Hans Leifhelm
Steirische Bauern
Hans Leifhelm

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Im Advent

Im Gebirge zu wandern, wenn die vorwinterlichen Nebel die Täler verhängen, auch dies ist köstlich und voll vom Atem des Lebens. Noch ist die Erstarrung des Winters nicht tief. An der basteimäßig vorgebauten Mauer des Dorffriedhofes drängen sich dicht die Zeichen des vergangenen und gegenwärtigen Wachstums. Mit silbernen Sternen ist das zähe Schlinggeäst der Waldrebe übersät, noch findest du eine späte Steinnelke, rot leuchten die Früchte der wilden Rose aus dem blattlosen Gezweig, unversehrt sind die zarten Gebilde des Rautenfarns. Starr und dunkel ragen drinnen die Thujen über den Gräbern. Wenn du ihr Grün zwischen den Fingern zerreibst, weht dich ein Hauch an wie aus verfallenen Grüften. In der menschenleeren Kirche liegt purpurn die Dämmerung der mystischen Stille, an einem Altare siehst du noch die Gewinde von gelben Kornähren und roten Äpfeln vom längstvergangenen Erntedankfest.

Unhörbar singt es schon durch die Gewölbe vom Advent. Am Sonntag Rorate wird der Schrei der Gemeinde sich erheben: Tauet, Himmel, den Gerechten, Wolken, regnet ihn herab.

Du verlässest die Kirche, und nun geht dein Weg in beständiger Steigung aufwärts zwischen Gehöften und stillen Gärten, aus denen die letzten türkischen Nelken leuchten. Der Nebel bleibt zurück, aber der Himmel ist grau, ein kühles Licht erfüllt die Welt. Die entlaubten Bäume zeigen unverhüllt ihre Gestalt. Die Linde erwächst im geschlossenen Oval, mit ausladender Gebärde ragt die Esche am Wege. Ein zartes Rautenwerk steht in der Krone der Ulme. Mit sparrigem Geäst entbreitet sich der Wuchs des Ahorns, dessen Zweige noch in Büscheln die braunen geflügelten Samen tragen.

Nun begleitet tiefgrüner Fichtenwald deinen Weg, und wo die einsamen Waldpfade sich kreuzen, steht magisch noch eine dunkelleuchtende Glockenblume. Und die orangenfarbenen, rot 60 umkleideten Früchte des Spindelbaumes prangen schön wie fremdartige Frühlingsblüten.

Nun ist es an der Zeit, an die Geborgenheit der Berggehöfte zu denken, an die Tage des von der Höhensonne noch warm durchglühten Vorwinters. Aber die Wanderschaft muß noch einmal in den rauchigen Nebelsee der Talebene, denn unser Ziel liegt drüben am anderen Hang, wo sich die dunklen Wälder hoch hinaufziehen, die die wie einsame Burgen liegenden Höfe der Bergbauern umschirmen.

Heute ist ein lauer Föhn eingebrochen, der mit warmen Schwingenschlägen aus Südsüdwest über die Berge geht. Die Luft ist blau wie im März, weiße Wolkengebilde in der Gestalt silberner Meeresfische stehen unbeweglich in der Höhe, am Südhimmel aber weht zerwirktes wolliges Gewölk.

Der Weg geht wieder aufwärts. Das Bergdorf, das dem Hochtal seinen Namen gibt, trägt als Zeichen einen massigen viereckigen Kirchturm. Um die uralte Kirche geschart liegen im Schutz eines Waldhügels einige wenige Häuser, Pfarrhaus und Schule, das Haus des Kaufmanns und zwei Bauernhöfe. Das übrige Kirchspiel liegt zerstreut. Ein Bach geht unterhalb durch die Wiesen und rauscht durchs Fluder, von dem wie Stalaktitengebilde die schweren Eiszapfen hängen. Einige Höfe liegen sichtbar am Berghang, manche aber finden sich erst ein und zwei Stunden weiter droben, inmitten der großen Bergwälder. Das ganze Hochtal breitet sich vor deinem Auge, durchschnitten von zwei bewaldeten Hügelzügen, durchzogen von Pfaden und Gräben, mit anmutigen Kuppen und Mulden, ein Alpenhochtal, durch das die Luft klar und schneefrisch vom gewaltigen Urgebirgskamm weht und in das die niedrig stehende Sonne ihre Wärme und ihr Leuchten ergießt. Es ist noch früher Nachmittag, aber in einer Viertelstunde wird die Sonne hinter der bewaldeten Bergkuppe versunken sein. Du verweilst, bis die Schatten das ganze Tal füllen. Die Sonne ist nicht mehr sichtbar, aber auf der 61 höchsten Höhe des Kammes leuchten, wie in Weißglut aufgelöst, sekundenlang noch drei Fichten. Dann kommt auch in sie das Dunkel der Lichtlosigkeit, und der ganze Berg liegt im frühen Abendschatten. Es wird Zeit, Herberg zu suchen. Und du findest sie in einem der Bergbauernhöfe, die weiß am Hang stehen.

Morgens weckt dich vor Tag das Geräusch der Arbeit im Haus. Dann klingt Glockengeläute aus der Tiefe herauf. Der Mond steht hoch am Himmel. Aus den Türen der Bauernhöfe treten jetzt Männer und Frauen, sie ordnen sich, voran die Männer mit den Laternen, dann folgen die Frauen. So will es der Brauch.

Noch fiel kein Schnee in diesem Jahr, nur der Reif liegt in Nestern in den Wiesen, funkelnd und zart. Es ist bitterkalt. Niemand spricht, nur manchmal erhebt sich aus der Schar die Weise eines Adventlieds. Drüben am Berghang wandern andere Lichter. Der Weg geht nun durch den Wald, und durch das Astgespinst der Lärchen sickert ein heller, türkisgrüner Himmel. Die Sterne sind im Schwinden, da sie die Kirche erreichen.

Drinnen brennen festlich die hohen Kerzen auf den Altären, und im altersdunklen Betgestühl tropfen die roten und gelben Wachsstöcke. Flackerndes Licht geht über die gefalteten Hände und geneigten Köpfe. Festlich sind diese Rorate-Ämter, die Goldenen Ämter, wie der Volksmund sie nennt. Die Melodien der uralten Adventgesänge füllen das kleine Gotteshaus und rühren an die Herzen.

Nach dem Gottesdienst eilen die Leute heim, die Arbeit muß getan werden wie alle Tage. Die Sonne ist derweilen aufgegangen, weit liegt ihr Glanz auf den beschneiten Almen und den falben Wiesen. Bronzefarben ragen die Lärchen im grünen Bergwald. Die Feldsteine sind mit einer dünnen Eisschicht übergossen. Die Leute kommt das Gehen bergauf hart an. Weiß dampfend steht der Atem vor ihren Gesichtern. Zur Seite rauscht das Wildwasser. An den seichten Stellen geht das Wasser schon unter dem 62 Eis. An den Ufern hängen, um die Gräser gegossen, Krüge von Eis in der Farbe des Mondsteins. Im Wald ist es ganz still, nur ein einzelner Vogel schwingt sich über den Weg und rastet. Braungrau ist er, mit weißer Brust, auf der rostrote Flecken stehen. Nun fliegt er dem Tale zu. Es ist der Alpenfluevogel, der in der Winterszeit die Nähe des Bergdorfes liebt. Später begegnen die Heimkehrenden einem Fuhrwerk und verweilen. Sie besprechen die fälligen Holzlieferungen ins Tal. So hat sie die Arbeit wieder in ihrem Bann.

Daheim sind die Schüsseln gerichtet mit der Brocksuppe. Nach dem Essen gehen sie alle an die Arbeit, die Männer in den Stall und in den Wald, die Frauen in die Küche und in die Spinnstube.

Die Stube ist schon gut gewärmt, rings um den Ofen sitzen die Frauen an den Spinnrädern. Flockig liegt in den Schürzen die weiße Schafwolle, und behutsam ziehen die Frauen die Spinnfäden. Ebenmäßig drehen sich die Räder, und in ihrem kleinen Wirbelwind wehen weiße Wollflöckchen mit. Die Jungmagd haspelt die Garnspulen ab, laut klappert die Haspel.

An den Fenstern fahren die Knechte vorbei mit den Holzfuhren. Die Bremsen kreischen und achtsam führen die Knechte die Pferde am Halfter. Aus der Tenne dröhnen dumpf die Schwingkeulen der Dreschflegel im Dreiertakt. Der Bauer ist in den Kemeten und schaufelt das Getreide durch.

Auch die Kinder sind daheim, denn heute ist der schulfreie Donnerstag. Sie knien auf der Fensterbank und äugen durch die Scheiben. Draußen sichert der Großvater mit Strohbünden den immerfort fließenden Brunnen vor dem Einfrieren. Dann kommt der Alte in die Stube und die Kinder schnitzen unter seiner Anleitung Tiere für die weihnachtliche Krippe. Sie fragen den Alten, ob heute wieder, wie am vorigen Donnerstag, auch die Anklopfler kämen. »Freilich«, erwidert der, »und nächsten Donnerstag kommen sie zum dritten- und letztenmal.« 63

Da freuen sich die Kinder erwartungsvoll auf den Abend. Und es surren die Spinnräder bis in den Mittag. Dann kommt die Sonne kurz auf den Hof, und die Kinder sind auf einmal draußen. Sie zerstampfen das Eis am Brunnentrog. Der Altbauer aber hockt sich mit der Katze auf die Hausbank und gerade als der Klemperer – die Metallscheibe, die mit dem Hammer geschlagen wird – zum Essen ruft, versinkt die Sonne bereits hinter dem Kogel. Die Knechte kommen verfroren und mit klammen Händen aus der Waldarbeit.

Nachmittags stampft die Hausmühle am Bach. Alles beeilt sich mit der Arbeit, denn früh bricht die Dunkelheit ein. Dann liegen die Knechte müde auf der Ofenbank, und aus dem Dämmer glosen ihre Pfeifen. An den Fenstern warten die Kinder auf die Anklopfler. Endlich kommen sie, die geduldig von Hof zu Hof ziehen, zum uralten Gedächtnis an Josef und Maria, die einstmals von Haus zu Haus zogen und Herberg suchten. Sie klopfen an Türen und Fenster und jammern und bitten. Das alte Herbergslied klingt auf mit seinem rührenden Zwiegesang:

»Wer klopfet an?« – »O zwei gar arme Leut'.«
»Was wollt ihr dann?« – »O gebt uns Herberg heut',
durch Gottes Lieb wir bitten, – öffnet uns doch eure Hütten.«
»O nein, nein, nein. – O nein, das kann nicht sein.«

Wenn das Lied beendet ist, wird ihnen die Tür geöffnet, und mit kleinen Gaben beschenkt wandern sie weiter, hinauf zum nächsten Hof.

Und unerwartet bringt der Abend noch eine Herbergsuchende. Sefa, die Mutter der Großmagd, kommt auf den Hof. Sie wickelt sich aus vielen Tüchern, ihre angegrauten Zöpfe liegen breit um ihren Kopf. Die Bäuerin lädt sie zum Tisch und nötigt zum Essen. Sefa ist seit zweiundvierzig Jahren auf dem Kemptnerhof im benachbarten Kirchspiel, jetzt ist sie an die sechzig. Schon beim Großvater des Bauern war sie auf dem Hof, und 64 des Bauern Mutter hat ihr das Ausgeding versprochen – aber jetzt! Sefa rührt den Löffel nicht an.

Nach dem Essen sitzt sie mit der Bäuerin hinter dem Herd und klagt und erzählt. Jetzt auf einmal sei kein Platz mehr auf dem Hof für sie, und am Neujahrstag solle sie wandern. Bis heute hat sie doch alle Arbeit getan, nein, alt ist sie noch nicht. Sie zieht die Fransen ihres Umhangtuches durch die Finger, und ihre Hände zittern ein wenig.

»Bleib da, bist was findest«, sagt die Bäuerin. Dann geht sie hinaus, und hinter Sefas Rücken setzt sie sich hin und schreibt einen Brief an ihren Bruder im anderen Tal. Der ist seit einem halben Jahr Witwer und sein Haus kann auch eine frauliche Hand brauchen. Fürs erste bleibt Sefa also hier. Schon morgen findet sie Arbeit genug. – – –

Du hast Abschied genommen und wanderst weiter über das Gebirge. Die Almhütten sind ohne Leben. Zwischen den Felsen starren grün die Wacholderbüsche mit ihren blaubereiften Beeren. Die dünnen Wasserfäden am Berg droben sind im Frost erstarrt. Wo die Erde sich in Abstürzen bricht, stehen seltsame Gebilde. Wie in kleinen Basaltbrüchen wächst das Eis in kristallenen Pfeilern aus der Erde.

Ganz einsam ist die Region der Höhe. Aber eine Adventbegegnung geschieht dir auch noch hier oben. Über die Einsattlung des Gebirgs wandert mit behutsamen Schritten eine Frau, jung und hoch in der Zeit. Ihr Bild ist wie das Marias, von der es heißt, daß sie »in denselben Tagen aufstund und eilends über das Gebirge ging«.

Mit kurzem Gruß wandert sie an dir vorüber, und der Bergwald nimmt sie auf.

Ehe du die bewohnten Stätten jenseits des Kammes erreichst, ist die Nacht hereingebrochen. Keine Nacht des Jahres ist so in Sternenfeuern entbrannt wie diese. Heraufgeführt vom funkelnden Aldebaran, hebt sich mit der Flanke das Sternbild 65 des Orions bereits vollkommen sichtbar über den gebirgigen Horizont. Gegen Norden neigt sich der Große Wagen leuchtend nieder. Hoch über dir schwingt sich als gleißendes Band die Milchstraße über den ganzen nächtlichen Himmel.

In der Tiefe blitzen Lichter auf aus verdunkelten Häusern. Dort liegt das Ziel deiner Wanderschaft.

 


 


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