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Zweiter Teil.
Die Schuldfrage.


1. Der Charakter der Ereignisse.

Aus unserm Bericht geht unzweifelhaft hervor, daß die Deportation von der Zentralregierung in Konstantinopel angeordnet und durchgeführt worden ist. Eine so umfassende Maßregel, die sich auf ein Gebiet von 880 000 Quadratkilometer erstreckt (Armenien, Kurdistan, Klein-Asien, Nordsyrien und Mesopotamien, d. h. auf ein Gebiet, das ebenso groß ist als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammengenommen), kann nicht irgendwelche zufälligen und unkontrollierbaren Ursprünge gehabt haben.

Es ist in der deutschen Presse, die mangels eigner Nachrichten auf Vermutungen angewiesen war und ihre Urteile über Dinge, die »hinten in der Türkei« vor sich gehen, mehr aus der Phantasie, als aus der Kenntnis von Tatsachen schöpfen mußte, lang und breit ausgeführt worden, daß es sich bei den armenischen Massakers und Deportationen um Dinge handle, die etwa mit den Judenverfolgungen des Mittelalters zu vergleichen seien. »Der Ottomane ist arglos und gutmütig« schreibt Graf Reventlow in der ›Deutschen Tageszeitung‹, »er bietet ein überaus bequemes Objekt zur Ausnutzung bis zu einem gewissen Augenblick und Grade, wo ihn die Verzweiflung erfaßt und er sich mit Gewalt gegen seine Peiniger erhebt. Wie bedauerlich an sich, vom Standpunkt der Zivilisation gesehen, solche gesetzlose Selbsthilfe sein mag, so liegt doch auf der Hand, daß gerade die Armenier ... am wenigsten Mitleid und gefühlvolle Erregung der Kulturwelt verdienen.« Natürlich ist dem Verfasser unbekannt, daß 80 v. H. der armenischen Bevölkerung, und zwar gerade diejenigen, die in erster Linie von der Deportation betroffen wurden, Bauern sind, die sich vermutlich nicht mit der Aussaugung der ihnen benachbarten räuberischen Kurden abgegeben haben. Auch beruht alles, was man von der deutschen Presse über Charakter und Bedeutung des armenischen Handels als selbstverständliches und nicht erst zu beweisendes Urteil zu lesen gewohnt ist, auf nicht mehr als der Kenntnis einer Redensart, die im Orient je nach Bedarf abwechselnd auf Armenier, Juden oder Griechen angewendet wird. Die Grundannahme aber, daß es sich bei der Deportation und Vernichtung des armenischen Volkes um »gesetzlose Selbsthilfe« handle, ist so sehr aus der Luft gegriffen, daß sie nicht erst der Wiederlegung bedarf.

Eine beträchtliche Anzahl von Regierungsbeamten im Innern, wie der Wali Djelal Bey in Aleppo, der Wali Nachmi Bey in Smyrna, der Wali Djelal Bey in Erzerum die Mutessarifs von Malatia Nabi Bey und Reschid Pascha und viele Kaimakams, haben sich mit oder ohne Erfolg gegen die Durchführung der Maßregel gesträubt. Die türkische Bevölkerung, die überall in Frieden mit den Armeniern lebte, hat sich vielfältig gegen die Deportation ihrer Mitbürger aufgelehnt und gegen deren Vernichtung bei den Behörden Verwahrung eingelegt. Die Bevölkerung von Erzerum hat eine Eingabe an die Zentralregierung gemacht. Die Türken von Alaschkert telegraphierten nach Konstantinopel und erhoben Einspruch gegen die Behandlung der Armenier. Die Türken von Wan haben ihre armenischen Mitbürger wissen lassen, daß sie nur gezwungen gegen sie kämpften; ein unberücksicht gebliebener Protest wurde von mehreren vornehmen Türken gegen den von dem Gouverneur angestifteteten Bürgerkrieg erhoben. In mehreren Orten von Nikomedien hat die Bevölkerung den Abzug der Armenier zu verhindern versucht. In Adabasar versammelten sich die Muhammedaner der Stadt am Bahnhof, um sich der Verschickung zu widersetzen. Dasselbe geschah in Mudania, so daß der Befehl zunächst zurückgenommen wurde. In einem Dorf in der Nähe von Kaisarije weigerten sich die Türken, die im besten Einvernehmen mit ihren christlichen Nachbarn lebten, die Armenier ziehen zu lassen und erklärten dem Kaimakam, wenn er die Deportation ausführen würde, würden sie mitgehen. Auch hier mußte der Kaimakam den Deportationsbefehl vorläufig zurücknehmen. Der Pöbel in den Städten hat sich zwar, soweit es die Regierung zuließ, an der Plünderung armenischer Habseligkeiten beteiligt, nirgends aber handelte es sich dabei um einen Ausbruch von Volksleidenschaften, sondern um eine willkommene Gelegenheit zum Diebstahl. Denn die Regierung war es, die Äcker, Häuser, Warenbestände und Hauseinrichtungen der Deportierten mit Beschlag belegte und nach dem Abzug zu Spottpreisen verauktionierte.

Was geschehen ist, ist eine im größtem Maßstabe durchgeführte Expropriation von anderthalb Millionen Staatsbürgern, die durch ihre zähe Arbeitskraft am meisten zur Hebung der wirtschaftlichen Kultur beigetragen hatten.

Die europäische Vorstellung, daß die verschiedenen Religions- und Rassenelemente der Türkei nicht im Frieden miteinander zu leben vermöchten, ist grundfalsch. Die Bevölkerung hat seit Jahrhunderten zusammengelebt. Ebenso so wie Muhammedaner und Christen in Bosnien und der Herzegowina friedlich beisammen wohnen, würden Araber und Syrer, Armenier und Kurden, Türken und Griechen, Drusen und Maroniten im schönsten Frieden zusammenleben und zusammenarbeiten, wenn es etwas einer europäischen Regierung Ähnliches in der Türkei gäbe. Die alte Regierungsweisheit der türkischen Sultane war das divide et impera, ein Grundsatz, durch den die Bevölkerung der Türkei allmählich auf den vierten Teil ihres ursprünglichen Bestandes herunter dividiert worden ist. Die jetzige Maßregel der türkischen Regierung, die das dünnbesäte Land aufs neue entvölkert, ist dagegen nicht durch Aufhetzung der Bevölkerungsteile gegeneinander, sondern auf dem Verwaltungswege, zustande gekommen.

Wir sind in den Berichten wiederholt der Tatsache begegnet, daß die Provinzialregierung in ihren Anordnungen sei es gehemmt sei es gefördert wurde durch Organe einer Nebenregierung, die, obwohl unverantwortlich, doch den Charakter einer höheren Instanz trug. Es ist die Organisation der Klubs des »Komitees für Einheit und Fortschritt«, die tatsächlich ebenso, wie einst das Spionagesystem Abdul Hamids, die Regierungshandlungen im Innern entscheidend bestimmt. Diese Organisation ist nicht eine Parteiorganisation im europäischen Sinne, denn sie besteht nur aus Führern und hat keine Volksmassen hinter sich. Sie ist nur eine dünne Schicht türkischer Intellektueller und ihrer Werkzeuge. Vor der Niederschlagung der türkischen Opposition im Jahre 1912 hatte die gegenwärtige Organisation noch mit einem Widerstande von Seiten der Anhänger der liberalen Opposition und der vornehmen Alttürken zu rechnen. Zur Zeit besitzt sie die Alleinherrschaft und sorgt dafür, daß bei den Wahlen nur die von dem »Komitee für Einheit und Fortschritt« bezeichneten Kandidaten gewählt werden. Eine Opposition im türkischen Parlament gibt es vorläufig nicht. Obwohl nur der Regierungsapparat, mit dem die militärischen Behörden zusammenwirken, eine Maßregel, wie die der Expropriation und Deportation des armenischen Volkes durchführen konnte, so war doch augenscheinlich das »Komitee für Einheit und Fortschritt« und seine Organe in den Provinzen die Seele des ganzen Unternehmens. Es sorgte dafür, daß die Dinge nach Wunsch vonstatten gingen und nirgends durch Regungen des Wohlwollens oder der Menschlichkeit gehemmt wurden. Insbesondere lag auch die Organisation der Banden, für die alle nur brauchbaren Elemente, Kurdenstämme, berüchtigte Räuberbanden und entlassene Sträflinge, verwendet wurden, in den Händen der jungtürkischen Klubs. Die türkische Bevölkerung ist von dem Vorwurf freizusprechen, daß sie »in gesetzloser Selbsthilfe« sich an ihren armenischen Mitbürgern, mit denen sie im Frieden lebte, vergriffen habe. Es braucht aber nicht erst gesagt zu werden, daß die systematisch organisierten Kurdenhorden und Verbrecherbanden, die auf die Deportierten losgelassen wurden, nicht lange eingeladen zu werden brauchten, nach ihren eigenen Gelüsten mit den unglücklichen Opfern der Deportation zu verfahren. Die große Masse der Erschlagenen kommt aber nicht auf Rechnung dieser legalisierten gesetzlosen Elemente, sondern auf Rechnung der Regierungsorgane, der Gendarmerie und der türkischen Milizen.


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