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Achtzehntes Kapitel

. An demselben Tage ging Boer Jan zu ganz früher Tagesstunde ins Dorf. Er sah verschlossener aus wie sonst und preßte seine Lippen gegen die Zähne, so daß sie aussahen wie zwei schmale Narben. Wenn auch aus seinem Munde weder Kälte noch Wärme kam, so waren doch seine zwinkernden Äuglein damit beschäftigt viel Arbeit zu verrichten, und nach allen Richtungen zu spähen, wie die des Herrn Steuereinnehmers, wenn er seine Runde macht.

Auf der Landstraße begegneten ihm wenig Menschen: ein jeder blieb während dieser Schneezeit gern am Feuerherd sitzen, flocht seine Körbe, putzte die Heugabeln oder ersetzte die altgewordenen abgenützten Stöcke der Schaufeln und Harken durch neue, glatte.

Von Zeit zu Zeit kamen ihm Wagen entgegengefahren, vor einem jeden ging ein Pferd im bedächtigen Schritt und ließ sein kupfernes Geläut klingen. Die einen brachten Stroh in benachbarte Dörfer, die anderen Kartoffeln oder Dünger, etliche waren wieder mit alten Truhen, Bettstellen und Stühlen beladen und mußten dazu dienen, den Umzug eines ganzen bäuerlichen Hausstandes zu besorgen. Aber weder das Aufschlagen der Pferdehufe, noch das Glockengeläute an ihren Kummeten, oder die Stimmen der Männer, die sie leiteten, unterbrachen für länger die Stille des weiten Landes, das unter der Schneedecke schlief. Kaum erklungen, erstarben alle diese Töne ohne Widerhall in den dumpfen Weiten.

Manchmal ging eine Tür auf, eine Frau kam zum Vorschein, in ihrer Schürze Korn für die Hühner tragend, und während sie es vor sich hinzustreuen begann und dazu: Piu! Piu! Piu! rief, kamen die Hühner hergelaufen mit ihren in der Kälte aufgeplusterten Federn. Oder es waren Hofmägde, die Beine mit dicken Wollgamaschen umhüllt die Füße in Holzklotzen mit Stroh ausgestopft, sie eilten nach den Schweineställen und schleppten große Kessel Futter aus Kleie und Gemüse; und die Schweine, durch den Duft erregt, machten die Gatter ihrer Ställe durch die mächtigen Stöße ihrer großen rosigen Rüssel erbeben. An einer anderen Stelle schlug ein großes, strohblondes Mädchen mit ein paar festen Schlägen ihrer Holzpantine das Eis der Wassertonne auf und tauchte, nachdem ihr das geglückt war, die roten Arme voll Kohl und Steckrüben für die kommende Mahlzeit in das eisige Wasserbad. Die Männer droschen in den Scheunen das Getreide, oder sie worfelten Korn und pfiffen und sangen dazu: und den gelblichen Staub, der durch die Türritzen drang, verscheuchte der scharfe Nordost in alle Weiten.

In den träge daliegenden Häusern hörte man das Knirschen der Kaffeemühlen und sah die Kinder barfüßig über die Fliesen laufen. Aus den Ställen kam ein blauer Dunst, und von Zeit zu Zeit hörte man Vieh brüllen, und aus dem Inneren der Häuser fühlte Jan die lauen Düfte auf sich zukommen.

So ging er immer weiter, bis er die Kirche sah; neben ihr machte sich das Pfarrhaus, ein kleines gelbes Häuschen, breit, an dem lange Dachrinnen liefen, und grüne Fensterläden und weiße Gardinen prangten. Jan warf einen Blick auf die Kirche, auf das Haus, die Fensterläden, die Gardinen und ging vorüber, er ging bis an das andere Ende des Kirchplatzes, kam wieder denselben Weg zurück und zögerte abermals vor dem Hause des Pfarrers.

»Ach!« sagte er aufseufzend, »der liebe Gott wird Mitleid haben mit meinem Kummer, wenn ich das ausführe, was ich vorhabe.«

Er wollte gerade die Klingel ziehen, als er plötzlich anhielt.

»Oh! Oh! Wenn ich meine Kassette nicht finde, was hätte es mir dann genützt, wenn ich die Messen hätte lesen lassen. Das Geld, das ich für sie ausgegeben hätte, würde nur denselben Weg gehen, wie mein anderes Geld, das ich verloren habe.«

Er trat noch einmal näher.

»Wer nichts wagt, bekommt auch nichts: ich werde doch eine kleine Messe lesen lassen.«

In diesem Augenblick öffnete der Herr Pfarrer selbst die Tür. Er hielt sein Brevier und einen großen Baumwollschirm unter dem Arm.

Da es scharf wehte, flog ihm sein Dreimaster vom Kopf.

»Ah, der Herr Pfarrer,« sagte Boer Jan, »glaubt denn der Herr Pfarrer, daß wir, wenn er eine Messe dafür liest, den Hut wiederfinden?«

»Das ist nicht der Mühe wert, mein Sohn,« sagte der gutmütige Herr. »Er ist nur über die Gartenmauer hinweggeflogen.«

Und mit beiden Händen sein kleines Seidenkäppchen festhaltend, ging er die verrostete Gartenpforte zu öffnen und blickte seinem Dreimaster nach, der zwischen den Baumstämmen wie eine Wurfscheibe davonrollte.

Boer Jan setzte seinen Fuß auf den Hut.

»Ich hab' ihn!« schrie er.

»Zerdrückt mir den Rand nicht,« sagte der Herr Pfarrer.

Er wischte seinen Dreimaster mit dem Seidenhalstuch ab, setzte ihn wieder auf den Kopf und wandte sich nach Jan um, der mit der Mütze in der Hand unbeweglich vor ihm stehengeblieben war:

»Na, Slim, womit ist Euch gedient?«

»Es ist nichts, Herr Pfarrer, ich dank' ihm schön.«

Und Boer Jan verzog sich nach rechts, während der Pfarrer mit großen Schritten in der Richtung auf die Kirchentür zu fortging.

»Das ist besser so,« überlegte Jan, »der liebe Gott hat das Geld eines armen Mannes nicht nötig, und für mich ist das eine Ersparnis.«

Er legte die Hand auf die Tasche, um nachzusehen, ob das Fünffrankenstück, das er in einem Taschentuchzipfel eingeknotet trug, noch da war, und es da zu fühlen, machte seine Finger ganz lebendig.

»Wenn man allen was geben sollte, dem lieben Gott, den Gendarmen, dem Friedensrichter, man käme gar nicht wieder aus dem Bezahlen heraus. Es ist immer doch besser, das bißchen, das man hat, zusammenzuhalten.«

Und nachdem er nun den ganzen Weg zurückgelegt hatte, um eine Messe zu Ehren des heiligen Antonius lesen zu lassen, der als Beschützer der verlorenen Sachen galt, kehrte er wie er gekommen war auf demselben Wege durchs Dorf nach Haus.

Er dachte über seinen Dieb nach.

»Ich werde in die Häuser gehen,« sagte er sich, »zu den Armen und zu den Reichen; jedem werde ich in die Augen sehen.«

Er geht zu Flip, er geht zu Tist, er geht zu Hans ins Haus; im Hintergrund sieht er die Frauen sitzen und stricken oder die Wäsche einweichen. Die Männer sichten die Kartoffeln, die im Mai ausgesetzt werden sollen, worfeln ihren Hafer oder basteln an den Dreschflegeln, um das Schneewetter auszunutzen, das sie zu Hause hält.

»Guten Tag, ich komme eben vorüber,« sagt er.

Er setzt sich ans Feuer, sieht die Männer, die Frauen, die Kinder an und untersucht mit erregten Blicken alle Zimmerwinkel, seine Augen gehen unruhig hin und her wie Jagdhunde auf ebenem Feld.

»Ich habe meine Nadel verloren,« sagt eine Frau und wühlt zwischen den Lappen, die sie auf ihrem Schoß liegen hat.

»So etwas könnte bei Slim nicht vorkommen,« sagt ihr Mann und lacht.

Boer Jan fühlt seinen Hals trocken werden und sieht den Mann mit zusammengezogenen Augenbrauen an.

Nein, der ist es nicht. Der lacht zu gutmütig.

»Da ist ja der Jan!« schreit der dicke Bauer aus dem Hof zu den vier Winden. »Slim, Ihr sucht gewiß Euren Schatten, daß man Euch zu so früher Stunde schon unterwegs findet.«

Jan sieht ihn beunruhigt an. Sollte der irgend etwas wissen? Aber der Bauer spricht vom Wetter, von seinen Kühen und Schweinen.

»He! Pachter,« ruft ein Kind ihm nach, das auf dem Wassergraben mit seinen Holzpantoffeln über das Eis glitscht, »ein Geldstück fällt aus Eurer Tasche!«

Boer Jan dreht sich lebhaft um und legt die Hände an seine Tasche. Das Kind hat ihn zum besten gehalten: er droht ihm mit dem Stock.

In einem anderen Haus sagt ihm ein alter Schalk:

»He! Jan! Habt Ihr noch immer nicht das Mittel gefunden, auf Eurem Feld das Korn als dicke Groschen wachsen zu lassen?«

Alle sprechen sie über Geld zu ihm, man weiß, daß er geizig ist, und gern gesehen ist er auch nicht im Dorf.

Er geht jetzt zu Matthias Peck, dem Hausierer, der ein rechter Spaßmacher ist und dem die Zunge nicht in der Tasche sitzt.

»Heda, Slim! Sagt mir mal, ob es bald so weit ist, daß ich meine beiden Hunde vorspannen kann, um Eurer Gold zur Bank zu fahren.«

»Mein Gold?« fragte Jan.

Und es war ihm zumute, als ob ihm einer mit den eisernen Zähnen eines Rechens über den Rücken gefahren wäre.

Der Hausierer sah ihn an, pfiff vor sich hin und schaukelte auf seinen Beinen hin und her.

»Mein Gold?« wiederholte Boer Jan.

Und er hob den Stock und fügte hinzu:

»Peck! Ihr habt es mir gestohlen.«

Der lange Matthias verzog sich hinter den Tisch, und sein Gesicht zeigte ein so großes Staunen, daß Jan wohl seinen Irrtum einsah. Er zog sich verlegen zurück und tat als ob er lachte, damit nicht Peck auf andere Gedanken käme.

Und auf dem Weg dachte er bei sich:

»Ha! Die machen sich alle über mich lustig!«

Er geht zum Dorf hinaus und kommt wieder auf die Landstraße. Weiter hinten sieht er ein paar Männer über den Schnee stapfen, er kann jetzt die Menschen unterscheiden, zwei von ihnen scheinen einen dritten an der Schulter festzuhalten und hinterher eine ordentliche Spanne weit gehen Menschen.

Boer Jan beschattet seine Augen, um besser sehen zu können. Es war ihm so, als hätte er die Gendarmen erkannt. Sollte das möglich sein? Hätte man seinen Dieb gefaßt? Er starrt die Kommenden voll ängstlicher Erregung an. Er hat sich wirklich nicht geirrt: es sind die Gendarmen.

Mit erhobenen Armen fuchtelnd stürzte er auf die kleine Gruppe zu:

»Haltet ihn gut fest!« schreit er den Gendarmen zu.

Er erkennt jetzt auch die Gesichter, das ist doch der Sergeant Franz und der Gendarm mit dem großen Bart, vor dem die Dorfjungen so viel Angst haben, und zwischen den beiden Gendarmen geht ein junger Mann mit gesenktem Kopf. Das ist der Sohn von einem Eisenkrämer aus dem Nachbardorf.

»Und das Geld?« fragt Jan Slim die Gendarmen atemlos.

Diese gehen ohne Antwort zu geben an ihm vorüber. Aber der Sergeant hat die Aufregung des Bauern gemerkt, er wird sich daran schon erinnern, wenn die Zeit und der Ort dafür passend sind.

Danach wendet sich Jan an eine Frau, die ihnen weinend folgt, neben ihr sieht er ein altes Mütterchen, zwei junge Mädchen und einen kleinen Jungen gehen, den das ältere Mädchen bei der Hand hält. Und er sagt zu der Frau:

»Das Geld soll er wiedergeben, dann wird er nicht ins Gefängnis müssen.« Doch die Frau antwortet ihm:

»Unser Lukas ist kein Dieb! Er würde nicht einmal eine Stecknadel einem anderen wegstehlen, der arme Junge! Aus dem Regiment ist er desertiert.«

Und die arme Familie setzt ihren Weg fort. Er hört ihre Bitten um Gnade: sie werden den jungen Soldaten so bis vor die Gefängnistür begleiten.

Warum hätte der nicht der Dieb sein können, denkt sich Boer Jan kläglich und schlägt sich mit der Faust gegen die Stirn, während der kleine Trupp Menschen sich traurig in der Ferne verliert.

Drei Schuß weit von ihm liegt sein Haus, wer weiß, vielleicht hat man ihm nur einen Streich spielen wollen, vielleicht wird er sein Geld unter dem Schrank in irgendeiner Ecke des Hauses oder sonstwo wiederfinden.

»Niemand dagewesen?« fragt er beim Eintritt, und seine Stimme zittert.

»Niemand,« antwortet Ursula.

Er beginnt das Haus zu durchwühlen, sucht unter den Säcken in den Schränken und in jeder Ecke auf dem Boden.

Nichts zu finden!

Er möchte aufheulen, klagen, die Menschen ganz laut verfluchen, aber die Anwesenheit der Mädchen zwingt ihn, seinen Zorn und seine Qual für sich zu behalten. Sie sind augenblicklich in der Backstube, lachen und schwätzen, und während die eine das Brot in den Ofen schiebt, oder es auf der Platte umwendet, stochert die andere im Feuer herum und wühlt in der Asche mit der Spitze ihres Feuerhakens.

Das Morgengrauen hatte erst kaum den Himmel etwas erhellt, als Santje, die unter ihren Decken kauerte, Roose anrief.

Da ihr aber das Mädchen keine Antwort gab, so hatte sie abermals gerufen, und plötzlich war das frische Gesicht von Roose unter den Decken hervorgekommen, wie die Sonne im Juni um vier Uhr des Morgens.

»Was gibt es denn, Santje?«

»Das gibt es, daß ich mich mächtig freue, weil das Geld vom Bauer doch unter dem Apfelbaum liegt!«

»Und ich, Santje! Ich freue mich gerade so wie Ihr.«

»Mehr wie ich, meint Ihr, Roose. Und wirklich, wenn Euch jetzt der Bauer kommt und sagt: ›Ihr könnt uns aus allen Sorgen herausreißen, Tochter, wenn Ihr den alten Kobe heiratet‹, dann werdet Ihr ihm darauf antworten: ›Ich werd' Euch schon auch so herausreißen.‹ Dann geht Ihr in den Garten, Roose, grabt rund um den Apfelbaum den Boden auf, und wenn Ihr dann das Geld herausgenommen habt, was Euer Vater da hineingelegt hat, dann gebt Ihr es ihm wieder und sagt: ›Ich gebe Euch Euer Geld zurück und Ihr gebt mir dafür Lamm. Jeder soll sein Glück haben‹.«

»Und wer wird dabei der Angeführte sein, Santje? Kein anderer als mein Vater!«

Und beide hatten sie in ihren Betten zu wispern begonnen wie die Finken, die den Tag erwarten, um aus voller Kehle singen zu können, und weil er noch nicht gekommen ist, schirpen und zwitschern, als wollten sie ihn erst einsingen.


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