Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wir haben bis jetzt die Ereignisse in Konstantinopel zurückgestellt, weil sie am Sitz der Zentralregierung stattfanden und mit der Frage des Ursprungs der Gesamtmaßregel zusammenhängen.
In den Berichten sind die wenigen Akte des Widerstandes, die im Verlauf der Ereignisse vorgekommen sind, wie die geringfügigen Vorgänge in Zeitun, der bald niedergeworfene Widerstand in Schabin-Karahissar und die Selbstverteidigung der Armenier von Wan eingehend zur Sprache gekommen. Diese drei Vorgänge, zu denen vielleicht noch ein oder der andere bei näherer Kenntnis der ganzen Tragödie hinzukommen mag, standen in keiner Verbindung miteinander. Die drei Plätze sind jeder vom andern rund 400 Kilometer entfernt, und die Vorgänge, wie sie zeitlich auseinanderfielen, standen sachlich in keinerlei Zusammenhang. Auf irgendwelche Spuren einer planvollen gegen die Regierung gerichteten Bewegung sind wir nirgends in den Berichten gestoßen. Nur die Verfolgung war planvoll und wurde methodisch durchgeführt. Auch ist von seiten der türkischen Regierung die Behauptung, daß das armenische Volk als solches sich einer revolutionären Erhebung schuldig gemacht habe, nicht aufgestellt worden. Die Preßlüge von einer »armenischen Revolution« stammt aus dem Kopenhagener Interview des Jung-Ägypters Rifaat Bey vgl. S. 164. Monatelang war in der türkischen Presse zu lesen, wie treu die Armenier zu ihrem türkischen Vaterlande hielten.
Die armenische Presse ohne Ausnahme forderte bei Kriegsbeginn in Aufrufen das armenische Volk zur Verteidigung der Einheit des ottomanischen Vaterlandes auf. Das Blatt Azatamart führte aus: »Wir widersetzen uns der Okkupation des vom armenischen Volke besiedelten Gebietes durch Fremde. Das armenische Volk darf nicht zu einem Handelsartikel noch zu einem Spekulationsobjekt einer fremden Regierung werden. Der armenische Soldat wird mit Entschlossenheit an allen Grenzen, die vom Feinde überschritten werden sollten, kämpfen.« Der Patriarch der armenisch-gregorianischen Kirche Msgr. Sawen, der seinen Sitz in Konstantinopel hat, richtete an alle armenischen Bistümer und Vikariate der Türkei telegraphisch ein Rundschreiben, in dem er hervorhebt, daß »die armenische Nation, deren Jahrhunderte alte Treue bekannt sei, in dem gegenwärtigen Augenblick, in dem sich das Vaterland mit mehreren Mächten im Krieg befände, ihre Pflichten erfüllen und allen Opfern zustimmen müsse für die Erhöhung des Ruhmes des ottomanischen Thrones, mit dem sie fest verbunden sei, und für die Verteidigung des Vaterlandes«. Die Bischöfe und Vikare werden aufgefordert, in diesem Sinne ihre Gemeinden zu beraten. In allen armenischen Kirchen wurde für den Sieg der ottomanischen Waffen gebetet. Die armenischen Erzbischöfe im Innern sandten aus Erzerum, Wan usw., Telegramme an die Pforte, daß »die Armenier, die niemals vor irgend einem Opfer zur Verteidigung des Vaterlandes zurückgeschreckt seien, auch diesmal zu allen Opfern bereit sein würden«. Diese Kundgebungen wurden von der türkischen und deutschen Presse mit Befriedigung aufgenommen und festgestellt, » daß die Haltung der armenischen Presse und der armenischen Bevölkerung seit Ausbruch der russisch-türkischen Feindseligkeiten in jeder Beziehung loyal« sei. Die in Deutschland und Österreich lebenden Armenier äußerten und betätigten sich in demselben Sinne. In Wien wurde ein armenisches Hilfskomitee für den Roten Halbmond gebildet. Einer Abordnung desselben erklärte der türkische Botschafter Hussein Hilmi Pascha, der Präsident des ottomanischen Roten Halbmondes, »daß die türkische Regierung nie an der Treue und Ergebenheit der Armenier gezweifelt hätte.«
Die zur türkischen Armee einberufenen armenischen Soldaten, die sich bereits im Balkankriege nach türkischem Zeugnis als vollkommen zuverlässig bewährt und ausgezeichnet tapfer geschlagen hatten, empfingen ebenso in den Anfangsmonaten des Krieges von höchsten militärischen Stellen das allerbeste Zeugnis. In der Militärschule von Konstantinopel meldeten sich zur Ausbildung als Reserveoffiziere mehr Armenier als Türken. Über 1500 Armenier, hauptsächlich aus den gebildeten und wohlhabenden armenischen Kreisen, traten in den Ausbildungskursus ein. Sie drängten sich dazu, mit der Waffe zu dienen und wünschten nicht in Post- und Telegraphendienst u. dergl. beschäftigt zu werden.
Als der Kriegsminister Enver Pascha im Februar von der kaukasischen Front zurückkehrte, sprach er dem armenischen Patriarchen seine besondere Zufriedenheit über die Haltung und Tapferkeit der armenischen Soldaten aus, die sich in ausgezeichneter Weise geschlagen hätten. Besonders erwähnte er noch ein sehr glückliches Manöver, das ein Armenier Namens Ohannes Tschausch mit seinen Leuten ausgeführt habe, durch das sein Stab aus einer sehr kritischen Lage befreit worden sei. Der Mann wurde noch auf dem Platze dekoriert. Als Enver Pascha durch Erzingjan kam, sandten ihm die armenischen Bischöfe ein Begrüßungsschreiben, das er in der liebenswürdigsten Weise beantwortete. Dem Bischof von Konia erwiderte er auf eine Adresse, die er ihm im Namen der armenischen Gemeinde eingereicht hatte, nach dem Osmanischen Lloyd, der deutschen Zeitung von Konstantinopel, vom 26. Februar 1915: »Ich bedaure, bei meinem kürzlichen Aufenthalt in Konia Eure Hochwürden nicht haben sprechen zu können. Ich habe inzwischen das Schreiben erhalten, daß Sie die Güte hatten, an mich zu richten, in dem Sie mich mit Anerkennung überhäufen. Ich sage Ihnen meinen Dank dafür und benütze die Gelegenheit, Ihnen zu sagen, daß die armenischen Soldaten der ottomanischen Armee ihre Pflichten auf dem Kriegstheater gewissenhaft erfüllen, was ich aus eigener Anschauung bezeugen kann.
Ich bitte, der armenischen Nation, die bekannt ist für ihre vollkommene Ergebenheit gegenüber der kaiserlich Ottomanischen Regierung, den Ausdruck meiner Genugtuung und Dankbarkeit zu übermitteln.
Enver, Kriegsminister,
Vizegeneralissimus der Kaiserlichen Armee.«
Bis in den fünften Kriegsmonat hinein seit Ausbruch des türkisch-russischen Krieges lagen keine Anzeichen dafür vor, daß die Zentralregierung gegen die Armenier mißgestimmt sei oder daß die leitenden armenischen Kreise zu irgendwelchem Mißtrauen Anlaß gegeben hätten. Was war geschehen oder welche Gründe hatte die türkische Regierung, ihre Haltung gegen die Armenier, deren Loyalität wiederholt anerkannt war, zu ändern? Ist die Regierung irgendwelchen revolutionären Komplotts auf die Spur gekommen? oder wann und wie ist das Gespenst einer armenischen Revolution aufgetaucht?
Noch am vierten Juni gibt die türkische Regierung die folgende Erklärung ab:
»Es ist völlig falsch, daß in der Türkei Mordtaten oder gar Massenmorde an den Armeniern stattgefunden hätten (was die Regierungen der Entente in der Agence Havas vom 24. Mai behauptet hatten). Die Armenier von Erzerum, Terdjan, Egin, Sassun, Bitlis, Musch und von Cilicien hatten überhaupt keine Handlung begangen, die die öffentliche Ordnung und Ruhe hätte stören oder Maßregeln seitens der Regierung hätte erforderlich machen können«. Zwar war zu dieser Zeit Cilicien schon ausgeleert und die allgemeine Deportation hatte begonnen. Der türkische Generalkonsul in Genf Zia Bey setzte sogar noch am 27. August auf Anweisung der Pforte allen in neutralen Blättern verbreiteten Nachrichten von Armenier-Massakers ein formelles Dementi entgegen und schrieb, zu einer Zeit, wo die Gesamtdeportation bereits vollendet war: » Die gesamte armenische Bevölkerung, Männer, Frauen und Kinder erfreuen sich in vollständiger Sicherheit des Schutzes der Behörden; es hat einige Schuldige gegeben, die durch gesetzmäßig gebildete Gerichte verurteilt worden sind.«
Wir stehen also der merkwürdigen Tatsache gegenüber, daß die türkische Regierung nicht nur in den ersten Monaten, sondern bis zum September, abgesehen von einzelnen Exekutionen Schuldiger, mit dem Verhalten der armenischen Nation zufrieden gewesen sein will und von einer Gesamtverschwörung des armenischen Volkes, die hätte bestraft werden müssen, nichts gewußt hat.
Trotzdem berichtet der Jungägypter Dr. Rifaat, ein Mitglied des Komitees für »Einheit und Fortschritt« in einem Interview des Kopenhagener »Extrabladet« vom 14. Oktober, das durch die ganze deutsche Presse gegangen ist, von »einer alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassenden Verschwörung, die die eigentliche Existenz des Landes bedrohte und Konstantinopel den Allierten in die Hände spielen sollte«. Er will sogar wissen, daß »zum Unglück für die Armenier der Aufstand zu zeitig losbrach, und daß gleichzeitig der Haupteingeweihte in Konstantinopel die ganze Verschwörung an die Regierung verriet«. Er fährt fort: »Zahlreiche durch die Untersuchung zutage gebrachte Dokumente erwiesen klar, daß die Engländer den größten in der Geschichte der Türkei bekannten Aufruhr organisiert haben. Zahlreiche Verschworene wurden verhaftet und bestraft, darunter der Hauptleiter des Aufruhrs in Arabien, Scheich Abdul Kerim. Obwohl er und seine Anhänger Muhammedaner waren, wurden dennoch 21 davon gehängt, 100 zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt.«
Wenn Dr. Rifaat etwas von einer arabischen Verschwörung weiß, so können wir das nicht nachprüfen. Jedenfalls ist eine »arabische« keine »armenische« Verschwörung. Von einer umfassenden armenischen Verschwörung hat die türkische Regierung kein Wort gesagt. Dagegen läßt sich aus der Zahl von 21 Gehängten und dem übrigen Inhalt des Interviews der bündige Schluß ziehen, daß Dr. Rifaat die öffentliche Meinung absichtlich irregeführt hat, indem er das bereits vor dem Kriege aufgedeckte Komplott der türkischen liberalen Opposition, das den Sturz der gegenwärtigen Regierung und die Ermordung von Talaat Bey und anderen jungtürkischen Führern zum Ziele hatte, für »eine alle in der Türkei wohnenden Armenier umfassende Verschwörung« ausgegeben hat.