien« charakterisiert. Eine Ansiedlung würde erfordern, daß den Deportierten Land, Häuser, Vieh, Ackergerät, Saatgut usw. zugewiesen würde. Nichts dergleichen ist geschehen.
Die Expropriation betraf anderthalb Millionen Untertanen der Türkei, die Aecker, Häuser, Werkstätten, Kaufläden, Hausrat usw. besaßen. Sie mußten alles zurücklassen. Auf Entschädigung können sie nicht hoffen. Für einen Unterhalt der Ueberlebenden wird, von geringen Ausnahmen abgesehen, nicht gesorgt, so daß sie auf den Bettel angewiesen sind und in steigender Zahl dem Tode durch Hunger und Krankheit verfallen.
Da 80 Prozent des armenischen Volkes Ackerbauer waren, bleibt ein beträchtlicher Teil der sonst bebauten Bodenfläche der Türkei unbestellt, so daß auch die muhammedanische Bevölkerung dieser Gebiete von einer Hungersnot bedroht ist.
Den Schaden der Vernichtung des Wohlstandes der armenischen Nation trägt außer dem osmanischen Reich auch der deutsche Handel. Die Armenier hatten über 60 Prozent des Imports, 40 Prozent des Exports, wenigstens 80 Prozent des inländischen Handels und den größten Teil der Handwerke und freien Berufe in Händen. Die Arbeiter und Angestellten der deutschen Firmen in der Türkei waren größtenteils Armenier.
Gregorianer, Katholiken und Protestanten wurden gleichermaßen betroffen. Die Organisation der Kirche ist zerstört. Dem Patriarchat wurde die geistliche Versorgung der Deportierten nicht gestattet. Ueber tausend Kirchen stehen leer. Sie werden, wenn nicht zu profanen Zwecken verwendet, in Moscheen verwandelt oder dem Verfall überlassen.
Das blühende Schulwesen des armenischen Volkes, das mehr als 120 000 Volksschüler Die Gesamtzahl der Schüler in den türkischen Regierungsvolksschulen beträgt nach offizieller türkischer Statistik nur 242 069 Schüler und Schülerinnen. zählte, ist vernichtet. Schulgebäude und Schulmittel sind konfisziert, die Lehrer vielfach getötet, die Lehrerinnen verschleppt oder verschickt.
Selbst die Familien hat man auseinandergerissen und die Männer von den Frauen, die Kinder von den Eltern getrennt.
Die politischen Folgen der Vernichtung der armenischen Nation treten jetzt schon zutage. Die russischen Armenier des Kaukasus, ca. 1½ Millionen, hatten bisher keinen Grund, sich mit Rußland zu identifizieren. Sie wünschten vielmehr die Erhaltung der Türkei, die ihrer Nation mehr Bürgschaften für den Fortbestand ihrer Kirche, Schule, Sprache und nationalen Sitte zu gewähren schien als Rußland. Durch die Verfolgung der Armenier in der Türkei wurden die russischen Armenier genötigt, sich Rußland in die Arme zu werfen. Von den syrischen Nestorianern gilt das gleiche.
Die moralischen Folgen der armenischen Massakers und Deportationen werden erst nach dem Kriege fühlbar werden. Die Welt wird sich nicht davon überzeugen lassen, daß strategische Rücksichten die Deportation einer halben Million von Frauen und Kindern, Massenkonversionen zum Islam und die Vernichtung Hunderttausender von Wehrlosen erforderten.
Alle Bemühungen, die Türkei wirtschaftlich und kulturell zu heben, werden durch die Expropriierung des intelligenten und fleißigen armenischen Volkes und durch die Vernichtung der wertvollsten Arbeitskräfte der Türkei aufs schwerste geschädigt werden.
Die politischen Führer des armenischen Volkes hatten sich nicht nur aller illoyalen Handlungen gegen die türkische Regierung enthalten, sondern schon seit Begründung der Verfassung die gegenwärtig herrschende jungtürkische Partei unterstützt. Die armenischen Intellektuellen werden nicht unterlassen, die völlige Aufklärung der Vorgänge herbeizuführen, denn sie sind der Überzeugung, daß die vernichtenden Maßregeln, die ihr Volk betroffen haben, in den panislamischen Tendenzen der gegenwärtigen türkischen Regierung und nicht in illoyalen Handlungen des armenischen Volkes begründet sind.
Der Verfasser ist für jede Berichtigung und Vervollständigung des Materials dankbar.