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Berlin W.

Eine literarische Betrachtung.

I.

Unsere Reichshauptstadt ist bekanntlich nach den Hauptrichtungen der Windrose eingeteilt. Jeder der Abschnitte hat ein bestimmtes Gepräge und bildet eine Stadt für sich, verschieden von den andern im Bau der Häuser, im Aussehen der Straßen, im Leben und Treiben der Bewohner.

Berlin W. stellt so zu sagen den siebenfach durchgeseihten Auszug des Besten vor – als Kaufmann könnte man die Bevölkerung dieses Berlin mit »Prima ff.« bezeichnen. Hier wimmelt es von »wirklichen« und noch nicht wirklichen Geheimräten jeder Art; hier drängen sich die reichen Bankiers, die beliebtesten Gelehrten, die »angeschwärmtesten« Dichter, die modischen Maler und Bildhauer zusammen; hier ist die Urheimat der »höheren und höchsten Töchter«, dieser Keimzellen der reichen Erbinnen. Alles atmet Vornehmheit von den Häusern an, welche von dem Fahrdamm sich durch einen Vorgarten abschließen; hier scheint die Luft von Bildung förmlich übersättigt; hier wird in gar manchen Familien gedichtet, in noch mehreren gemalt und modellirt, in vielen deklamirt, in allen musicirt und kritisirt. Schon die Schulmädchen betreiben alle Wissenschaften und Künste; sie sprechen über Kant und Astronomie, über das Unbewußte und über Hieroglyphen, über Darwin und Menzel, Häckel und die Götterdämmerung – vielleicht etwas durcheinander, aber was tut's, sie sprechen darüber.

Es ist ganz natürlich, daß eine solche Stadt wie für Delikatessenhändler und Frauenkleidererfinder auch für Erzeuger geistiger Werte unschätzbar ist. W. giebt den Ton an: ein hier bewunderter Virtuose, Maler, Bildhauer oder Dichter ist ein gemachter Mann in doppeltem Sinne des Wortes Darum streben auch die meisten danach, zuerst das Wohlgefallen W.'s zu erregen; S. W. folgt von selbst und das Uebrige hat wenig zu bedeuten, denn dort hört ja das bekannte »Ganz Berlin« auf.

Wem kann es Wunder nehmen, wenn dieses W. danach strebt, in jeder Beziehung die Führung Deutschlands zu übernehmen, so wie etwa Paris? Es fordert seine eigenen Lustspiele, in welchen die Bekannten aus den eigenen Salons auftreten, es verlangt seine Lyrik, seinen Roman, den Roman von Berlin W. Wozu besoldet es seine Dichter, wenn es auf diese leibeigene Literatur verzichten soll?

Unsere Dichter sind zumeist viel zu liebenswürdige Menschen, um solch sanftem Zwange nicht zu gehorchen. W. ist die eigentliche Heimat der beliebtesten unter ihnen; hier haben sie selbst ihre ersten Schritte in die Gesellschaft gemacht, den ersten Kreis von Beschützerinnen gefunden, aus welchen sich allmälig Bewunderinnen entwickelten; hier blühten sie empor und berauschten die Verehrer mit dem Dufte ihres Geistes, mit ihren eignen und geborgten Witzen, hier sind sie die »Löwen der Salons« geworden, das Ziel der Sehnsucht für so manche Hausfrau, welche nach einer ästhetischen Randverzierung für den reichhaltigen Speisezettel ihrer Feste seufzt und ihre Freundinnen beneidet, in deren Salons man wandelt wie in einer Ruhmeshalle lebendiger Unsterblichkeiten.

So kamen die Herren dem Wunsche entgegen und »gründeten« den Roman Berlin W., natürlich mit der Absicht, der deutschen Muse etwas Neues, noch nie Dagewesenes huldigend zu Füßen zu legen. Der hohen Göttin zu dienen ist ja bekanntlich ihr einziges Lebensziel.

Aber nun kann sich leider der Mensch mit bestem Willen nicht freimachen von den Eindrücken der Zeit. Die Dichter W.'s sind mehr oder minder unter dem Einfluß der Franzosen groß geworden; Mancher hat sogar seine Lehrlingsjahre an der Seine zugebracht und mit echt deutscher Gründlichkeit sich bemüht, un vrai Parisien de Paris zu werden, hat dort »Esprit« gelernt, und das Lustspiel und die Romane unseres bescheidenen Nachbars in sich aufgenommen. Kurz: wie die Lustspiele von W. bewußt-unbewußte Nachahmungen unserer westlichen Nachbarn sind, wie die »geistreichen« Plauderer, die verführerischen Wittwen, die verlotterten Lebemänner und die »unschuldigen« Backfische ihre Ahnen jenseits des Rheins haben, so geht es auch mit den Gestalten des W.- Romans. Auch hier fühlt man sich sofort angeheimelt, wenn uns die guten, alten Bekannten begegnen.

Aber ist's schon ein Irrtum anzunehmen, daß der Weh-Roman irgend etwas Neues bringe, so ist's ebenfalls einer, zu denken, daß dessen Gestalten nur aus Frankreich genommen seien. Wer sich jemals mit den älteren Romanen beschäftigt hat, welche jetzt nur mehr in Büchersammlungen ein verstaubtes Dasein führen, nachdem man sie einst viel gelesen, der weiß sehr gut, daß schon in ihnen dieselben Gestalten etwas anders beleuchtet aufgetreten sind. Sie scheinen dem Beschauer verblaßt, gespensterhaft, unsäglich albern; aber bei näherer Betrachtung lösen sich aus dem Nebel die bekannten Züge aus W. los. Schon in den Zwanzigerjahren hat man über gewisse Gestalten gespottet, welche noch heute von den H. H. Dichtern benützt werden. So treten in einer satirischen Komödie »Kassius und Phantasius« der geadelte Bankier auf, dessen eine Tochter schrecklich gebildet ist, die andere dagegen »naiv« bis zur Albernheit; ein Kommerzienrat – diese symbolische Gestalt der neuen deutschen Gesellschaftsliteratur; ein Jüngling, welcher auf eine Erbtochter Jagd macht. Und dieses Spottspiel ist geschrieben worden, um die 1825 schon abgebrauchten, verschossenen, farblosen Gestalten zu verhöhnen. Und 1886? Um die rührende deutsche Treue in das hellste Licht zu setzen, halten die H. H. Roman- und Lustspielerzeuger noch immer fest an dem Plunder. Gewiß sehr edel. Und das haben sie getan in den Dreißigern u. s. w. bis heute, haben den alten Teig neu geknetet, ihn nach den neuesten Modenblättern gekleidet; haben den Puppen die neuesten Kalauer in den Mund gelegt, die modernste Weltanschauung – und nun lenken sie diese frischangestrichenen Marionetten und lassen sie im neuen Berlin so tanzen, wie diese getanzt haben im alten. Und so gaukeln auf den Brettern, mit welchen W. verschlagen scheint, umher die innerlich verlumpten, reichen Kommerzienräte, die schwindelhaften Bankiers, die unglücklich gewordenen Erbtöchter, die geldgierigen Freier und die Ehebrecher und Ehebrecherinnen, die koketten Wittwen und dummen Backfische – als gäbe es nichts sonst auf der Welt, als sei das das wahre Berlin W.

Ich behaupte, diese Darstellung ist eine Lüge, wie Alles, was nur eine Seite des Lebens darstellt. Aber hier zeigt sich der Einfluß des französischen Naturalismus. Wie dieser, im tiefsten Grunde pessimistisch noch bevor man an der Seine den Schopenhauer für die elegante Welt genießbar hergerichtet hatte, die sog. Natur und Wahrheit nur dort findet, wo das Schlechte, Gemeine, Schwächliche im Menschen Form gewinnt, so ist's auch bei seinen deutschen Nachahmern der Fall.

Sie sehen durch eine fremde Brille und bilden sich ein, Originalgenies zu sein; sie stürzen sich kopfüber in den Sumpf – um sich nach ihren Worten »in den Quellen der Natur rein zu baden von dem Schmutz der konventionellen Dichtung«. Einige davon haben in – Gott sei Dank wenig gelesenen Blättern – uralte Zotengeschichten als »Skizzen aus dem Berliner Leben« aufgetischt, mit der Bemerkung »nach der Natur gezeichnet«; Andere haben aus einer durch und durch kranken Phantasie wahnwitzige Ausgeburten zu Tage gefördert, so gemein, so häßlich, daß man diese Werke des »neuen Geistes« mit Ekel von sich wirft: und auch diese priapischen Schilderungen, welche in Berlin spielen, sind »Skizzen, dem Leben nachgezeichnet«. Wo ist dieses »Leben«? Erstlich im Gehirn von unreifen Menschen, welche als halbe Knaben Zola's Werke verschlungen haben und ihn – ohne seine großen schriftstellerischen Gaben zu besitzen – übertrumpfen wollen. Zweitens im Kopfe einiger Dogmatiker des jüngsten »Naturalismus«, welche Zola's Abhandlung über den »experimentalen« Roman gelesen haben und nun als Kunstnachrichter und Schriftsteller für die frohe Botschaft des souveränen Schmutzes eintreten.

Die Werke dieser beiden Gattungen sind zumeist derartig, daß man sie überhaupt nicht bespricht, – sie gehören halb, manche ganz zu jener Art von Büchern, wie sie in dem bekannten Werke von Nay verzeichnet stehen.

Die dritte Gruppe wird aus einigen Schriftstellern gebildet, welche erst in jüngster Zeit sich auf Berlin W. gestürzt haben, um es – der Ausdruck enthält eine Bosheit – zu »verwerten«, wie Lubliner, Mauthner und Lindau, welche alle den alten Teig neu kneten und dabei Alles, was auch einen wichtigen Teil des Lebens in W. ausmacht, vollkommen übersehen.

Dasjenige, worin sich die Gegenwart in ihrem höheren Streben kennzeichnet, scheint für die Herren nicht vorhanden. Daß auch in dem scheinbar nur dem Genuß fröhnenden Berlin W. ernste Menschen vorhanden sind, welche nach Erkenntniß und Wahrheit ringen; daß auch hier warme Herzen für alles Edle schlagen, den Kampf ums Ideal durchstreiten – davon weiß der Weh-Roman nichts; er weiß nichts von denjenigen Menschen, welche mitten in und trotz der »Gesellschaft« rein und gütig sind, mit und in Gott leben. Nichts weiß er von jenen Naturen, in welchen alle die feindlichen Strömungen der Gegenwart zusammenstoßen, und die in ihnen zu Grunde gehen oder siegen. Kurz: das Bild, welches W. in den jüngsten Romanen bietet, ist ein falsches und unbedeutendes. Die folgenden Betrachtungen werden den Ausspruch erhärten.

II.

Ein Roman von Fritz Mauthner ist betitelt » Quartett« (1886. Dresden, H. Minden).

Der Verfasser, welcher vor etwa neun Jahren in die Literatur eingetreten ist, hat in verhältnißmäßig sehr kurzer Zeit einen Namen gewonnen. Er besitzt auch Eigenschaften, welche ihn zu seinem Vorteil von vielen Andern unterscheiden. Er bekundet das Streben, seine Bildung zu mehren, er hat parodischen Witz, wenn auch keinen frei gestaltenden, und ringt danach, seinen Arbeiten den Stempel einer ernsteren Weltanschauung zu geben. Die letztere Eigenschaft vornehmlich spricht heute zu seinen Gunsten. Daß ihm jedoch künstlerisch freie Gestaltungskraft und Tiefe nicht in genügendem Maße eigen sind, beweisen mehr oder minder alle seine Arbeiten: er ist ein Halbdichter, welcher nicht nur mehr mit dem Verstande, als mit der Einbildungskraft arbeitet, sondern auch, wozu seine Belesenheit in der neueren Literatur beitragen mag, mehr oder minder sich an Fremdes anlehnt, sei es, daß er das Ernste parodirt, oder selbst Ernstes schafft.

Der neue Roman bedeutet wohl einen Fortschritt dem »Neuen Ahasver« gegenüber, aber eine entschiedene Eigenart ist auch hier nicht vorhanden. Der Grundzug ist ein stark pessimistischer in der Art, wie er bei Daudet hervortritt: das Niederträchtige behält Recht, die schwächlichen Vertreter eines schwächlichen Guten gehen halb oder ganz zu Grunde, denn das Sittliche in ihnen wurzelt nicht in den Tiefen ihres geistigen Wesens, sondern ist nur die verdienstlose »Moral des leidenschaftslosen Temperaments«. So ergiebt sich zuletzt für den Leser der notwendige Schluß: »Die Gesellschaft ist niederträchtig; gemeine Schlauheit und Genußsucht herrschen über Alles: die Dummen gehen unter.« Oder, um mit dem Herrn Kommerzienrat Pitersen zu reden (S. 89): »Das ganze Leben ist doch nur eine allgemeine Katzbalgerei um die besten Bissen.«

Das »Quartett« besteht aus dem Musiklehrer Gruber, einem eingewanderten Oesterreicher, und dessen Frau Leontine einerseits und dem Bankier Herbig und seiner Frau Martha, der Tochter des sehr reichen Kommerzienrats Pitersen.

Gruber hat der Letzteren vor ihrer Ehe Unterricht erteilt und Beide hatten eine ganz unschuldige und verschwiegene Neigung zu einander gehabt, welche bei Beginn der Geschichte als aufrichtige Wertschätzung noch besteht.

Gruber ist ein tüchtiger Musiker ohne einen Funken eigener Schaffenskraft, ein sehr argloser Mensch, mit einem Stich ins Alberne; ein begeisterter Verehrer seines einzigen Kindes, eines Knaben. Er liebt Leontine, ohne eine Ahnung von deren wirklichem Wesen zu besitzen.

Diese ist ein kaltes, genußhungriges, glanzsüchtiges Weib; gleichgültig gegenüber Mann und Kind, unzufrieden mit ihrem bescheidenen Lose

Im zweiten Paar vertritt der Mann das böse Prinzip. Aeußerlich von guten Formen, hat er den Vater Martha's durch ein Bubenstück gezwungen, in die Ehe zu willigen. Er ließ sie nämlich Briefe schreiben, welche so gefaßt waren, daß Pitersen annehmen mußte, die Tochter habe sich vergessen. Diese Briefe benutzte Herbig auf geschickte Weise, um sich die reiche Erbtochter zu gewinnen.

Martha erscheint als die unglaublich unbefangene Naive – wenn auch verheiratet: sie ist sanft und gut, liebt ihren Gatten über Alles und daneben warm und aufrichtig Gruber und ihre »beste Freundin« Leontine.

Diese vier Personen bilden nun das »Quartett«. Wir werden nicht mit der Entwickelung der Beziehungen bekannt gemacht, sondern sogleich in die Verwickelung eingeführt, wodurch dem Roman jede Steigerung verloren geht. Der Anfang schildert die Feier des Geburtsfestes Leontine's in Grubers Wohnung. Man sitzt bei Tische, der Hausherr näher bei Martha, Herbig dicht bei Leontine. Ein Zug – aus Zola's Schule – kennzeichnet das Verhältniß der letzteren: die Frau des Hauses läßt das Mundtuch fallen und Herbig benutzt das Aufheben um den »feinen Knöchel unter dem knisternden Seidenstrumpf« zu berühren. Leontine aber lächelt darüber nur »ärgerlich«.

Nach dem Essen spielen Gruber und Martha vierhändig miteinander; im Nebenzimmer aber läßt sich die Hausfrau küssen und enthüllt dann ihrem Verehrer, daß sie es in diesen Verhältnissen nicht länger aushalte. Am Abende desselben Tages bringt sie Herbig soweit, daß er den Entschluß äußert, schon morgen mit Pitersen wegen einer Scheidung von Martha zu sprechen.

Bei der Geburtsfeier lernen wir neben dem Quartett noch einige andere Menschen kennen: eine Schriftstellerin von etwa dreißig Jahren, welche alle Halbjahr mit irgend Jemand »sozusagen« verlobt ist, beim Skatspiel betrügt, die dumme Gutmütigkeit reicher Leute für sich und ihren Verlobten auf Kündigung ausbeutet, ziemlich gerne trinkt und »eine Cigarrette nach der anderen« raucht. Dann ihren augenblicklichen Liebling, einen halbverrückten jungen Musiker, welcher sich für ein Genie hält und sich so unverschämt benimmt, wie man es nur auf dem Papier thun kann; dann ein Ehepaar Lüttekorn, Verwandte Leontinens, sehr reich und von plebejischen Lebensformen; zuletzt einen Börsenmakler, Jakubowski. Diese Gestalt kennzeichnet auch die Abhängigkeit ihres Urhebers. Es ist einer jener Menschen, wie der jüngere Dumas sie in seinen Komödien mit Vorliebe verwendet. Sie ähneln dem Chor des antiken Dramas, welcher die Thaten und Leiden der Helden mit seinen Bemerkungen begleitet, und haben die Pflicht, zu bestimmten Zeiten ihre ironisirende Menschen- und Weltkenntniß auszusprechen und dabei etwas wie Gemüt durchblicken zu lassen; natürlich stehen sie auf Seite der »Anständigen«, ohne den Unanständigen übrigens jemals die Wahrheit derb und ohne Umschweife zu sagen. Eine solche Rolle spielt nun auch Jakubowski.

In den folgenden Abschnitten machen wir noch die Bekanntschaft verschiedener Leute, unter welchen Pitersen, Dr. Paulus und ein russischer Staatsrat zu nennen sind. Martha's Vater ist ein gemeiner Patron: gewissenloser Spekulant, Lebemann gemeinster Sorte, der sein »Bureau« für Orgien eingerichtet hat, zu Hause aber streng auf Anstand hält. Der »Doktor« ist ein Revolverjournalist niedrigster Gattung und dieser Staatsrat ein Lump.

Das ist nun die Gesellschaft, in welcher der Leser sich zu bewegen hat: einerseits abstoßendes Gesindel, andererseits schwächlich gutmütige Menschen ohne jede Tiefe, ohne echte sittliche Kraft.

So entwickelt sich, was man schon nach Lesung des ersten Abschnitts vermutet: Leontine, welche aus Berechnung sich dem Gatten Martha's nicht ganz hingegeben hat, thut es auf einer Schweizerreise, welche das Quartett unternimmt, weil es ihr schmeichelt, daß Herbig nahe daran war, Martha in einen Abgrund stürzen zu lassen, um frei zu werden. Das Verhältniß geht nach der Rückkehr weiter. Endlich entdecken Gruber und Martha die Wahrheit und die Letztere – ein Risler aîné weiblichen Geschlechts – stürzt sich aus Verzweiflung ins Wasser. Der Roman endet mit der sicheren Aussicht auf eine Vermählung Leontine's mit dem alten Pitersen, von welchem die Frau des Musikers schon ein Brillanthalsband und mehrmals bedeutende Geldsummen als »Gewinn« von Geschäften empfangen hat, welche der Kommerzienrat vorgeblich für sie auf der Börse gemacht hat.

Ich bin weit entfernt davon zu verlangen, daß der Romanschreiber uns nur edle, makellose Menschen schildern möge. Das wäre weder der Kunst, noch deren Rohstoff, dem Leben gemäß. Gerade aus dem Kampfe der Willensstrebungen, der gemeinen Selbstsucht und Leidenschaft mit irgend welchem geistigen Prinzip ergiebt sich jener Zusammenprall, welcher dem Dichter nicht nur berechtigte äußere Wirkungen darzustellen ermöglicht, sondern zugleich ihn tief in die Seelen schauen läßt.

Aber Herr Mauthner hat erstlich den Fehler begangen, daß er uns, nicht an sich unmögliche, aber nur sehr selten mögliche Verhältnisse als »Weltausschnitt« hinstellt. Nirgendwo verrät sich, daß irgend Jemand gegenüber diesem Rattenkönig von Niedertracht und abstoßender Gemeinheit das geringste Staunen äußere. Diese Verhältnisse erscheinen als selbstverständlich, als feststehend; die sogenannten reinen Charaktere bemerken nichts von ihnen, so sehr sind auch sie daran gewöhnt, und auch der ironische Menschenkenner sagt kein einziges Wort ehrlichen Zornes: er ist überzeugt, daß es so sein müsse, nicht anders sein könne. Durch dieses mittelbare und unmittelbare Zugeständniß erscheint der Zustand der Verkommenheit als ein durchaus allgemeiner, nicht nur für den geschilderten Kreis, sondern für alle giltig, welche ihm in der Wirklichkeit angehören. Wenn der Chemiker aus einer Quelle eine Flasche Wasser nimmt und dessen Bestandteile nach Anzal und Gewichtsmenge feststellt, so gilt das Ergebniß auch für das andere nicht untersuchte Wasser. Der Herr Verfasser hat seine »Analyse« ebenfalls so gemacht, als verlange er, daß sie nun als allgemein giltig zu betrachten sei. Damit aber hat er das Weltbild gefälscht, welches nun unwahr und unkünstlerisch zugleich geworden ist. Und wäre jeder einzelne Charakter dem Leben nachgezeichnet, wäre es jede einzelne Gemeinheit, so zusammengefaßt und zusammengedrängt wird das Ganze zu einer ästhetischen Lüge.

Wäre das das echte Berlin W., dann hätten die Linksten der Umstürzler Recht, welche verlangen, daß diese erbärmliche Gesellschaft der Besitzenden, angefault nicht nur, sondern durchseucht von oben bis unten, vernichtet werden müsse mit Feuer, Schwert und Dynamit.

Es fehlt der Gegensatz: ein einziger Vertreter thatkräftiger Sittlichkeit, welcher trotz des andringenden Schlamms offen und ehrlich den Kampf für den ethischen Gedanken führte, hätte genügt. Die zwei moralischen Waschlappen thuen's ebensowenig, wie der Spötter, welcher nie den Mut findet zu einem entscheidenden Schritt.

Zweitens: Der Herr Verfasser dringt nicht einmal in das Innere der Menschen. Sie reden und handeln; daß aber Beides aus einem Tieferen herauswachse, daß dieses der Nährboden sei – wir erfahren es nie, oder doch nur nebenbei. Diese Menschen scheinen keine Seele zu besitzen, in welcher aus dem Gewirr von Vorstellungen durch den Wesenskern bedingt, sich ein leitendes Gefühl, ein herrschender Gedanke entwickelt, und dann erst zu Wort und That verdichtet. Wie bei den meisten neuzeitlichen Franzosen sehen wir überall nur Aeußeres; niemals taucht der Dichter in die Tiefe, wo sich die That vorbereitet. So werden auch alle Gestalten veroberflächlicht und darum können wir für keine tiefere Teilnahme empfinden, nicht einmal jene ästhetische Teilnahme, welche auch einem Bösewicht, einem niedrigen Menschen sich zuwenden kann, wenn der Dichter uns in die Werkstätte des Willens hineinblicken läßt. Das ist die Folge des nur äußeren Realismus, welcher seine Kraft an der Schilderung dessen, was in die Sinne fällt, verzettelt und das in höherem Wortverstand Reale, nämlich das Geistige kaum beachtet.

Da ist's natürlich, daß nicht eine Gestalt intuitiv gebildet ist, nicht eine mit innerer Folgerichtigkeit sich bis ins Kleinste treu bleibt. Aus einzelnen Zügen, welche teils an verschiedenen Menschen beobachtet, teils erfunden sind, wird mosaikartig, Steinchen zu Steinchen, das Bild jeder einzelnen Gestalt zusammengesetzt; es scheint einheitlich, aber ist's nicht, weil eben dem Verfasser die eigentlich dichterische Kraft, Menschen in sich und aus sich selbst organisch werden zu lassen, mangelt. Ich kann das nicht Fall für Fall nachweisen, und ich muß mich begnügen, es bei Leontine anzudeuten.

Sie lächelt »ärgerlich«, als Robert ihren Fuß erfaßt, und läßt sich dann im Nebenzimmer küssen und liebkosen. Sie ist also bereits jeder weiblichen Scham bar. S. 19 erklärt sie, genießen zu wollen, so lange sie noch jung und schön sei. Eine reiche Frau wolle sie werden und frei sein von Gruber, um dem ärmlichen Leben zu entkommen.

Das ist Alles denkbar. Nun aber sagt sie ebenda: »Ich bin keine schöne Seele und will keine schöne Seele sein« und weiter: »Ich bin eine ganz gewöhnliche Frau, ich will meine Freiheit.«

Was ergiebt sich daraus für das »Innere«? Erstlich die Erkenntniß der eigenen häßlichen Seele und dann die Absicht, in dem Zustande zu verharren. Das aber erfordert, daß in ihrer Seele die Vorstellung von etwas Besserem vorhanden sein müßte, vielleicht vermittelt durch Grubers und Martha's Wesen. Da sie aber trotzdem eine schöne Seele nicht sein will, ist sie mit vollem Bewußtsein schlecht. Nicht an einer Stelle bricht späterhin dieser innere Gegensatz hervor, denn sonst müßte wenigstens nach Martha's Selbstmord das Gewissen erwachen, darum aber ist er auch ganz überflüssig hier betont. Viel natürlicher wäre er bei einer solchen Natur, wenn sie sich als »großgeistig« hinstellte, und die gemeine Genuß- und Selbstsucht vor sich selber mit einer Phrase bedeckte. Das allein wäre künstlerisch wahr. Sie verhöhnt dann Robert, als er nicht gleich auf den Vorschlag der Scheidung eingehen will. S. 22: »Reden Sie doch von Ordnung und Tugend mit Ihrer Frau oder mit andern guten und gläubigen Menschen.« Diese Worte bestätigen, daß ihr am Sittlichen nichts mehr liege.

Nun hat das Quartett nach dem Mittagbrode eine Spazierfahrt gemacht, in »bunter Reihe«; Herbig fuhr mit Leontine und sie wissen es so einzurichten, daß die Anderen sie verlieren. Bei einem ausbrechenden Gewitter fahren sie nach Charlottenburg in ein Gasthaus und auf der Fahrt hat Leontine sich größere Freiheiten von Herbig gefallen lassen.

Nach der Rückkehr dankt Martha, welche um Robert, der sich vor jedem Gewitter fürchtet, sehr besorgt war, der Freundin, daß sie mit ihm einen geschlossenen Wagen bestiegen habe. Da heißt es: »Leontine war bleich geworden«. Bleich? Wenn sie darauf hinarbeitet, der »Freundin« den Gatten zu nehmen; wenn sie eine schöne Seele nicht sein will, und Tugend verspottet, ist das Erbleichen durchaus unlogisch. Sie müßte durch eine spöttische Bemerkung über Herbigs Schwäche jedem weiteren Gespräch ein Ende machen.

Sie wollte mit Gruber auch über die Scheidung sprechen, aber sie schwankt dennoch. Sie, welche sich den Fuß »berühren« läßt, und mit Herbig in einem abgeschlossenen Zimmer Champagner trinkt, sie, die ihren Mann überzeugen will, daß er in Martha, diese in ihn verliebt sei, sie, welche der Letzteren nicht aus wilder Leidenschaft, sondern aus kühler Berechnung den geliebten Gatten rauben will, beugt sich Abends »fast bedauernd« über den schlafenden Gatten. Leontine, welche das Kind nicht um sich leiden mag und es immer in die Küche sendet, weint beim Anblick des munteren Kindes. Das ist Alles unwahr und widerspricht dem Charakter. Herbig hat erfahren, daß er verloren und ein Bettler sei, wenn er auf der Scheidung beharre. So nimmt er vom Kommerzienrat ein Brillanthalsband, welches dieser einer Sängerin hatte schenken wollen, um Leontine durch das Geschenk zu beruhigen. Sie aber wütet, als er ihr die augenblickliche Unmöglichkeit der Scheidung erklärt, zerreißt das Halsband und fordert von ihm eine That der »Mannheit«. Wieder unwahr.

Leontine will eine reiche Frau werden und eine glänzende Rolle spielen. Sie weiß, daß Robert, sobald Pitersen will, ein Bettler ist, also, ihr ihre Träume nicht verwirklichen kann. Nein, dieses Weib behielt ruhig den kostbaren Schmuck und würde noch warten und dabei alles aufwenden, um doch zum Ziele zu gelangen; gewönne sie zuletzt die Ueberzeugung, daß Robert nicht das richtige Werkzeug für sie sei, so ließe sie ihn fallen und griffe nach einem andern, denn sie liebt Herbig nicht (S. 245 Zeile 2 v. o,). Trotzdem dringt sie stets darauf, daß Gruber und Martha zur »Aussprache über ihre Gefühle« gebracht werden müssen; sie will also die Scheidung, um den dadurch arm werdenden Herbig zu heiraten. Das ist ein Widerspruch, welcher den ganzen Charakter ästhetisch unmöglich macht.

Sie wendet sich nun wirklich endlich Pitersen zu (S. 277 ff.). Als aber dieser ziemlich offen die Frage stellt, ob sie durchaus die reiche Frau eines reichen Mannes oder nur dessen reiche Geliebte sein wolle, sagte sie mit » echtem Schamerröten – –.« Mit echtem? Unmöglich. Diese Frau hat keinen Funken echter Scham in sich.

Diese Ausführungen sind genügend, um zu zeigen, daß es der Gestalt an innerer Wahrheit fehle. Und dasselbe ließe sich bei Martha und Herbig nachweisen. Wohl führt sich der Roman als der erste einer Reihe ein – nach dem Vorbilde Balzacs und Zola's – welche »Berlin W.« betitelt ist, aber da er abgeschlossen auftritt, müßte er für sich ein Ganzes sein. Er ist es nicht, er ist auch kein Kunstwerk, sondern eben auch nur ein Roman, wie sie zu Dutzenden jährlich geschrieben werden, ohne Tiefe der Charakterzeichnung, ohne innere künstlerische Selbstständigkeit, ohne den Stempel einer eigenartigen dichterischen Persönlichkeit. Als einzigen Vorzug könnte man es bezeichnen, daß er in anständigem Deutsch geschrieben ist. Leider heute auch schon ein Verdienst, welches immerhin beweist, daß der Herr Verfasser es mit der Sache redlicher meint, als viele Andere. Aber diese äußere Form, und wäre sie auch wahrhaft meisterhaft, kann den Mangel an innerem Dichtergeist nimmer ersetzen.

III.

Auch Hugo Lubliners » Die Gläubiger des Glücks« (1886. Breslau, S, Schottländer) spielen zum größeren Teile in Berlin W. und bilden den ersten Abschnitt einer Reihe von Romanen, deren gemeinsamer Name »Berlin im Kaiserreich« lautet. Mauthners Buche gegenüber hat dieser Roman eine gute Eigenschaft: es treten mehr brave Menschen darin auf, so daß man das Werk nicht mit dem Gefühl des Unbehagens aus der Hand zu legen braucht. Aber dagegen besitzt Mauthner wenigstens starkes Streben nach künstlerischer Form; wurzelt es auch nicht in der Tiefe eines ursprünglichen Dichtergeistes, so doch in der Einsicht des Kritikers, welcher sich mit Hilfe des Verstandes in Anknüpfung an Vorhandenes Rechenschaft von den Kunstmitteln zu geben vermag. Diese Gabe fehlt Herrn Lubliner fast ganz.

Er hat sich bekanntlich durch Lustspiele einen weit bekannten Namen erworben und neben Lindau, Moser etc. durch seine Stücke einige Zeit die deutschen Bühnen mit dem notwendigen Bedarf versorgt. Dieselben zeigten ein besseres Streben und das Ringen, einen Gedanken zu gestalten. Tieferer Humor und Witz fehlten ebenso, wie tieferes Gemüt, aber das Aeußere des Lebens war im Allgemeinen gut, zuweilen mit »Esprit« – das deutsche »Geist« ist etwas anderes – wiedergegeben; Ursprünglichkeit mangelte, denn die Mache und manche einzelne Gestalt waren französischen Vorbildern entnommen, aber im Ganzen blieb der Eindruck ein anständiger.

Als Kennzeichen aller Stücke Lubliners kann die Zerrissenheit des Stoffes gelten. Man fühlt, daß er sie überwinden möchte, aber es gelingt ihm niemals ganz. Der Hauptgedanke reicht nicht aus und so müssen Nebendinge, welche mit ihm gar nichts Gemeinsames haben, angeklebt werden: so besteht das Stück aus Stückchen, ist Mosaikarbeit, aber kein lebendiges Gewächs.

Das ist auch der Roman nicht. Der Titel reizt die Neugier, weil man nicht recht weiß, was unter Gläubigern des Glücks zu verstehen sei. Bd. I S. 25 giebt eine Nebengestalt die Erklärung – im Namen des Verfassers, denn dieser Herr Köhler wäre in Wirklichkeit unfähig dazu. Er sagt zu Clara: »Thun Sie niemals wissentlich Unrecht, fürchten Sie die Menschen nicht, hassen Sie die Gemeinheit bis aufs Blut, schlagen Sie sie todt, todt, todt, wo Sie sie treffen. Aber lieben Sie die Guten, lieben Sie sie wirklich, nicht so obenhin, sondern aufrichtig, warm, helfend. Dann gehören Sie zu den Gläubigern des Glücks! Sie sind Alle aufgeschrieben, Alle! Aber das Glück ist nicht mehr so reich, wie es früher war, es ist bestohlen worden von Gaunern, Schurken und Lumpen und nun kann es nicht alle Gläubiger befriedigen. Wenn es aber einmal einen herausgreift – dann, ja dann giebt es mit vollen Händen.«

Diese Erklärung zeigt, obwohl dem Sprecher nicht angemessen, »Esprit«. In einer rührenden Lage irgend eines Bühnenstücks müßte sie sich vortrefflich ausnehmen. Aber sie ist dennoch flach, weil sie aus einer oberflächlichen Weltanschauung hervorgegangen ist. Liebt der Mensch wirklich, ist er sittlich in ernstem Sinne, dann bekümmert er sich um »Glück« nicht, weil er das Glück schon besitzt. In Lubliners Worten bildet die Beziehung auf den äußeren Lohn des guten Handelns die Hauptsache und darum ist diese Anschauung oberflächlich.

Zum Teil ist er diesem Leitgedanken treu geblieben: alle anständigen Leute kommen zu Vermögen und zu andern angenehmen Dingen. Die eine Trägerin der Ereignisse, Clara, erbt neben 500,000 Mark baar, einige drei- oder vierstöckige Häuser und große Baugründe, findet nach kurzer Prüfungszeit Glück in der Ehe und zuletzt ihre wirkliche Mutter; der Maler Rainoldi kommt zu einer reichen Frau (zu Clara), erringt ihre Liebe, wird berühmt. Der Techniker Paul Baumgart hat zwar einige Zeit zu kämpfen, zuletzt aber heiratet er die Tochter eines reichen Konservenherstellers, wird Teilhaber am Geschäft und wir dürfen ihn mit der Ueberzeugung verlassen, daß er seinen künftigen Kindern auch Häuser, Baugründe und Staatspapiere wird hinterlassen können. Seinem Schwiegervater, der sich vom armen »Vorkosthändler« zum reichen Manne hinaufgearbeitet hat, ist die Redlichkeit und Gutmütigkeit vom Glück ebenfalls bis auf den letzten Rest der Schuld mit klingender Münze bezahlt worden. So wird der »Besitz« und zwar der reiche Besitz durch die Führung der Ereignisse als der Lohn hingestellt, welchen das Glück seinen Gläubigern verleiht, so daß sie zu Vertretern der »zahlungsfähigen Moral« werden. Als dunkler Gegensatz dient eine Gruppe von Menschen, welche nicht arbeiten, nicht sich beschränken wollen und denen es deshalb auch am Schluß des Romans recht schlecht geht. Man sieht: die Rechnung ist sehr einfach und die schlichte Folgerung aus ihr lautet: »Sei ein halbwegs anständiger Mensch und arbeite, dann kommst Du sicher einmal auf irgend eine Art zu Geld und Besitz.«

Die tiefere Wahrheit, daß man im Lebenskampfe sich als sittlicher Mensch sowohl, wie als Bürger behaupten könne, daß man einem Leitbilde nachzustreben und es zu verkörpern im Stande sei, auch ohne dieses »Glück«: von dieser echten Wahrheit ist in dem ganzen Werke nicht die leiseste Ahnung zu entdecken. Mit einer zuweilen rührsamen Behäbigkeit wird das Glück als Besitz verkündigt und die Spießbürgeranschauung auf den Thron gehoben. Die damit verknüpfte Forderung anständigen Handelns hebt den materialistischen Grundgedanken nicht auf.

Ergiebt sich nun auch die Weltanschauung, auf welcher ein Werk aufgebaut ist, als eine nüchterne und flache, so könnte es doch immer noch wenigstens äußerlich ein Kunsterzeugniß sein. Aber auch das ist hier nicht der Fall. Die Mache ist von einem geradezu kindlichen Ungeschick.

Der größte Fehler besteht darin, daß H. Lubliner keine Gestaltungskraft besitzt und darum immer zu Beschreibungen seine Zuflucht nimmt. Kennzeichnend ist Eins: jedes Mal, wenn eine neue Gestalt auftritt, wird uns von ihr ein »Steckbrief« verabreicht, welcher aber nicht nur das Aeußere schildert, sondern uns sogar mit solchen inneren Eigenschaften bekannt macht, welche im ganzen Verlauf der Handlung nicht ein einziges Mal thatsächlich sich offenbaren. Bd. I S. 30: »Adele und Fräulein Rodmann kamen endlich. Adele ist ein Mädchen von zwanzig Jahren, auffallend schön, elegant, aber mit zu sicherem Benehmen für ihr Alter. Sie beherrscht stets vollkommen ihren Gesichtsausdruck und wenn sie es darauf anlegt, kann sie mit einem Neigen ihres hübschen Kopfes und mit einem unschuldsvollen Lächeln einen geradezu kindlichen Eindruck hervorrufen. – – – Ihr Benehmen gegen ihren Vater ist, ohne auffallend die Form zu verletzen, kalt und nichtachtend.«

Der Verfasser schildert, ohne Rücksicht auf das, was der Augenblick verlangt, wie der erste beste Kunstspieler. Nicht ein Mal im Roman kommt das »unschuldvolle Lächeln mit dem kindlichen Eindruck« zur Geltung, es ist also vollkommen überflüssig und unkünstlerisch, dasselbe hier zu betonen. Das Benehmen gegen den Vater wird »nichtachtend« genannt, soll aber die »Form nicht auffallend verletzen«. Wem das nicht auffiele, der müßte seltsame Anschauung von Lebensart haben.

Dann kommt Fräulein Rodmann an die Reihe. »Sie ist klein, dick, hat spärliches, glatt anliegendes Haar, matte Augen mit ununterbrochen zwinkernden Lidern.« Die edle Dame tritt weiterhin kaum flüchtig auf.

S. 43 machen wir die Bekanntschaft eines Herrn von Norbert. »Er war ungefähr dreißig Jahre alt, von schlanker Figur« – und so geht's weiter.

S. 65 wird der Landschaftsmaler Bading, S. 67 Rainoldi beschrieben: »Seine Figur ist groß, sein Kopf ist ausdrucksvoll. Seine Stirn ist breit und kantig. Seine Züge lassen selten auf seine Gemütsstimmung schließen, seine Augen richten sich rasch und fest auf den Gegenstand, der sie interessirt und verlassen ihn ebenso schnell, wenn sie ihn geprüft haben« – u. s. w.

S. 147: »Paul Baumgart ist ein junger Mann von 24 Jahren von selten schlankem und schönem Wuchse –« daran schließen sich Mienen, Augen, Hautfarbe, Stirn, Haar, Augenbrauen, Nase, Kinn und Schnurrbart.

Und in derselben Weise geht es bei jeder Gestalt, welche eintritt; ein Beweis, daß der Herr Verfasser noch nicht Zeit gehabt hat, über Erzählungskunst nachzudenken. Auch äußerliche Eigenschaften müssen im Laufe der lebendigen Handlung geschildert werden: eine Stirne, wenn der Blick einer anderen Gestalt des Romans auf sie fällt; ein Auge, wenn es aufblitzt, ein Körper, wenn er sich aufrichtet. Diese unkünstlerische Neigung zum Beschreiben drängt sich überall hervor. Nur zwei Beispiele. S. 102 unterhalten sich Clara und Rainoldi, d. h. der Verfasser schildert ihre Unterhaltung, die Eigenschaften der Redeweise werden aufgezählt und man muß sie auf Treu und Glauben als richtig annehmen, obwohl sie in keinem wirklich wiedergegebenen Gespräche sich zeigen. S. 149 wird im Anschluß an den Steckbrief Baumgarts geschildert, wie er über verschiedene Dinge dachte. Da zählt der Verfasser eine große Zahl von Einzelheiten auf, deren keine wir erleben, d. h. als lebendige Handlung vor uns verkörpert erblicken. Die Veräußerlichung verursacht einerseits Weitschweifigkeit, andererseits erklärt sie es, daß fast alle Gestalten flach wirken, daß keine uns irgendwie tiefer berührt.

Ein anderer Fehler liegt in der Neigung, Betrachtungen einzuschieben, welche mit dem Ganzen gar nichts zu thun haben. Rainoldi besucht das Asyl für weibliche Obdachlose. Da erzählt uns Herr L. auf drei Seiten von der Gründung und Nützlichkeit der Anstalt. Bd. II S. 64-66 setzt er auseinander, was die Tagespresse in Frankreich, was in Deutschland bedeute.

Alle die angeführten Einzelheiten beweisen den Mangel an jenem Ernste, mit welchem ein echter Roman- Dichter seine Aufgabe erfassen sollte. Ob er den Stoff mit schlichtem Wirklichkeitssinn erfasse, ob er die Wirklichkeit verkläre: er muß den Vorwurf, welchen er gewählt hat, künstlerisch beleben, d. h. auch »anschaulich« gestalten. Bei dem Beiwerk, wie z. B. bei nur flüchtig erscheinenden Gestalten, mag er sich mit kurzen Andeutungen begnügen, aber die eigentlichen Träger der Ereignisse müssen von allen Seiten körperlich ausgearbeitet sein. Ihre Eigenart muß sich entwickeln in lebendiger Handlung, in kennzeichnendem Gespräch und in berechtigter Selbstbetrachtung, so daß wir das Innere im Aeußeren erkennen, das Aeußere wieder im Spiegel des Inneren. Wie die Mischung verschiedener Erze nur dann zum Gusse fertig ist, wenn alle Bestandteile geschmolzen sich durchdringen, so auch hier; Handlung und Menschenkennzeichnung dürfen nicht für sich behandelt werden. Dann nur wird die innere Einheit gewonnen, dann nur »Stil« erreicht.

Dieser »Stil« mangelt heute den meisten Romanschreibern, er fehlt auch bei Lubliner. Am meisten offenbart sich das in der Schreibweise.

Es ist ja leider eine unleugbare Thatsache, daß die Behandlung der Sprache bei uns in Deutschland sehr viel zu wünschen übrig läßt. Mag man es bei Zeitungsschreibern, Kaufleuten entschuldigen können, von einem Schriftsteller jedoch muß man verlangen, daß er die Sprache achte und pflege; auch wenn er sie nicht im höheren Sinne zu beherrschen und zu bereichern vermag, soll er ein treuer Verweser derselben sein. Klarheit des Ausdrucks, Richtigkeit des Satzbaues und Vermeidung von Widersprüchen sind die Eigenschaften, welche man mindestens von der Schreibweise eines Romanschreibers verlangen muß.

Auch darin genügt der Verfasser den Anforderungen nicht. Alle Vergehen aufzuzählen, ist mir nicht möglich, ich wähle nur einige Beispiele.

Bd. I. S. 11. »Clara erinnert sich ihres Vaters kaum, dagegen stand ihr das Bild ihrer Mutter klar vor Augen. Sie war eine auffallend schöne Frau, beliebt durch ihre wohlwollende Art – – – . Nur gegen sie, das Kind, war sie unduldsam.« Im zweiten Satz wendet der Verfasser das persönliche Fürwort an, welches sich sprachgemäß nur auf »Clara« beziehen kann. Im dritten Satze kommen nun zwei »sie« zusammen. Der Verfasser empfindet die Schiefheit des Ausdrucks und hilft sich nun durch die Einschaltung von »das Kind«. An Stelle des Sie im 2. Satze müßte ein »diese« stehen, der zweite und dritte könnten vereint werden, z. B. »diese beliebt durch ihre wohlwollende Art, war nur gegen sie unduldsam.«

Denselben Fehler begeht Herr Lubliner sehr oft; man weiß zuweilen nicht, worauf sich das Fürwort bezieht. S. 13 heißt es: »Diese Erziehung lehrte Clara so viel von den Pflichten der Dankbarkeit, sie mußte sie so oft ausüben – – – .« Schon am Beginn ist's nicht sofort klar, ob »Erziehung« oder »Clara« Subjekt sei; das widerholt sich dann bei den zweien »sie«, deren erstes man anfänglich nur mit »Erziehung« verbinden kann, während es sich auf Clara bezieht.

Nicht selten ist jene Eigentümlichkeit des kaufmännischen Ausdrucks, welche Lehmann und Sanders schon so oft und nachdrücklich getadelt haben – ohne Erfolg. Ich meine die Stellung des Subjekts in durch »und« verbundenen Hauptsätzen. S. 15: »sie sahen in Clara eine Art Hilfslehrerin, ja mit dem Uebermut der Jugend eröffneten sie – –« statt; »ja, eröffneten mit dem Uebermut« u. s. w. Dieser Fehler kommt mehrfach vor.

Noch öfter ist die Zeitfolge falsch. S. 11: »Clara erinnerte sich, daß ihre Mutter sie oft unbarmherzig schlug« – statt »geschlagen hatte.«

Ohne tiefere Ursache wendet L. die erzählende Gegenwart an. Geschieht das in Augenblicken, wo sich eine Reihe von Vorgängen rasch abspielt, so belebt diese Art von Vergegenwärtigung das Ganze. Ebenso ist sie berechtigt, wenn eine Gestalt sich in das eigne Innere versenkt. Aber bei Herrn Lubliner ist die Wahl der Zeit nur von augenblicklicher Laune abhängig. Bd. II. S. 54 ff. schildert er, wie Baumgarten mit Rainoldi aus der Malerwerkstätte in die Wohnung schreitet. Das geschieht eine Seite lang in der Gegenwart, dann eine Seite in der Halbvergangenheit, dann wieder in der Gegenwart. Die Vorgänge sind fast belanglos, eine beschleunigte Gangart hat keine künstlerische Berechtigung und doch wird sie angewendet. Dagegen S. 120 ff., wo Baumgart von einem betrunkenen Arbeiter verfolgt wird und die Ereignisse sich drängen, steht überall die Halbvergangenheit. Kurz: auch hier mangeln ästhetische Ueberzeugungen, die Kunstmittel sind nicht überdacht.

Man halte diese Erörterungen nicht für Wortklaubereien. Herr Lubliner tritt mit dem Gedanken hervor »Berlin im Kaiserreich« zu schildern, also er will eine großartige Aufgabe lösen. Da muß man doch auch den Anspruch erheben dürfen, daß er als Künstler sie löse. Ist das nun nicht der Fall, beweist vielmehr der Anfang, daß dem Verfasser der Ernst des Künstlers fehle, dann kann man auch kaum die Vermutung unterdrücken, daß er auch nur eine »Mode« habe mitmachen wollen. Andererseits jedoch ist man berechtigt von einem bekannten Schriftsteller zu fordern, daß er seine Kunst achte, in jedem Werke wenigstens sein Bestes gebe. Der »Name verpflichtet« – wie der Adel; denn sonst schöpfen die noch kleineren Geister aus solchen Beispielen den Mut, noch Schlechteres zu leisten. Mag das Werk noch so sehr »gefallen«, zehn und zwanzig Auflagen erleben, das gilt gleich; jedem unbefangenen Kunstrichter bedeuten die »Gläubiger des Glücks« eine Niederlage.

IV.

Der Dritte unter den Romanschreibern, welche Berlin W. zum Orte der Ereignisse gewählt haben, ist Max Kretzer mit seinem neuesten Buche » Drei Weiber«.

Der Verfasser ist vor etwa neun Jahren in die Literatur eingetreten. Ursprünglich dem Handwerkerstande angehörig, hatte er reichlich Gelegenheit, das Leben und Treiben der »kleinen Leute,« und der Arbeiter kennen zu lernen. Der Fall von einer Leiter machte ihn arbeitsunfähig und in der Zeit des Krankseins entwarf er seine ersten Arbeiten. Die kleineren Lebensbilder und Erzählungen verrieten zwar, daß er niemals eine geregelte Bildung empfangen habe, aber sie zeigten in vielen Einzelheiten entschieden eigenartige Begabung, welche vornehmlich dort hervortrat, wo er das Leben der ihm vertrauten Kreise schilderte. Mitten in seine Entwicklung fielen die Einflüsse Zola's und leiteten ihn allmälig auf das Gebiet des sozialen Romans und des Naturalismus. Die Kunstwidrigkeit des letzteren sich klar zu machen, dazu reichte die anfangs mit ehrlichem Willen angestrebte, aber doch durchaus lückenhafte Bildung nicht aus und so gab er sich denn ganz den Eindrücken des fremden Vorbildes hin. Wo er die Verhältnisse jener Berliner Bewohner, welche um den Tag zu kämpfen haben und dabei oft dem Elend oder dem Laster verfallen, sich zum Stoffe wählte, dort traten seine bedeutenden Anlagen noch ungebrochen hervor und selbst Gegner mußten anerkennen, daß er hier seltene Beobachtungsgabe und genaue Kenntniß des Lebens bekunde. Ebenso entschieden offenbarte sich die warme Teilnahme an dem Geschicke dieser »Armen und Elenden« und auch ein gewisser Humor fehlte nicht.

In der Form dagegen zeigten sich die Einflüsse Zola's und Daudets und zwar vornehmlich der Fehler Beider. Von dem Ersteren entlieh er die Sucht mit Worten zu malen auch dort, wo die Beschreibung ganz unkünstlerisch ist, weil sie mit dem Innenleben der Gestalten nicht zusammenhängt: nach dem Zweiten richtete er sich im Bau der Romane. Immer mehr zerflatterten die Stoffe unter seiner Hand, der Leitgedanke des Ganzen wurde zerrissen, und die Auftritte wurden nach dem Grundsatz vom »Ausschnitt aus der Wirklichkeit« mehr neben einander hingestellt, als innerlich verknüpft. Damit hatte der junge Romanschreiber ganz das hingegeben, was er in seinen Erstlingsarbeiten, besonders in den »Beiden Genossen« zu erreichen auf dem besten Wege war: die künstlerische »Idee«, welche alle Teile gleichmäßig beherrscht und sie zu lebendigen Glieder eines von innen wachsenden Gebildes gestaltet.

Schon in den früheren Romanen hatte sich Kretzer von seinem Naturalismus verführen lassen, gewisse wirkliche Menschen nach ihrem äußeren Wesen nicht nur ganz genau abzuzeichnen, sondern sie auch als das, was sie im Leben ihrem Berufe und ihrer Abstammung nach sind, einzuführen. Nicht nur die wissenschaftliche Aesthetik, welche von der jungen Schule um so mehr verachtet wird, je weniger sie von ihr gekannt ist, sondern auch die größten Dichter haben diese Art verurteilt, aus rein künstlerischen wie aus sittlichen Gründen. Es sei abgesehen davon, daß sich Wahrheit und Erfindung trotz allem in solchem Abklatsch verquicken; aber nur zu leicht schleicht sich persönliches Uebelwollen mit hinein und das Ganze erscheint dann als eine That der Rache, welche eines vornehmeren Menschen einfach unwürdig ist. Selbstverständlich erscheint es, wenn sich dann auch in der Beurteilung des Buchs persönliche Stimmungen zeigen und dadurch der Standpunkt der Kunstrichter verschoben wird.

Ueberall, wo Kretzer Menschen höherer Stände zu zeichnen unternahm, hat er gezeigt, daß ihm deren innere und äußere Lebensweise nur sehr oberflächlich bekannt seien. Es ist stets mißlich, wenn ein Schriftsteller seinen Stoff nicht beherrscht, es ist's noch mehr, wenn er nach seinem künstlerischen Glaubensbekenntniß sich darauf angewiesen findet, Kleinigkeiten zu bemerken, wie sie sich innerhalb bestimmter Kreise aus Gewohnheit oder Uebereinkommen heraus gebildet haben. Kretzers Arbeiter, Kleinkrämer, Fabrikmädchen, Straßendirnen und jüdische Pfandleiher sind durchaus wahr, sie reden, gehen, essen und trinken vollständig nach der Art ihrer Vorbilder, die Menschen der feineren Kreise aber nicht, weil sie dem Vers, mehr obenhin, ich möchte sagen, von der Straße und vom Hörensagen, als von wirklich engerem Verkehr bekannt sind. Bezeichnend ist's, daß er Damen der guten Gesellschaft mit »Madame« anreden läßt. Nur die »angefaulten« Mitglieder der Gesellschaft und diejenigen, welche nur halb zu den besseren Ständen gehören, zeigen scharfbeobachtete Züge, die sich aber fast immer nur auf das Aeußere beziehen.

Ein eingehender Bericht über den Stoff der »Drei Weiber« ist nicht möglich, weil dem Ganzen jede künstlerische Einheit mangelt. Der Verfasser nennt sein Werk »Berliner Sitten- und Kulturroman«, aber statt Roman hätte er » Bilder« sagen müssen, denn der Aufbau ist getreulich jenen » Scène de la vie parisienne« nachgebildet, wie sie seit fast zwanzig Jahren – die Anfänge mitgerechnet seit fast fünfzig – bei den Franzosen üblich sind. Es sind an einander gereihte Bilder, manche weit über ihre Bedeutung betont und ausgeführt und nur lose durch die Hauptgestalt verbunden. Diese ist Bruno Neukirch, der Sohn eines in sehr schlechter Lage gestorbenen Großgrundbesitzers. Der junge Mann hat als unbesoldeter Referendar das geschmälerte Erbe vergeudet. Da macht er auf einem Balle die Bekanntschaft einer jungen Geheimrathswittwe, Frieda's von Setzen. Diese befindet sich nur in dem Nießbrauch des großen Vermögens, welches ihre Stieftochter Fanny nach deren Verheiratung ganz zufallen soll, falls diese sich bis zum 20. Jahre vermält. Kurz, das Testament, welches vom rechtlichen Standpunkte aus etwas romanhaft erscheint, ist eine Rache des Verstorbenen, welcher der zweiten Gattin das Unglück vergelten will, das ihm die übereilte Ehe mit der Tochter »einer durch Vermögensverhältnisse zerrütteten Offizierfamilie« (S. 3) eingetragen hat.

Frieda von Setzen verliebt sich in den schönen Referendar – und hält ihn vollkommen aus. Aber auch ihre Stieftochter wird von leidenschaftlicher Neigung zu Bruno erfaßt. Frieda sieht, obwol von wilder Eifersucht ergriffen, kein anderes Mittel, sich selber den Liebhaber und das Geld zu erhalten, als die Vermälung Bruno's und Fanny's. Der niederträchtige Lump ist damit ganz einverstanden eine Art von Doppelehe zu führen. Drei Jahre, bevor der Referendar ins Haus kam, hatte die Geheimrätin ein junges Mädchen aus dem Nachbarhause, Olga Braun, die Tochter eines Arbeiters, als Dienerin ausgenommen. Auch diese fällt in Bruno's Schlingen. Das nun sind die drei Weiber, welche dem Roman seinen Namen gegeben haben. Diese Andeutung des Hauptinhalts genügt zur Erklärung der Thatsache, daß man sich von dem Stoffe abgestoßen fühlen muß. Die häßliche Empfindung wird noch stärker, da Fanny den Bräutigam und die Stiefmutter in einer Lage gesehen hat, welche nichts mehr zu erraten übrig läßt, und ihn trotzdem heiratet. Man watet förmlich im Sumpfe. Als die Geheimratswittwe nicht mehr über die gewohnten Einnahmen zu verfügen hat, wird sie Maitresse eines Kommerzienrats, der früher im Zuchthause gesessen hat. Olga sinkt, von Bruno aufgegeben, zur Straßendirne hinunter; ein Major von Schimmel treibt sich mit Vorliebe in zweifelhaften Schenken »mit weiblicher Bedienung« herum, borgt von allen Leuten kleine Beträge, die er schuldig bleibt; seine Gattin ist als Mädchen von ihrem Klavierlehrer verführt worden und hat noch jetzt Verhältnisse. Doch wozu die Namen! Fast alle Leute der besseren Kreise sind Lumpen, Wüstlinge, halbverkommene Menschen, bis auf eine Familie von Lambert, deren Mitglieder jedoch ziemlich verwaschen gezeichnet sind. Edelmut und Herzensgüte entfalten nur einige Mitglieder der unteren Schichten, der Vater Olga's, Paulus Liese, ein armer Teufel, welcher in Gesellschaften und zweifelhaften Vergnügungslokalen Klavier spielt, und die Köchin Minna.

Der Naturalismus giebt sich den Anschein, als verachte er die freie Erfindung, und fordert, daß man seine Erzeugnisse als »Urkunden des Menschenlebens« betrachte. Sind nun die »Bilder« Kretzers wahrer, als diejenigen welche Mauthner oder Lubliner gezeichnet haben? Scheinbar ja, insofern wenigstens einige der Gestalten, besonders die Köchin Minna sicher mit größter Sachkenntniß beobachtet sind. Aber haben die Bilder wirklich als »Urkunde« Wert, bietet der Verfasser einen Kulturroman? Das ist entschieden zu bestreiten. Ist es etwa in Berlin Sitte, daß ein Referendar sich von der Mutter aushalten läßt und dann die Tochter heiratet, ohne das erste Verhältniß fallen zu lassen? Wird wirklich jedes anständige Arbeiterkind zuerst von einem Lumpen der besseren Stände verführt und so auf den Weg zum Dirnentum gestoßen? Prügeln und hauen sich die Frauen, wie Frieda und ihre Stieftochter derartig, wie H. Kretzer es uns schildert? Ist es gebräuchlich, daß Majors a. D. sich in Schenken mit weiblicher Bedienung umhertreiben und daß Herren nach jeder Gesellschaft noch in ein berüchtigtes Caféhaus der Friedrichstraße gehen, um dort mit Dirnen Zoten zu reißen? Ist die Geschichte im »feudalen Klub«, wo Liese für den alten Braun sammelt, möglich? Wann ist jemals in Berlin ein Mann, welcher im Zuchthaus gesessen hat, zum Kommerzienrat gemacht worden?

Es sind fast durchweg Ausnahmsfälle, zum Teil Unmöglichkeiten, die uns der Verfasser als Sittenbilder aus Berlin vorführt. Dadurch erscheint das Ganze als Tendenzroman im übelsten Sinne, als eine künstlich hergestellte Lüge. Der Schmutz, welcher in einzelnen Winkeln der besseren Gesellschaft vorhanden ist, wird auf einen Haufen zusammengekehrt und dann gefordert, daß man darin die wirkliche » Kultur« Berlins erkenne. Ich kann nur behaupten: jene Kreise, in welchen sich diese Kultur wirklich verkörpert, das Leben unserer höheren Beamten, Offiziere, Gelehrten und gebildeten Bürger sind Herrn Kretzer einfach unbekannt. Aus schmutzigen Klatschgeschichten, wie sie an Biertischen die Runde machen, aus Vorkommnissen des Straßenlebens, wie sie sich zuweilen abspielen, wenn gebildete und ungebildete Bummler zusammenstoßen, aus dem Gerede von Dienstboten, die sich auf den Hintertreppen begegnen, ist dieser »Sitten- und Kulturroman« zusammengebraut und, was bei einem Schriftsteller von Begabung unverzeihlich ist, durch eine starke Beigabe persönlichen Grolls für gewisse Leute mundgerecht gemacht. In großen Kreisen Berlins kennt man genau die Vorbilder für Schichlynski, für den Major und seine Gattin, für den Verleger Löschkopf, den Dr. Isidor Gerechter, für die »Amerikanerin« u. s. w. Man weiß aber auch, daß der Verfasser mit mehreren derselben persönliche Streitigkeiten gehabt habe. So erhält das Buch den Stempel einer Schmähschrift und schädigt den Urheber in den Augen Aller, welche rechtlich denken. Und weil es durch die Art der Schilderung den Anschein erweckt, als seien die dargestellten Verhältnisse allgemein herrschend, ist es zugleich eine Verleumdung Berlins.

Auf die vielen Verstöße, welche der Herr Verfasser in den Schilderungen der äußeren Lebensformen gemacht hat, will ich nicht weiter eingehen. Ich wende mich zu gewissen Abschnitten, welche beweisen, daß Kretzer immer mehr seine ursprüngliche Selbstständigkeit aufgiebt und sich ganz zum Nachahmer Zola's ausbildet. Das erhärten erstlich zwei Scenen: das eine Gastmahl bei Frau von Setzen und das Fest im »feudalen Klub«. Wie Zola es liebt, solche Zusammenkünfte bis ins Kleinste zu schildern, so auch Kretzer. Im ersten Bande sind hundert Seiten mit der Schilderung der Gesellschaft bei der Geheimrätin ausgefüllt: im zweiten nimmt das Fest achtzig in Anspruch. Die ganze Art der Darstellung, welche alle Geräusche vom Summen des leisen Gesprächs, vom Klappern und Klirren der Eßgeräthe bis zum wirren Lärm gegen das Ende wiedergiebt, die Beobachtung der verschiedenen Lichtreflexe, die Art, wie die Anwesenden gegenseitig sich Auskunft über ihnen unbekannte Festteilnehmer geben u. s. w., das alles ist nicht so sehr Kopie der Wirklichkeit, als eine sehr geschickte Nachahmung von Zola's Technik. Wäre aber die Schilderung noch geschickter gemacht als sie es ist, sie bliebe dennoch kunstwidrig. Wenn ein Bildhauer einer lebensgroßen Gestalt einen Arm von zehnfacher Lebensgröße geben würde, so schriee der dümmste Laie über das Zerrbild. Hier liegt derselbe Fall vor. Das Gastmal nimmt über zwei Fünftel des Bandes ein, hat aber mit dem Hauptgedanken nur losere Beziehungen. Es verzerrt daher die einheitliche Gestalt des Ganzen. Aber das empfinden unsere Zolaisten nicht – sie verzetteln ihre Gaben an Fehlern. Mit Zola stimmt Kretzer auch darin überein, daß die geschlechtlichen Regungen, so oft sich die Gelegenheit bietet, genau angemerkt, zuweilen sehr ausführlich behandelt werden. Ebenso ist die Kennzeichnung der meisten Menschen ganz nach der Art Zola's nur auf das Aeußere beschränkt; wie bei Mauthner bemerkt man nie, daß auch diese Gestalten ein inneres Leben besitzen, welches sich bei vertiefter Auffassung äußern müßte. Eingehend wird nichts geschildert, als Vorgänge, welche mehr oder minder der physiologischen Seite angehören. Nur in Paulus Liese, obwohl er zuweilen etwas stark »melodramatisch« wirkt, zeigt sich noch der ursprüngliche Zug von Kretzers Eigenart, welche früher viel mehr zur Vertiefung ins innere Leben hinneigte. Daß der Verfasser jedoch den Roman mit dem letzten Erscheinen Liese's schließen läßt, ist auch ein Beweis, daß er über den künstlerischen Bau eines Romans im Unklaren ist: sonst hätte er jene Gestalt am Ende vorführen müssen, welche den Hauptgedanken in sich vereint, Bruno.

Am meisten aber offenbart sich der Mangel an künstlerischer Selbsterziehung in der Sprache des Romans, welche nur dort, wo die Gestalten selbst sprechen, zumeist strengeren Anforderungen genügt, sonst aber so nachlässig und gedankenlos behandelt wird, daß es sogar heute unverzeihlich erscheint, wo man doch an grobe Mißhandlungen des Stils sich gewöhnt hat. Ich will von den Häufungen der Hilfszeitworte (Bd. I. S. 1 finden sich in 15 Zeilen drei »war gewesen« und fünf »hatte«) u. s. w. nicht sprechen und nur Beispiele für größere Fehler anführen.

Bd. I S. 11: »Minna's Vollmondsgesicht nahm dann einen halb wehmütigen Ausdruck an, der von einer tiefen Ergriffenheit zeugte«. Halb wehmütiger Ausdruck kann unmöglich von tiefer Ergriffenheit zeugen.

S. 13 ... »und das habe ich mir fast wörtlich auswendig gelernt.« Sich etwas auswendig lernen, ist nicht deutsch.

S. 34 ... »trotzdem ihr süßliches Lächeln bei jeder Umarmung eine Portion sauren Beigeschmacks trug.« Ein Lächeln, welches eine Portion trägt!

S. 45 »Bei Fanny begann sich – – – die Sehnsucht nach jenen Genüssen zu regen, die ihr – – – als angehende Weltdame bevorstanden.« Die Beifügung muß im gleichen Falle stehen, also, »als angehender Weltdame.«

S. 46 »Sie – – – machte nur insoweit Zugeständnisse, als sie es für nötig befand, um dieses stets Um sichsein Neukirchs als nicht ganz unberechtigt erscheinen zu lassen«. Umsichsein Neukirchs heißt, daß Bruno um sich selber sei, – der Verf. wollte aber ausdrücken, Bruno sei stets um Frieda. Will man schon ein häßliches Wort gebrauchen, so müßte man »Um siesein« schreiben.

S. 53. Hauptmann Schwitzer sitzt bei Tische und senkt das haarlose Haupt. Da heißt es: »Stirn und Glatze bildeten den Brennpunkt seines Gegenüber«. Das ist platter Unsinn.

S. 154. »Seine Eitelkeit, von dem schönen Weibe stärker als je geliebt zu werden, ließ nur sinnliche Reflexionen bei ihm zur Geltung kommen, niemals aber moralische«. – »Die Eitelkeit – – – geliebt zu werden«, ist eine im Deutschen schlechthin unmögliche Satzfügung. Der Beisatz entbehrt jeden Sinn. Ich komme auf ihn noch zurück.

Bd. II. S. 39. »Ein Rauschen von erhobenen Gestalten, von ausgestreckten Armen und zerknitterten Servietten entstand beim Rücken der Stühle«. Wie beim Rücken der Stühle ein Rauschen von ausgestreckten Armen entstehen kann, was überhaupt rauschende Arme sein sollen, verstehe ich nicht.

S. 117 ... »ein Kommerzienrat, dem erst kürzlich diese Auszeichnung zu Teil geworden war.« Welche Auszeichnung? Es könnte etwa heißen: »welcher erst kürzlich seinen Titel erhalten hatte.«

S. 144. »Der Schnee wütete draußen, ... trieb die großen Flocken gegen die Fensterscheiben«. Die Flocken sind doch auch Schnee; es kann doch nicht Schnee den Schnee treiben, sondern nur der Wind.

S. 177. Wie seit 24 Stunden ihr Charakter gänzlich Schiffbruch gelitten hatte, so begann sie auch äußerst raffinirt zu denken«. – »Wie – so« verbinden nur Aehnliches, stellen in irgend eine Beziehung zwei Gleiche neben einander. In dem angeführten Satze sind zwei ganz verschiedene Vorstellungsreihen einander gleichgeordnet.

So wimmelt das Werk von sprachlichen Schnitzern verschiedener Art. Dazu kommt noch der häufige Gebrauch überflüssiger Fremdwörter, wie goutiren, geniren, Extravaganz, Portion, instinktiv, vis-à-vis de rien, malträtiren, splendid, brutal fixiren u. s. w. Man konnte es noch vergeben, wenn der Verf. die Worte immer richtig anwendete. Aber das ist nicht der Fall.

Bd. I. S. 42 heißt es: »Als Roué hatte er sich vortrefflich zu halten gewußt, denn Wüstling durch und durch u. s. w.« Roué bedeutet aber heute nur »Wüstling«. Das war dem Verf. fremd, sonst hätte er diesen Satz nicht niederschreiben können.

In der schon erwähnten Stelle I. 154 spricht er von »sinnlichen Reflexionen«. Reflexion ist immer geistig: die Anfügung des Beiworts »sinnlich« bezeugt, daß der Verf. über den Begriff noch im Unklaren sich befinde.

Bd. II. S. 24 bezeichnet er eine dicke goldene Uhrkette als: » Repräsentationswürde«.

S. 42 schildert er die Gesichter der Essenden und sagt von ihnen: »sie bildeten eine vortreffliche Folie zum Studium eines Banketts der gewählten Gesellschaft«. Hätte er die Bedeutung des Wortes verstanden, würde er's gewiß nicht abgewendet haben An einer andern Stelle gebraucht er sogar » à bas« für »Ah bah!«

Wer es als Schriftsteller mit der Kunst ehrlich meint, muß unablässig an sich arbeiten, muß die Sprache zum Gegenstand ernstlichen Nachdenkens machen, und, wenn er ohne seine Schuld eine nur lückenhafte Bildung besitzt, alles anwenden die Mängel zu beseitigen. Diesen heiligen Ernst scheint Herr Max Kretzer nicht mehr zu besitzen. Seine ganze natürliche Begabung wird zu Grunde gehen, wenn er so weiter arbeitet und auf diesem Irrwege nicht innehält. Seine tiefste Begabung weist ihn auf die Aufgabe, uns das Leben der »kleinen Leute« in guten und bösen Tagen, mit deren Tugenden und Fehlern zu schildern. Hier kann er den Leser wahrhaft ergreifen, hier ist er wahr, und demnach, in guten Stunden wenigstens, auch Künstler. Deshalb muß er umkehren und das Ursprüngliche seiner eigenen Natur zur Blüte bringen; Stoffe und Menschen soll er wählen, die er bis ins Innerste kennt, und dieses Innerste darf er über dem Aeußeren nicht vergessen, wenn er will, daß spätere seiner Bücher als Werke der Kunst gelten können. Nicht zuletzt: er muß sich frei machen von dem Hange, allen kleinlichen Groll gegen Mitlebende dadurch zu entladen, daß er ihre Zerrbilder in seine Romane bringt. Das muß zuletzt entwürdigen. Jeder sittliche Mangel setzt sich in einen künstlerischen um und des Mannes Fehler büßt der Schriftsteller.

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