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Der kalte Oktoberwind trägt das feine Gebimmel einer Glocke herüber, die zur Zehnuhrmesse geläutet wird.
Roose ist eben damit fertig geworden, über ihre feine Mütze mit den grünen Bändern ihr Sonntagstuch zu knüpfen, dessen lange Zipfel mit weißer Franse bis an die Taille reichen. Sie hat auch schon ihre Seidenschürze über ihr grünes Kleid gebunden, und geht, nachdem sie sich einen Augenblick vor den Spiegel gestellt hat, um ihr Gebetbuch aus dem Schrank zu holen.
Allein wird sie heute nicht gehen, neben ihr wartet Santje, die sich schon ihren Schirm herausgenommen hat, und bald darauf sieht man sie beide über den Weg davoneilen.
Boer Jan hat schon vor einer Stunde das Haus verlassen, und niemand außer Ursula ist zurückgeblieben. Sie hütet das Haus ein. Sie rückt ihren Stuhl dichter an das Feuer heran und bleibt dann still dasitzen, ihren Rosenkranz zwischen den Fingern. Dabei murmelt sie Gebete vor sich hin.
Sie wird nur noch von Zeit zu Zeit den Kochtopf etwas zur Seite oder etwas vorwärts schieben, wird eine Schaufel Kohlen auf die Glut werfen, aber sonst wird sie nicht aufhören, den Rosenkranz zwischen ihren knorpligen Fingern zu drehen und zu beten, bis das Geläut der kleinen Glocke das Ende der Messe verkündet hat.
»Santje! Der Vater hat nichts gesagt, nicht heute und nicht gestern,« sagt Roose, »könnte es denn nicht sein, daß Kobe vielleicht gar nicht um das, was wir dachten, gekommen ist?«
»Pah! Hat sich was! Wenn er nichts gesagt hat, ist es doch nur, weil er sich erst alles nach seiner Art zurechtlegt.«
»Ach, Santje! Mein Herz kann den Kummer nur schwer ab. Wenn ich so in der Ungewißheit drin bleiben soll, dann mag ich das Leben schon gar nicht mehr aushalten.«
»Lamm hat Euch gern, dabei ist nichts von Ungewißheit. Und was die Gewißheit ist, das ist, daß Lamm von gestern an Euer Liebster ist. Ich kann da gar nicht einsehen, Roose, warum Ihr da von Ungewißheit redet, wo Ihr doch in der Hauptsache etwas Sicheres habt.«
»Ihr müßt mir das viel sagen, Santje, wenn ich schwach bin … Aber ich weiß gar nicht mehr wie ich das machen soll, daß ich nicht immer an den alten Mann denk', der sich das in den Kopf gesetzt hat, mich zu freien. An den Vater muß ich auch immerzu denken, der mich um ein bißchen Geld ausliefern würde. Dann wird mir das Herz ganz eng, und ich bang mich so, Santje.«
»Na schön, Angst habt Ihr? Dann verheiratet Euch doch!«
»Lieber würd' ich mein Brot alle Samstag an den Türen der Pachter erbitten, wie die alte Hopsassa.«
»Ihr werdet Geld bei ihm haben zu Eurem Gebrauch, und Ihr werdet dann keine Angst mehr fühlen.«
»Hab und Gut? Ja, ich werde Hab und Gut haben, aber es tut so wohl, ein frohes Herz zu haben. Dagegen kommt doch das ganze Geld der Welt nicht auf.«
»Hört einmal zu, Roose, ich sag' Euch, Ihr müßt jetzt das eine wollen oder das andere. Das ist meine Meinung.«
»Böse seid Ihr, Santje, wie Ihr nur so reden könnt! Ihr wißt doch gut, daß mein Herz sich Lamm zum Liebsten ausgesucht hat.«
»Lamm ist Euer Herzensliebster, das ist leicht gesagt, aber geschrieben steht das noch nirgends, dazu müßt Ihr erst wollen, daß es so kommt.«
»Ach, Santje! Als wenn da noch etwas sicherer sein könnte. Ich will es doch!«
»Gehen wir etwas schneller, die Glocke läutet nicht mehr.«
Bald danach betraten sie die Kirche, und das Herz Roosens erschloß sich im Gebet. Sie flehte Gott an, ihr den zu geben, den sie liebte.
Dicht neben ihr betete ein anderes Herz, und das war dasjenige von Santje. Und Santje bat den Himmel, ihr eine genügsame Menge Schlauheit zu geben, um Roose und Lamm das Glück in diesem Leben zu sichern. Ach, was war es doch in dieser kleinen Kirche kalt! Die Türe war offen geblieben, wegen der Bauern, die in der Vorhalle stehend die Messe anhörten. Und wer da drinnen im Kirchenschiff war, der tat nur immerzu husten, spucken, niesen und sich schneuzen. Aber Roose und Santje wußten von aller Kälte nichts ab.
Und als die Messe zu Ende war, stellten sich die Burschen an den unteren Treppenstufen auf, um die Mädchen an sich vorübergehen zu lassen. Die reiferen Männer aber wandten sich dem Gasthause »Zum kopflosen Hahn« zu, um dort ihre Pfeife zu rauchen und Genever zu trinken.
Zu zweien oder manchmal auch in Häuflein von vieren oder fünfen kommen die Mädchen und die Frauen den Pfad entlang, und ihre roten Tücher, ihre blauen Kleider und ihre weißen Mützen fügen sich als helle Flecke in die dunkle Landschaft ein. In den Wirtshäusern hört man die Wurfscheiben klappern und die Kugeln gegen die Kegel poltern. Und dann geht jeder seiner Wege, die Pachter in ihre Pachterhöfe und die Kleinbauern suchen ihre verräucherten Katen auf, und mittags wird ein kräftiger Duft von Gesalzenem und Kartoffeln sich in der Luft mit dem säuerlichen Duft von Rotkohl und dem Dunst vermengen, der von den Jauchegruben steigt.
»Roose,« sagte Jan Slim verschlagen, nachdem Santje das weiß und blau karierte Tischtuch zusammengefaltet hatte. »Ich kann dir eine gute Nachricht sagen. Unser reicher Freund Snipzel will Dich zur Frau.«
Kaum, daß die Worte fielen, als auch schon Ursula zu ächzen begann, und sich dabei mit der Handfläche das Knie rieb.
»Was?« schrie Boer Jan, »wer jammert hier herum?«
»Nichts,« sagte Ursula, »der Wind.«
Und sie schwieg sogleich.
»Eine feine Nachricht, das will ich glauben,« rief Santje. »Wer soll sich auch da nicht freuen, von einem reichen Mann wie der alte Snipzel zur Frau verlangt zu werden!«
»Das denk' ich,« sagte Jan Slim, »aber nach Eurer Meinung hab' ich Euch nicht gefragt.«
»Ich kann ja noch immerhin das nächste Mal meine Zunge halten, aber nichts für ungut, Bauer, wenn es mich sticht. Euch zu sagen, daß ich ganz so denke wie Ihr.«
»Die Hochzeit wird in einem Monat sein,« fügte Slim herrisch hinzu.
Da brach Roose los:
»Niemals! Ich will keinen alten Mann! Ach, Vater, Ihr wollt mich für das ganze Leben unglücklich machen.«
»Ich hab' gesagt, was ich will und nichts anderes!« schrie Jan Slim sie roh an.
»Eher geh ich,« sagte Roose unter Tränen.
»Sie hat recht: das ist nicht zu machen!« rief Ursula nun ihrerseits unter dem Zwang einer großen Aufregung.
Aber der Bauer übertönte den Lärm der Frauen mit seiner spitzen Stimme und brüllte zornig:
»Ursula, seit wann denn nehmt Ihr Euch heraus, hier Eure Meinung zu sagen? Wer es wagen sollte gegen mich anzureden, dem schlag' ich den Kopf ein.«
Roose stürzte auf seine erhobene Faust zu:
»Mich könnt Ihr schlagen, Vater, aber geht nicht roh mit der Mutter um.«
Jan Slim durchquerte mehrmals die Stube und sagte dann:
»Ihr schweigt mir jetzt alle. Wir werden schon sehen, wer der Herr ist in diesem Haus.«
Und für sich dachte er:
»Ich werde sehen, was ich jetzt noch dazu tue, denn die Roose hat einen stärkeren Willen, als ich gedacht hab'.«
Damit verläßt Boer Jan die Stube. Er schlägt den Weg ein, der sich von hinten um sein Haus herumschlängelt und macht wie alle Sonntage einen Gang durch seine Felder …
»Huh! huh!« jammerte Ursula, »das wird einen Guß von Zänken über unser Dach regnen.«
»Möchte er doch mindestens über mich allein niedergehen, Mutter, ich will mich nicht beklagen darüber.«
Die alte Frau aber hob verzweifelt ihre Hände und sagte:
»Ihr seid mein Fleisch und Blut, Roose, und ich hab' Euch an meinen Brüsten genährt, und doch sage ich: Ärgert den Bauer nicht. Daraus kommt nichts Gutes für uns alle!«
»Ha!« rief Santje, »wie ist es nur möglich, daß einem mit einem und demselben Atem heiß und kalt bläst. Gestern habt Ihr mit Roose gehalten und heute redet Ihr gegen sie.«
Ursula schüttelte traurig ihren Kopf.
»Ich bin schon alt, meine Kinder, und meine Augen haben viel weinen müssen. Sie sind ganz zuschanden gegangen von all den Tränen, die ich vergossen habe. Und doch wird es so kommen müssen, daß, wenn Roose nicht tut, was der Vater von ihr will, sie noch ganz andere Tränen weinen werden, bis sie ganz leer geworden sind und blind.«
»Mutter!« schrie Roose auf, »könntet Ihr denn Unglück fühlen, wenn Euer Kind glücklich ist? Ihr dürft das nicht sagen. Ihr wißt doch, daß Lamm keine Mutter hat, da müßt Ihr es denn doch auch für ihn sein, wie Ihr es für mich gewesen seid, und die Tränen, die Ihr dann vergießt, werden Freudentränen sein.«
Da aber nahm die arme, verwirrte, schwankende Frau ihren Kopf zwischen die beiden Hände und wimmerte auf:
»Oh! Laß mich in meiner Ecke in Frieden sterben! Was wollt Ihr da noch von mir? Ich hab' jetzt Gott genug um meinen ewigen Frieden gebeten, und Ihr könnt jetzt nach Eurem Kopfe tun, und fragen sollt Ihr mich um nichts mehr.«
Der dünne Schimmer eines trüben Tages drang durch die kleinen Fensterscheiben und füllte kaum mit seinem Licht eine schmale Ecke des Zimmers, sonst lag alles im Dunkeln.
Ursula saß mit dem Rücken zum Fenster und die Hände dem Feuer entgegengebreitet, und neben ihr hatten sich die beiden Mädchen niedergelassen, halb schon im Schatten versunken und halb noch im trüben Tagesgrau. Sie schwiegen alle drei und sannen über das Heute und über die Zukunft nach.
Es war ganz still geworden. Nur der Ofen brummte und das Stöhnen der Bäume war hörbar, die ein heftiger Wind hin und her schüttelte.
Ursula, die sich wieder beruhigt hatte, nahm vom Kamin ein Häufchen Spielkarten herunter. Sie mischte sie, teilte sie und legte sie dann schweigend eine neben die andere auf ihre Knie. Darauf nahm sie sie zusammen, mischte sie abermals und teilte sie aufs neue und begann sie wieder auf ihren Knien auszubreiten. Ihr langes, starres Gesicht schien noch starrer geworden zu sein.
»Es ist da ein dunkler Mann und eine blonde Frau, die nicht von sich ablassen,« murmelte sie.
»Laßt sehen, was das dritte Mal kommt,« bat Roose, deren Herz klopfte.
Und Ursula mischte zum dritten Male die Karten, schichtete sie auf und breitete sie auf ihren Knien aus.
»Ah!« entfuhr es ihr, und sie drückte den Finger auf eine Karte. »Der Dunkle ist weg, da liegen jetzt ein Blonder und eine Blonde zusammen.«
»Lamm!« jauchzte Roose und schlug die Hände zusammen.
Kaum, daß sie noch dieses Wort aussprechen konnte, als eine Frau hereintrat. Sie war dürr und hager.
»Der Winter kommt, Ursula,« ließ sich die Hereingekommene vernehmen. »Ich komme soeben von Perk, wo wir, mein Sohn, die Alten meiner Schwiegertochter und ich Kaffee getrunken haben. Wir haben uns da richtig was amüsiert.«
Sie setzte sich ans Feuer, hob ihren Rock ein wenig und wärmte sich die Beine. Ihren Korb hatte sie neben sich auf den Fußboden gesetzt.
Dann fing sie wieder an:
»Der meine, was mein Junge ist, wird später sein Teil kriegen. Man muß beizeiten für die Mädchen reiche Männer suchen und für die Burschen reiche Mädchen.«
»Ha! alte Mutter,« unterbrach sie Santje lachend, »das wird Euch gerade was genützt haben. Euren Sohn reich zu verheiraten. Ihr habt doch davon nicht einen Nagel mehr in Eurem Hause, und Lust hat er auch schon rein gar nicht mehr, Euch zu sehen, seit er auf seinem seinen Hof sitzt.«
»Er hat mir Speck und Brot für eine ganze Woche gegeben,« sagte sie stolz und zeigte ihren Korb. »Und es ist doch auch wegen dem, daß es einem gut tut zu denken, daß man einen Reichen in der Familie hat.«
Nachdem sie ihren Korb aufgehoben und gegangen war, machte sich Santje daran, den Kaffee zu mahlen, und auf dem Herd begann auch schon leise der Flaschenkessel zu singen.
Die Tür wurde wieder hastig aufgerissen und eine kleine dicke, ganz verquollene Frau drängte sich herein, nachdem sie lange und nachdrücklich die Schuhe auf der Diele abgetreten hatte.
»Jesus! der gute Kaffee! Ursula, was machen Eure Beine?« sagte sie in einem Atem.
»Wie es Gott gibt, Nachbarin,« seufzte Ursula.
»Mir geht es gut, gottlob!« redete die Frau eifrig und setzte sich ans Feuer.
Sie war wegen ihrer scharfen Zunge bekannt und ließ sich auch gleich wieder vernehmen:
»Die Beth, Ihr wißt ja, dem Matthias seine, hat ein neues Kleid angehabt heute früh in der Kirche. Die Leute können das doch nicht ab mit den großen Ausgaben. Da muß was sein, das wir nicht wissen.«
Einige Männer kamen auf dem Rückweg vom Wirtshaus über den Weg. Man hörte sie laut miteinander sprechen.
Sie sagte spitzig:
»Die jungen Burschen gehen jetzt lieber trinken, anstatt sich um die Mädchen zu kümmern. Das war zu unserer Zeit nicht so, da hat man sich ums Feuer herum versammelt, und die Burschen und die Mädchen konnten sich den Rechten aussuchen. Wo ist Euer Liebster, Roose?«
»In der Stube ist er,« ließ sich Santje hören.
»In der Stube hier drinnen?« fragte die Frau, und sie sah sich nach allen Seiten um.
»Als wenn die ihren Liebsten hier im Zimmer sitzen haben sollte! Ich kann nur zwei alte Weiber und zwei junge Dirnen sehen, die auch mal alte Weiber werden.«
»He! Pachterin, der ist drin, weil er doch in Roose ihrem Herzen sitzt.«
Sie lachten hell auf.
Dann trank die Frau ihren Kaffee und machte, daß sie ihrer Wege ging.
Und immerzu kamen wieder andere Frauen einsehen, so daß ein wahres Gewirr von Füßen und Tritten in der Stube war. Sie brachten ihre Gehässigkeit, ihren Neid und ihre Klatschsucht mit. Auch Scorniciel, der Schlachter Scorniciel mit seinem Gesicht voll komischen Zornes, und Beinen, die sich fast wie eins um das andere wanden, war gekommen.
»Hahahaha! Wann werden hier die Schweine geschlachtet? Zu Allerheiligen oder zu Weihnachten?«
Er schnitt aus allen Kräften Fratzen dazu, verdrehte die Augen, zog den Mund schief und tat, als wollte er gleich für alle die Messer schleifen. Dann langte er nach Santje, griff ihr um die Taille mit seinen langen, roten Händen und rief ihr zu:
»Santje, könnt Ihr mich nicht zum Mann nehmen? Bei mir könnt Ihr Euch jeden Tag an Würsten satt essen.«
Santje entschlüpfte seinen Fingern und sagte:
»Wenn Ihr Eure 200 Pfund wiegt wie ein fettes Weihnachtsschwein, dann vielleicht, Scorniciel.«
Darüber kam Jan Slim herein, schnupperte ein wenig in der Luft herum und ging auf den Kaffeetopf zu, den Deckel zu lüften, dann fing er an zu schimpfen.
»Hier ist mehr Kaffee drin als Zichorie.«
Es wurde schon dunkel, und die kleine Glocke begann die Vesper einzuläuten.