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Die Deportation der armenischen Bevölkerung von Cilicien (Wilajet Adana und Sandschak Marasch) begann mit Vorfällen, die sich in der Stadt Zeitun im Taurus abspielten.
50 km nördlich von Marasch, liegt in einem Hochtal des Taurus. Die starke armenische Bevölkerung der Stadt hatte bis in die siebziger Jahre eine gewisse Unabhängigkeit und Selbstverwaltung, ähnlich wie noch heute die kurdischen Aschirets (Stämme) in Kurdistan. Zur Zeit des Massakers unter Abdul Hamid gelang es den Einwohnern von Zeitun, sich gegen die umwohnenden Türken zur Wehr zu setzen und sich gegen türkische Truppen, die herangezogen wurden, mehrere Wochen zu behaupten, bis die Konsuln der Mächte intervenierten und den Bewohnern von Zeitun eine Amnestie verschafften. Dieser Erfolg des Widerstandes der Zeituner Bevölkerung bewirkte, daß sie von dem allgemeinen Massaker von 1895/96 verschont blieben, richtete aber den dauernden Argwohn der Behörden gegen sie. Schon seit Ausbruch des europäischen Krieges scheint der Wunsch bei den Behörden bestanden zu haben, das Bergnest von Zeitun bei guter Gelegenheit auszuheben.
Bei der allgemeinen Mobilmachung im August 1914 wurden auch die wehrfähigen Armenier von Zeitun eingezogen, ohne daß sich irgend ein Widerstand dagegen erhob. Als aber im Oktober der Vorsteher der Gemeinde von Zeitun, Nazaret Tschausch, mit einem Geleitsbrief des türkischen Kaimakam (Landrat) nach Marasch kam, um dort amtliche Fragen zu ordnen, wurde er trotz freien Geleits ins Gefängnis geworfen, wo er gefoltert wurde und starb. Gleichwohl verhielten sich die Leute von Zeitun ruhig. Es schien aber, als ob die Behörden Anlaß zum Einschreiten suchten. Saptiehs (türkische Gendarmen), die in der Stadt den Sicherheitsdienst hatten, belästigten die Einwohner, drangen in die Häuser ein, plünderten Magazine, mißhandelten harmlose Leute und entehrten Frauen. Die Einwohner von Zeitun bekamen den Eindruck, daß man etwas gegen sie vorhabe, blieben aber ruhig. Im Dezember 1914 wurde die Auslieferung aller Waffen angeordnet, was ohne Zwischenfall erfolgte. Hätten in irgend einem späteren Zeitpunkt die Armenier von Zeitun noch an Widerstand gedacht, so wären sie nach der Entwaffnung dazu nicht mehr imstande gewesen. Es blieb denn auch den ganzen Winter über ruhig in Zeitun. Da geschah es im Frühjahr, daß türkische Gendarmen armenische Mädchen entehrten, wobei es zu einer Schlägerei kam, an der sich etwa 20 armenische Hitzköpfe beteiligten und auf beiden Seiten einige getötet wurden. Die beteiligten Armenier, unter denen sich einige Deserteure befanden, flohen, um der Bestrafung zu entgehen, in ein Kloster, das dreiviertel Stunden nördlich von der Stadt liegt, wo sie sich verbarrikadierten.
Zum Erstaunen und Schrecken der Bewohner von Zeitun kam bald darauf, es war Anfang März 1915, ein großes militärisches Aufgebot, – man sprach von vier bis sechs Tausend Soldaten – von Aleppo nach Zeitun. Das Aufgebot von Militär gegen Zeitun erregte in ganz Cilicien die größte Besorgnis.
Der armenische Katholikos von Sis schreibt unter dem 3./16. März an das Patriarchat: »Die Regierung hat Maßregeln gegen Flüchtlinge aus Zeitun getroffen. Da diese Maßregeln mit einer außergewöhnlich umfangreichen militärischen Aktion verbunden sind, die in keinem Verhältnis zu dem geringfügigen Anlaß steht, fürchten wir, daß es sich um einen Schlag gegen die loyale Bevölkerung von Zeitun handelt. Wir sind sicher, daß uns ein großes Unglück erwartet. Der aus Offizieren zusammengesetzte Kriegsgerichtshof ist vor zwei Tagen über Marasch nach Zeitun abgereist. Wir kennen die näheren Umstände nicht. Aber wir sehen deutlich, daß der Kaimakam mit dem Kommandanten von Zeitun aus Anlaß einiger Desertationen unerhörte Repressalien gegen die Einwohner von Zeitun vorbereitet. Die Einwohner von Zeitun haben sich an mich gewendet und sagen, daß die benachbarten türkischen Dörfer von der Lage Nutzen ziehen und mit Herausforderungen und Lügen auf den Kommandanten, den Kaimakam und das Militär einzuwirken suchen. Da wir diese Leute und den Mutessarif von Marasch kennen, haben wir gebeten, Seine Exzellenz Djelal Bey, den Wali von Aleppo, mit der Prüfung der Vorkommnisse zu beauftragen. Er kennt alle Verhältnisse, und wir vertrauen ihm unbedingt. Wird er mit der Untersuchung beauftragt, so sind wir sicher, daß er nach Gerechtigkeit verfahren wird.«
Der Wali Djelal Bey wurde nicht mit der Untersuchung beauftragt, sondern abberufen, weil er sich den Anordnungen der Zentralregierung in bezug auf die Behandlung der Armenier nicht fügte.
Zeitun wurde zerniert. Beim Anblick der zahlreichen Truppen wurden in der Stadt weiße Fahnen aufgezogen, zum Zeichen, daß man an keinen Widerstand denke. Die Flüchtlinge im Kloster verteidigten sich einen ganzen Tag und töteten, da sie in guter Deckung waren und gut schossen, eine größere Anzahl von Soldaten, während sie selbst nur einen Verwundeten hatten. Die Leute von Zeitun baten ausdrücklich den Kommandanten, die Flüchtlinge nicht entschlüpfen zu lassen, damit sie nicht für deren Missetaten haftbar gemacht würden. Gleichwohl gelang es den Flüchtlingen, da die Bewachung in der Nacht eine ungenügende war, zu entkommen. Am nächsten Morgen gegen 9 Uhr, ehe noch ihr Entkommen in der Stadt bekannt war, ließ der Kommandant 300 Notable der Stadt zu einer Besprechung in das Lager rufen. Da man bis dahin in gutem Einvernehmen mit den Behörden gelebt hatte, erschienen die Zusammengerufenen, ohne einen Verdacht zu hegen. Die meisten kamen in ihrem gewöhnlichen Arbeitsanzug, nur einige hatten etwas Geld bei sich und hatten sich besser gekleidet. Zum Teil kamen sie von ihren Herden in den Bergen herein. Als sie in das türkische Lager kamen, waren sie nicht wenig erstaunt, als sie hörten, daß sie nicht in die Stadt zurückkehren dürften und ohne weiteres verschickt werden würden. Sie durften sich nicht einmal mit dem Notwendigen für die Reise versehen. Einigen wurde noch gestattet, sich Wagen kommen zu lassen, die meisten gingen zu Fuß. Wohin, wußten sie nicht.
Darauf erfolgte stoßweise die Deportation der gesamten armenischen Bevölkerung von Zeitun, etwa 20 000 Seelen. Die Stadt hat vier Quartiere. Eins nach dem anderen wurde abgeführt, die Frauen und Kinder meist getrennt von den Männern. Nur 6 Armenier mußten zurückbleiben, von jedem Handwerk einer.
Die Deportation dauerte Wochen. In der zweiten Hälfte des Mai war Zeitun vollständig ausgeleert. Von den Einwohnern von Zeitun wurden 6 bis 8 Tausend in die Sumpfdistrikte von Karabunar und Suleimanie zwischen Konia und Eregli, im Wilajet Konia, 15 bis 16 Tausend nach Deir-es-Sor am Euphrat in die mesopotamische Steppe verschickt. Endlose Karawanen zogen durch Marasch, Adana und Aleppo. Die Ernährung war eine ungenügende. Für ihre Ansiedlung oder auch nur Unterbringung am Ziel ihrer Verschickung geschah nichts.
Ein Augenzeuge, der in Marasch die Deportierten durchkommen sah, beschreibt in einem Brief vom 10. Mai einen solchen Zug:
»Ich sah sie auf dem Wege. Ein endloser Zug, begleitet von Gendarmen, die sie mit Stöcken vorwärts trieben. Halb bekleidet, entkräftet, schleppten sie sich mehr als daß sie gingen. Alte Frauen brachen zusammen und rafften sich wieder auf, wenn der Saptieh mit erhobenem Stock sich nahte. Andere wurden vorwärts gestoßen wie die Esel. Ich sah, wie eine junge Frau hinsank; der Saptieh gab ihr zwei, drei Schläge, und sie stand mühsam wieder auf. Vor ihr ging ihr Mann mit einem zwei- oder dreijährigen Kind auf dem Arm. Ein wenig weiter stolperte eine Alte und fiel in den Schmutz. Der Gendarm stieß sie zwei- oder dreimal mit seinem Knüttel. Sie rührte sich nicht. Dann gab er ihr zwei oder drei Fußtritte, aber sie blieb unbeweglich liegen. Zuletzt gab ihr der Türke noch einen kräftigeren Fußtritt, so daß sie in den Straßengraben rollte. Ich hoffe, sie war tot. Die Leute, die hier in der Stadt ankamen, haben seit zwei Tagen nichts gegessen. Die Türken erlaubten ihnen nicht, irgend etwas außer einer Decke, einem Maultier, einer Ziege mitzunehmen. Alles, was sie noch hatten, verkauften sie für so gut wie nichts, eine Ziege für 6 Piaster (90 Pfg.), ein Maultier für ein halbes Pfund, um sich Brot dafür zu kaufen. Die noch Geld hatten und Brot kaufen konnten, teilten es mit den Armen, bis ihr Geld zu Ende war. Das meiste war ihnen schon unterwegs gestohlen worden. Einer jungen Frau, die erst vor acht Tagen Mutter geworden war, hat man schon in der ersten Nacht der Reise ihren Esel genommen. Man zwang die Deportierten, alle ihre Habe in Zeitun zu lassen, damit die Muhadjirs (Einwanderer), muhammedanische Bosniaken, die man an ihrer Stelle ansiedeln will, sich gleich damit versehen können. Es müssen jetzt etwa 20 000 bis 25 000 Türken in Zeitun sein. Der Name der Stadt wurde in Sultanieh verändert. Die Stadt und die Dörfer um Zeitun sind vollständig ausgeleert. Von den ungefähr 25 000 Verschickten wurden 15 bis 16 000 nach Aleppo dirigiert, aber sie sollen von dort weiter gehen in die arabische Wüste. Will man sie dort Hungers sterben lassen? Die hier Durchgekommenen gehen ins Wilajet Konia. Auch da gibt es Wüsten. Zwei, drei Wochen blieben sie am Endpunkt der anatolischen Bahn bei Bosanti liegen, weil die Bahn durch Truppentransporte in Anspruch genommen war. Als die Verschickten in Konia ankamen, hatten sie seit drei Tagen nichts gegessen. Die Griechen und Armenier der Stadt taten sich zusammen, um sie mit Geld und Lebensmitteln zu unterstützen, aber der Wali von Konia weigerte sich, den Verschickten etwas zukommen zu lassen; »sie hätten alles, was sie brauchten«. So blieben sie noch weitere drei Tage ohne Nahrung. Dann erst hob der Wali sein Verbot auf, und unter der Überwachung von Saptiehs durften Nahrungsmittel an sie verteilt werden. Mein Berichterstatter erzählte mir, daß auf dem Wege von Konia nach Karabunar eine junge Armenierin ihr neugeborenes Kind, das sie nicht mehr nähren konnte, in einen Brunnen warf. Eine andere hätte ihr Kind durch das Fenster aus dem Zuge geworfen.«
Am 21. Mai schreibt derselbe Augenzeuge:
»Der dritte und letzte Zug von Leuten aus Zeitun ist durch unsere Stadt gekommen, am 13. Mai gegen 7 Uhr, und ich konnte einige von ihnen in dem Chan, wo sie untergebracht waren, sprechen. Sie waren alle zu Fuß und hatten zwei Tage lang, an denen es heftig regnete, nichts gegessen. Ich sah eine arme Kleine, die länger als eine Woche barfuß marschiert und nur mit einer zerfetzten Schürze bekleidet war. Sie zitterte vor Kälte und Hunger, und die Knochen standen ihr buchstäblich aus dem Leibe. Ein Dutzend Kinder mußten auf dem Wege liegen bleiben, da sie nicht weitermarschieren konnten. Ob sie vor Hunger gestorben sind? Wahrscheinlich. Aber man wird niemals etwas davon erfahren. Ich sah auch zwei arme Greisinnen aus Zeitun. Sie gehörten zu einer reichen Familie, aber sie durften außer den Kleidern, die sie am Leibe trugen, nichts mit sich nehmen. Es gelang ihnen noch 5 oder 6 Goldstücke in ihrer Perrücke zu verbergen. Unglücklicherweise spiegelte sich auf dem Marsch die Sonne in dem Metall, und der Glanz zog die Blicke eines Saptiehs an. Er verlor keine Zeit damit, die Goldstücke herauszuholen, und machte kurzen Prozeß, indem er ihnen die Perrücken abriß.
Noch einen anderen charakteristischen Fall sah ich mit meinen Augen. Ein ehemals reicher Bürger von Zeitun führte als Trümmer seiner Habe zwei Ziegen mit sich. Kommt ein Gendarm und greift in die beiden Zügel. Der Armenier bittet ihn, er möge sie ihm lassen, und fügt hinzu, er habe so schon nichts mehr, wovon er leben könne. Statt jeder Antwort schlägt ihn der Türke krumm und lahm, bis er sich im Staube wälzt und der Staub sich in blutigen Schlamm verwandelt. Dann gab er dem Armenier noch einen Fußtritt und zog mit den beiden Ziegen ab. Zwei andere Türken betrachteten sich dies Schauspiel, ohne mit der Wimper zu zucken. Keiner von ihnen kam auf den Gedanken, sich einzumischen.«
Über das Schicksal der Verbannten in Karabunar wird unter dem 14. Mai geschrieben:
»Ein Brief, den ich aus Karabunar erhielt, und dessen Wahrheit nicht anzuzweifeln ist, da der Verfasser mir bekannt ist, versichert, daß von den Armeniern, die in der Zahl von 6 bis 8 Tausend von Zeitun nach Karabunar verschickt worden sind, einem der ungesundesten Orte des Wilajets, dort täglich 150 bis 200 Hungers sterben. Die Malaria richtet Verheerungen unter ihnen an, da es vollkommen an Nahrung und Unterkunft fehlt. Welche grausame Ironie, daß die Regierung vorgibt, sie zu verschicken, damit sie dort eine Kolonie gründen; sie besitzen weder Pflug noch Saat, weder Brot noch Unterkunft, denn sie sind mit völlig leeren Händen verschickt worden.«
Als der Abtransport von Zeitun bereits im Gange war, begann man gegen Dört-Jol (Tschok Merzimen), in der Issus-Ebene am Golf von Alexandrette, vorzugehen. Nachdem fünf Armenier von Dört-Jol öffentlich in Adana gehängt waren, wurde die männliche Bevölkerung des volkreichen Ortes abgeführt, um an den Straßen zu arbeiten. Man hörte bald, daß vielfältig die wehrlosen Arbeiter von ihren bewaffneten muhammedanischen Kameraden erschlagen wurden. Als sich darauf die Männer von Dört-Jol weigerten, mit Muhammedanern zusammenzuarbeiten, sandte die Regierung Militär und schickte sie alle in die Gegend von Hadjin, um dort auf den Straßen zu arbeiten. Nur ein Armenier leistete Widerstand und tötete einen Gendarmen; darauf töteten die Gendarmen 6 Armenier. Von den zum Straßenbau verschickten Männern von Dört-Jol hat man nichts mehr gehört. Man fürchtet, daß sie sämtlich erschlagen wurden. Nachdem die Männer fort waren, wurden die Frauen und Kinder nach Deir-es-Sor deportiert und das Dorf völlig ausgeleert. Dört-Jol war außer Zeitun die einzige Ortschaft, die zur Zeit der Abdul Hamidischen Massakres sich mit Erfolg verteidigt hat. Dem hat sie wohl ihr jetziges Schicksal zu danken.
Nach der Ausleerung von Dört-Jol wurden im Laufe der Monate April, Mai, Juni und Juli nach und nach alle armenischen Distrikte des Wilajets Adana und des Sandschaks Marasch ausgeleert. Vom Wilajet Adana sind besonders zu nennen: im Sandschak Kozan die Städte Sis, Hadjin, Karsbasar, die Ortschaften Schehr und Rumlu; im Sandschak Djebel-Bereket die Ortschaften Osmanijeh, Hassanbeyli, Dengala, Harni, Drtadli, Tarpus, Ojakli, Enserli, Lapadschli. Im Sandschak Marasch außer Zeitun die Städte Albistan, Geben, Göksun, Furnus und die Ortschaften Taschuluk, Djiwikli, Tundatschak und sämtliche Alabaschdörfer. Bis Ende Juni betrug die Zahl der Deportierten aus diesem Gebiet schon 50 000.
Zum Zwecke der Einschüchterung wurden in Adana, Aleppo, Marasch gegen dreißig Armenier öffentlich gehängt. Unter den Gehängten befanden sich auch zwei Priester.
Die Dörfer erhielten in der Regel am Abend den Befehl, daß sie am nächsten Morgen abzumarschieren hätten. In Geben mußten die Einwohner am Waschtage aufbrechen, waren gezwungen, ihre nassen Kleider im Wasser zu lassen und barfuß und halbbekleidet, wie sie gingen und standen, sich auf den Weg zu machen. Die Männer standen meist im Felde. Wer zum Islam übertrat, durfte bleiben. Leute aus Alabasch erzählten, ihr Ort sei von Soldaten umzingelt und mit Platzpatronen beschossen worden. Die Leute von Schehr berichteten, daß, als sie kaum das Dorf verlassen hätten, der Mollah vom Dach der christlichen Kirche die »Gläubigen« zum Gebet rief. Die Kirche wurde in eine Moschee verwandelt. Die Regierung sagte den Leuten, wenn sie ihr Hab und Gut zurücklassen mußten, der Wert würde abgeschätzt und ihnen später ausgezahlt werden. Eine Inventarisierung ist aber bei der Plötzlichkeit des Aufbruchs selbstverständlich nicht vorgenommen worden, noch dachte die Regierung daran. Die Habe der Armenier ging an die ortsansässigen Muhammedaner, die Häuser und Äcker an neuangesiedelte »Muhadjirs« (Einwandrer) über.
»Die Türken sind in einem vollkommenen Delirium«, schreibt ein Berichterstatter. »Es ist unmöglich, die Schrecken zu beschreiben, die die Deportierten zu erdulden haben. Schändung, Raub von Frauen und Mädchen und gewaltsame Bekehrungen sind an der Tagesordnung. Eine große Anzahl von Familien sind zum Islam übergetreten, um dem sicheren Tode zu entgehen.«
Während von den cilicischen Städten und Dörfern keine verschont wurden, sind aus Adana nur 196 Familien deportiert worden, die merkwürdigerweise – man nimmt an auf Veranlassung des Oberkommandierenden in Syrien, Djemal Pascha, der früher Wali von Adana war – zum größten Teil wieder zurückgebracht wurden. Die Verschickung von Tarsus und Mersina verzögerte sich ebenfalls. Mersina wurde am 7. August deportiert. Nach neueren Nachrichten ist zuguterletzt auch die armenische Bevölkerung von Adana, ca. 18 000 Seelen, deportiert worden.
Die Transporte gingen nach Deir-Es-Sor und Konia, nach Rakka am Euphrat, sodann der Bagdadbahn entlang über Urfa und Weranscheher in die mesopotamische Wüste bis in die Nachbarschaft von Bagdad.
Ein anderer Bericht gibt aus dem Text des Regierungsbefehles den folgenden Passus wieder:
»Art. 2. Die Kommandeure der Armee von unabhängigen Armeekorps und von Divisionen dürfen im Fall militärischer Notwendigkeit und für den Fall, daß sie Spionage und Verrat vermuten (!), einzeln oder in Massen die Einwohner von Dörfern oder Städten fortschicken und sie an anderen Orten ansiedeln.«
Der Bericht fährt fort:
»Die Befehle der Kommandeure der Armee mögen noch leidlich human gewesen sein. Die Ausführung ist zum größten Teil sinnlos hart gewesen und in vielen Fällen von grauenhafter Brutalität gegen Frauen und Kinder, Kranke und Alte. Ganzen Dörfern wird die Deportation nur eine Stunde vorher angesagt. Keine Möglichkeit, die Reise vorzubereiten. In einigen Fällen nicht einmal Zeit, die zerstreuten Familienmitglieder zu sammeln, so daß kleine Kinder zurückblieben. In einigen Fällen konnten sie einen Teil ihrer dürftigen Haushaltseinrichtung oder landwirtschaftliche Geräte mitnehmen, aber meistenteils durften sie weder etwas mitnehmen noch etwas verkaufen, selbst wenn Zeit dazu war.
In Hadjin mußten wohlhabende Leute, die Nahrung und Bettzeug für den Weg zurechtgemacht hatten, es auf der Straße liegen lassen und hatten nachher bitter unter dem Hunger zu leiden.
In vielen Fällen wurden die Männer – die in militärpflichtigem Alter waren fast alle in der Armee – mit Seilen und Ketten fest aneinander gebunden. Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm oder in den letzten Tagen der Schwangerschaft wurden wie Vieh mit der Peitsche vorwärts getrieben. Drei verschiedene Fälle sind mir bekannt geworden, wo die Frau auf der Landstraße niederkam und an Verblutung starb, weil ihr brutaler Führer sie weiterhetzte. Ich weiß auch von einem Fall, wo der wachhabende Gendarm human war, der armen Frau ein paar Stunden Ruhe gönnte, und dann einen Wagen für sie besorgte, daß sie fahren konnte. Einige Frauen wurden so vollständig erschöpft und hoffnungslos, daß sie ihre kleinen Kinder auf der Straße liegen ließen. Viele Frauen und Mädchen sind vergewaltigt worden. In einem Ort hat der Gendarmerieoffizier den Männern, denen er eine ganze Schar Frauen zuwies, gesagt, es stände ihnen frei, mit den Frauen und Mädchen zu machen, was sie wollten.
Was den Lebensunterhalt betrifft, so war der Unterschied an den verschiedenen Orten groß. In einigen hat die Regierung sie verköstigt, in anderen den Einwohnern erlaubt, es zu tun. In manchen hat sie ihnen weder selbst etwas zu essen gegeben noch anderen erlaubt, es zu tun. Viel Hunger, Durst und Krankheit gab es und auch wirklichen Hungertod.
Die Leute werden hier in kleine Gruppen verteilt, 3 oder 4 Familien an einem Ort unter einer Bevölkerung anderer Rasse und anderer Religion, die eine andere Sprache spricht. Ich spreche von ihnen als Familien, aber vier Fünftel sind Frauen und Kinder, und was an Männern da ist, ist zum größten Teil alt und krank.
Wenn keine Mittel gefunden werden, ihnen durch die nächsten paar Monate durchzuhelfen, bis sie in ihrer neuen Umgebung eingerichtet sind, werden zwei Drittel oder drei Viertel von ihnen an Hunger und Krankheit sterben.«
Die Zahl der aus Cilicien deportierten Armenier beträgt mehr als 100 000.
Im Wilajet Aleppo wurden bis zum Mai Massakers und weitere Deportationen durch den Wali Djelal Bey, der das allgemeine Vertrauen bei Christen und Muhammedanern genoß, verhindert. Ihm ist es zu verdanken, daß, solange er im Amte war, aus den Städten seines Wilajets keine größeren Verschickungen stattfanden.
Im Verein mit dem Wali hat der deutsche Konsul in Aleppo Dr. Rößler sein Äußerstes getan, um das Vorgehen gegen die Armenier aufzuhalten und Maßregeln zur Linderung der Not zu treffen. Von armenischer Seite wird ihm bezeugt, (im Gegensatz zu völlig unbegründeten Beschuldigungen der französischen Presse), daß er ein geplantes Massaker durch seinen Besuch in Marasch verhindert und sich in jeder Beziehung den Dank der Gefährdeten und Notleidenden verdient habe.
Der Wali von Aleppo, Djelal Bey, der sich den Anordnungen der Zentralregierung, die die Deportation aller Armenier des Wilajets verlangte, nicht gefügt hatte, wurde nach Konia versetzt. An seine Stelle kam der frühere Wali von Wan, Bekir Sami Bey.
Dieser führte dann die Maßregel der Deportation auch für die noch verschonten Städte und Ortschaften des Wilajets durch.
Die armenische Bevölkerung von Marasch wurde Ende Mai, die von Aintab Ende Juli deportiert. In Urfa scheint ein Teil der Armenier sich der Deportation widersetzt zu haben. Zwischen dem 29. September und 16. Oktober kam es zu militärischem Einschreiten. Nähere Nachrichten liegen noch nicht vor.
Über Marasch wird geschrieben:
»Am Donnerstag den 24. Mai wurde den Armeniern mitgeteilt, sich bereit zu halten, am Sonnabend den 26. Mai aufzubrechen. Die Armenier wagen nicht, ihre Häuser zu verlassen. Über 2000 Armenier sind verschickt worden, unter ihnen der Leiter des amerikanischen Kolleges.«
In Aintab wurden Ende Mai dreißig Häuser ohne Erfolg durchsucht, 28 Notabeln verhaftet und wieder freigelassen bis auf ein Mitglied der Daschnakzagan.
Dies war aber nur das Vorspiel.
Dr. Shepherd, der im ganzen Lande bekannte hervorragende amerikanische Chirurg, Chef der ärztlichen Missionsinstitute in Aintab, der seit Jahrzehnten in der Türkei lebt und bei Muhammedanern und Christen gleich angesehen ist, hat über das Schicksal von Aintab die folgenden Nachrichten gegeben, die einem Auszuge seines Berichtes entnommen sind.
»In Aintab wurde am 21. Juli der Deportationsbefehl für 60 Familien gegeben. Einige Tage danach kam ein zweiter Befehl für weitere 70 Familien. In der Folge wurden noch 1500 und darauf noch 1000 Personen verschickt, so daß die armenische Bevölkerung von Aintab vollständig ausgeräumt ist. Alle Bemühungen, die amerikanischen Institute (ihre armenischen Lehrerfamilien und Angestellten, Schüler und Schülerinnen) von dieser Maßregel auszunehmen, sind ohne Erfolg geblieben. Den Deportierten wurde verboten, auch nur die allernötigsten Sachen, außer einem Lasttier, mitzunehmen.
Schwache Versuche eines Widerstandes haben nur bei Marasch stattgefunden infolge der Tötung eines Gendarmen, der nach Fendenjak (einem armenischen Dorf im Amanusgebirge) gesandt wurde, um dort die Austreibung vorzunehmen. Die Regierung schickte sofort 3 Abteilungen Soldaten, die das Dorf in Asche legten.
In Cilicien vollzog sich die Deportation verhältnismäßig noch unter den günstigsten Bedingungen. Zwar steht fest, daß alle Verbannten von Briganten geplündert worden sind, aber der Raub und die Mordtaten nahmen nicht einen so großen Maßstab an wie in den hocharmenischen Provinzen.
Der größte Teil der aus Cilicien Verschickten befindet sich in Deir-es-Sor, wo bereits 15 000 Armenier angekommen sind. Die ausgedehnten und von der Trockenheit verbrannten Wüsten von Deir-es-Sor bis Djerabulus und Ras-ul-Ajin und bis nach Mosul sind mit deportierten Armeniern angefüllt. Einige Überbleibsel sind in türkische und arabische Dörfer zerstreut worden.«
Die Deportiertem von Aintab und Killis wurden über Damaskus nach dem Hauran transportiert.
Wir schließen das Kapitel der cilicischen und nordsyrischen Deportationen mit den Berichten von Mr. Jackson, dem amerikanischen Konsul von Aleppo. Der Bericht sagt nichts, was nicht auch durch deutsche Quellen feststeht.
Der amerikanische Konsularbericht.
Aleppo, den 3. August
»Die Methode der direkten Angriffe und Massakers, die in früheren Zeiten üblich war, ist heute etwas abgeändert worden, insofern man die Männer und Knaben in großer Zahl aus ihrer Heimat deportiert und unterwegs verschwinden läßt, um später die Frauen und Kinder folgen zu lassen. Eine Zeitlang wurden von Reisenden, die aus dem Innern kamen, vorwiegend dahinlautende Berichte gegeben, daß die Männer getötet worden seien, daß eine große Anzahl Leichen längs der Reiseroute liege und im Euphratwasser schwimme, daß die jüngeren Frauen und Mädchen und die Kinder von den begleitenden Gendarmen den Kurden ausgeliefert würden, und daß von denselben Gendarmen und den Kurden unsagbare Verbrechen verübt worden seien. Anfangs schenkte man diesen Berichten wenig Glauben, aber da jetzt viele der Flüchtlinge in Aleppo ankommen, herrscht über die Wahrheit der berichteten Dinge nicht länger Zweifel. Am 2. August kamen etwa 800 Frauen in mittleren Jahren sowie alte Frauen und Kinder unter 10 Jahren zu Fuß von Diarbekir an, in denkbar jammervollstem Zustand, nachdem sie 45 Tage unterwegs gewesen waren. Sie erzählen, daß alle jungen Mädchen und Frauen von den Kurden entführt wurden, daß selbst der letzte Heller Geld und was sie sonst noch mit hatten geraubt worden ist, erzählen von Hunger, Entbehrung und Elend jeder Art. Ihr jammervoller Zustand bürgt vollkommen für ihre Aussagen.
Ich habe erfahren, daß 4500 Personen von Soghget Tschok-Get im Wilajet Bitlis, nordwestlich von Sört. nach Ras-ul-Ajin geschickt worden sind, über 2000 von Mesereh nach Diarbekir, und daß weit und breit alle Städte, Bitlis, Mardin, Mosul, Sewerek, Malatia, Besne usw. von Armeniern evakuiert worden sind, daß die Männer und Knaben und viele Frauen getötet und der Rest über das Land zerstreut worden ist. Wenn dies wahr ist, woran man kaum zweifeln kann, müssen die letzteren natürlich auch vor Hunger, Krankheit und Übermüdung zugrunde gehen. Der Gouverneur von Deir-es-Sor am Euphrat, der jetzt in Aleppo ist, sagt, daß gegenwärtig 15 000 armenische Flüchtlinge in Deir-es-Sor seien. Kinder werden häufig verkauft um sie vor dem Hungertod zu schützen, da die Regierung tatsächlich keinen Unterhalt gewährt.
Die folgende Statistik zeigt die Zahl der Familien und Personen, die in Aleppo ankamen, die Ortschaften, von denen aus sie deportiert wurden, und die Zahl derer, die weiter geschickt wurden. Der größere Teil der aus Cilicien Deportierten wurde über Marasch und Urfa in der Richtung auf Weranscheher und Ras-ul-Ajin, 5 bis 6000 über Adana nach Konia transportiert.) bis zum 30. Juli einschließlich:
Deportationsort: | Familien: | Personen: | Weiter-Verschickte |
Tschok-Merzimen (Dört-Jol) | 200 | 2109 | 734 |
Ojakli | 115 | 537 | 137 |
Enserli | 116 | 593 | 173 |
Hassanbeyli | 187 | 1118 | 514 |
Harni | 84 | 528 | 34 |
Karsbasar | 351 | 340 | – |
Hadjin | 592 | 3988 | 1025 |
Rumlu | 51 | 388 | 296 |
Schehr | 150 | 1112 | 357 |
Sis | 231 | 1317 | – |
Baghtsche | 13 | 68 | – |
Dengala | 126 | 804 | – |
Drtadli | 12 | 104 | – |
Zeitun | 5 | 8 | – |
Tarpus | 22 | 97 | – |
Albistan | 10 | 44 | – |
|
|||
Total | 2265 | 13155 | 3270 |
2100 weitere Personen waren schon angekommen, bevor die obigen Zahlen zusammengestellt waren.«
Im Ganzen waren also bis zum 30. Juli allein durch Aleppo 15 255 Deportierte durchgekommen.
Aleppo, den 15. August.
»Es sollen jetzt alle Armenier von Aintab, Antiochia, Alexandrette, Kessab und all' den kleineren Städten in der Provinz Aleppo – schätzungsweise 60 000 Personen – deportiert worden sein. Es ist natürlich anzunehmen, daß sie ein gleich hartes und betrübendes Schicksal erdulden werden, wie diejenigen, die vorausgegangen sind ... Den folgenden Absatz des Berichtes über die wirtschaftlichen Folgen siehe Seite 243.
Die wichtigen amerikanischen Missionsinstitute in dieser Gegend verlieren ihre Professoren, Lehrer, Gehilfen und Studenten, und selbst aus den Waisenhäusern werden Hunderte von Kindern entfernt und damit die Früchte einer unermüdlichen Anstrengung von 50 Jahren auf diesem Gebiet vernichtet. Die Regierungsbeamten fragen in scherzendem Ton, was die Amerikaner nun mit diesen Instituten anfangen wollen, jetzt, wo man den Armeniern den Garaus mache!
Die Situation wird von Tag zu Tag kritischer, da das Ende nicht abzusehen ist.«