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9. Russische und türkische Zeugnisse.

Die loyale Haltung der Armenier der Türkei und der Daschnakzagan insbesondere läßt sich noch von zwei anderen Seiten her überzeugend beweisen.

Die russische Zensur hatte während des Krieges den Armeniern freigestellt, sich offen über ihre nationalen Wünsche auszusprechen. Eine lebhafte Diskussion fand in der Presse zwischen den Vertretern der großrussischen Expansionspolitik und führenden armenischen Politikern statt. Die russischen Politiker traten ganz offen für die Annexion von Türkisch-Armenien und die Einverleibung mindestens der ostanatolischen Wilajets in Rußland ein. Gegen diese Pläne brachte die armenische Presse (»Horizon«, »Arew« u. a.) ihren lebhaften Widerspruch zum Ausdruck. Der linksliberale Dumaabgeordnete Adschemoff, ein namentlich in Südrußland einflußreicher armenischer Politiker, erklärte im »Petrogradski Kurier«: Die Türkei könne und dürfe auch nach dem Kriege nicht aufhören zu existieren. Sowohl Rußland, das viele Millionen Muhammedaner als Untertanen zählt, als auch England müßten das Khalifat erhalten. Die Armenier seien für ihre nationalen Aufgaben auf die Erhaltung der türkischen Souveränität angewiesen. Der Sekretär des armenischen Komitees in Moskau K.B. Kussikjan erklärte, die innere Gestaltung von Türkisch-Armenien sei Sache der türkischen Armenier und könne nicht nach russischen Wünschen geordnet werden. – Zuletzt griff der Kadettenführer Miljukow im »Rjetsch« in die Diskussion ein und machte den armenischen Politikern zum Vorwurf, daß sie keineswegs nur aus taktischen Gründen mit Rücksicht auf ihre armenischen Brüder in der Türkei die Erhaltung der Souveränität der Türkei für Türkisch-Armenien wünschten, es sei vielmehr ersichtlich, daß sie im Interesse ihres nationalen Programms für die Erhaltung der Türkei einträten. »Ich sehe mich zu der Schlußfolgerung gezwungen«, sagte Miljukow, »daß die Idee der Erhaltung der türkischen Souveränität kein zufälliger und vorübergehender, sondern ein innerlich begründeter und dauernder Bestandteil des nationalen Programms (der Armenier) ist. Ich sage offen, ich betrachte diesen Standpunkt, sowohl für die armenischen, als auch für die russischen Interessen als schädlich und gefährlich und halte eine entsprechende Revision des nationalen Programms der Armenier für unbedingt notwendig.«

Aus diesen Worten ist ersichtlich, daß zwischen den russischen und armenischen Wünschen durchaus kein Einverständnis herrschte. Das nationale Programm der Daschnakzagan wollte und will selbst heute noch die Erhaltung der Türkei unter der Souveränität des Sultans, unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß das zertrümmerte armenische Volk wiederhergestellt wird und seine geraubten Güter zurückempfängt. Dies Programm steht dem großrussichen Expansionswillen im Wege; seine Vereitelung ist notwendig, um die russischen Wünsche zu erfüllen. Die Aufgabe der türkischen Politik wäre es gewesen, sich das grundsätzliche Widerstreben der türkischen Armenier gegen den Gedanken einer Einverleibung in Rußland zunutze zu machen und gerade das armenische Element als starke Grenzwacht gegen den Kaukasus zu benützen. Das zentralistische Programm des Komitees hat genau so wie im Falle Albaniens die vernünftigen Interessen der kleineren Nationalitäten einem fanatischen Panturkismus geopfert und die zuverlässigsten Stützen einer gesunden Reichspolitik zerbrochen, um der Donquichoterie eines panislamischen Weltreiches nachzujagen.

Wie von russischer Seite, so liegen auch von türkischer Seite unwillkürliche Zeugnisse für die Loyalität der Armenier gegenüber der türkischen Regierung vor.

Scherif Pascha, einer der Führer der türkischen Opposition, hat unter dem 10. September einen Brief an die Redaktion des »Journal de Genève« (Nr. vom 18. Sept.) gerichtet. In diesem Brief spricht er seine Entrüstung über die Verfolgung der Armenier aus und beklagt die Vernichtung einer Rasse, die so große kulturelle Leistungen hervorgebracht habe und der Türkei als Träger moderner Zivilisationsbestrebungen unentbehrlich gewesen sei.

»Wenn es eine Rasse gibt«, schreibt er, »die durch ihre Treue, durch die Dienste, die ihre talentvollen Staatsmänner und Beamten dem Lande geleistet haben, durch die Intelligenz, die sie auf allen Gebieten, im Handel, in der Industrie, in der Wissenschaft, und in den Künsten, bewiesen haben, uns Türken nahe stehen, so sind es die Armenier. Sie sind es, die den Buchdruck und die dramatische Kunst in die Türkei eingeführt haben. Ihre Dichter, ihre Schriftsteller, ihre großen Finanzmänner sind nicht zu zählen, viele unter ihren großen Geistern, wie in alten Zeiten der Historiker Moses von Chorene und der Dichter Aristarch von Lasdiverde, den man mit Jeremias verglichen hat, oder in unseren Tagen Raffi, Sundugiantz, Schirwansadeh, Aharonian, Tschobanian, Novayr und Dutzende von anderen würden jedem westlichen Lande zur Ehre gereichen. War nicht Odian, der Mitarbeiter Midhat Paschas, des Urhebers der ottomanischen Konstitution, ein Armenier? Jeffrem Khan, »der Garibaldi des Ostens« wurde der Heros der persischen Konstitution, die von einem andern Armenier Malkolm Khan vorbreitet worden war, und gerechterweise muß man anerkennen, daß ebenso wie in Persien, auch in der Türkei die Armenier einen wesentlichen Anteil an dem Sturz des despotischen Regimes und an der Einführung der Konstitution gehabt haben.

Es gibt nicht einen aufgeklärten Türken, der nicht das Urteil, das der bekannte Parlamentarier Lynch vor 13 Jahren gefällt hat, unterschriebe:

»Die Armenier sind ganz besonders dazu befähigt, die Vermittler der neuen Zivilisation zu sein. Sie haben sich mit unseren höchsten Idealen vertraut gemacht und eignen sich alle neuen Errungenschaften der europäischen Kultur so unermüdlich und vollkommen an, daß darin keine andere Nation ihnen gleichkommen konnte.« Es ist nur wenig bekannt, daß die literaische Renaissance, die die Armenier des Kaukasus in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ihrer Nation geschenkt haben, aufs Stärkste durch den deutschen Idealismus beeinflußt worden ist. Ihre Führer haben zu den Füßen deutscher Professoren in Dorpat gesessen und unsere klassischen Dichter ins Armenische übersetzt.

Wenn man nun bedenkt, daß ein so hochbegabtes Volk, das das wohltätigste Ferment in der Erneuerung des Osmanischen Reiches hätte werden können, auf dem Punkte steht, aus der Geschichte zu verschwinden, nicht nur unterdrückt, sondern vernichtet zu werden, so muß das Herz auch des Unempfindlichsten bluten. Ich möchte meinesteils hierduch dieser geopferten und sterbenden Nation meinen Zorn gegen ihre Henker und mein unendliches Mitleid für ihre Opfer aussprechen.«

Nach diesen Äußerungen ergeht sich Scherif Pascha in den heftigsten Vorwürfen gegen die Partei der Daschnakzagan, die sich seit sechs Jahren (d. h. seit der Spaltung der Jungtürken in Ittihad und Ittilaf) » zu Parteigängern und Schildhaltern des jungtürkischen Komitees hergegeben haben«. »Wie oft«, schließt er, »habe ich sie vor den Unionisten (dem Komiteee für Einheit und Fortschritt) gewarnt, deren schwarze Seele ich kenne. Mindestens hätten die Massakers von Adana, die auf den Befehl des Komitees veranstaltet wurden, die Daschnakzan auf den Boden der Wirklichkeit zurückführen müssen. Dadurch, daß sie sich mit der Politik des Komitees für Einheit und Fortschritt solidarisch erklärten, haben sie die Sache ihrer Nation, statt sie zu retten, verraten.« Gerade damit, daß Scherif Pascha den Daschnakzagan ihre Anhänglichkeit an die gegenwärtige Regierung zum Vorwurf macht, beweist er indirekt ihre Loyalität. Eben diese Loyalität, die er als eine Dummheit und als ein Verbrechen charakterisiert, macht er für den Untergang des armenischen Volkes verantwortlich.

Ein andrer Führer der türkischen liberalen Opposition, Ismail Hakki von Gümüldschina, schreibt in der türkischen Zeitung Bejan ül Hakk die gegenwärtig in Saloniki erscheint:

»Jede gewaltsame Unterdrückung, gegen welchen Teil der Bevölkerung sie auch ausgeübt werden möchte, ist unverzeihlich. Verfolgungen, die sich gegen eine friedliche Bevölkerung richten, sind barbarisch und gewissenlos. Solche Dinge stillschweigend mitanzusehen, heißt sich an ihnen mitschuldig machen. Gegen die im Osmanischen Reich lebenden Griechen und in besonderem Maße gegen die Armenier werden die schrecklichsten Verbrechen begangen. Die menschliche Sprache und Feder sind unvermögend, auch nur den hundertsten Teil der Tatsachen wiederzugeben. Falsche Patrioten und kurzsichtige Politiker bemühen sich, die in der Türkei herrschenden Zustände zu verschleiern. Aber wir, als wahre Osmanen, rufen heute der Menschheit und dem zivilisierten Europa zu, daß die gegen die Armenier und Griechen verübten Verfolgungen weit entsetzlichere Dimensionen angenommen haben, als es aus den Darstellungen der Presse zu ersehen ist. Die Armenier und Griechen werden unbarmherzig verfolgt. Ihr Leben, Gut und Ehre sind in beständiger Gefahr. Tag für Tag werden Hunderte von Armeniern in entlegenen Gegenden getötet. Wir nehmen mit ganzem Herzen Anteil an dem Unglück unserer Landsleute.«

Obwohl Scherif Pascha und Ismail von Gümüldschina der türkischen Opposition angehören, darf man die Bedeutung und den Ernst dieser Kundgebungen nicht unterschätzen. Denn sogar in den osmanischen Vertretungskörpern macht sich in wachsendem Maße die Erregung türkischer Kreise Luft, die die Vernichtung der Armenier verurteilen.

Eine Interpellation des früheren Kammerpräsidenten Achmed Riza, des Begründers des konstitutionellen Regimes, wegen der Armenierverfolgungen rief im Senat einen Sturm hervor. Viele Senatoren stehen auf Seiten Achmed Rizas. Die Interpellation wurde nur unter der Bedingung zurückgezogen, daß die Armenierfrage durch eine besondere Delegation vor die Kammer gebracht werden sollte. Chef der Delegation wurde der offizielle Historiograph Abdurrachmann Bey, der seit kurzem Präsident des Senats ist.

Bei der Eröffnung der Kammer hielt Achmed Riza eine Rede, die sich in den stärksten Vorwürfen gegen die Regierung erging. Er protestierte gegen die Armeniermetzeleien und gegen die Ausplünderung des Volkes, der sich das »Komitee für Nationale Verteidigung« schuldig mache. Talaat Bey, der Minister des Innern, begnügte sich mit der Erklärung, daß die Regierung auf die angeregten Fragen nicht antworten könne, da eine öffentliche Erörterung den Interessen des Reiches schaden würde.


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