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Wieder hat mich die Wanderschaft in das Hochtal geführt, das nun schon oft mein Ziel gewesen ist. Langsam bin ich den verschlossenen Bauern vertrauter geworden. Ihre abendlichen Gesänge brechen nicht mehr ab, wenn ich mich zu ihnen auf die hölzernen Stiegen setze, die Kinder kommen mit seltsamen Blumen und zutraulicher Rede, die Frauen mit gastlichem Gruß.
Der Pernerhof wird mich diesmal beherbergen – er ist der höchstgelegene der Höfe. Seine großflächigen Mauern leuchten aus den Wäldern. Vom Tale aus vermeint man eine Felswand zu sehen, so steinern gewachsen steht er am Berg.
Stundenweit führte der Weg an rauschenden Bächen entlang, durch moorige Wiesen, an deren schwarzen Wasserlöchern die Feuerlilie blüht, durch Windbruch hinauf, über vermurte Gründe, immer bergan. Das kleine Bergdorf mit der uralten Kirche und dem schindelgedeckten Karner blieb längst unter mir. Die Höfe des Kirchspieles liegen verstreut und einschichtig in Mulden und Gräben, auf Hügelkuppen und Leiten. Jeder Hof einsam und abgeschlossen für sich, so hausen die Bergbauern.
Fast alle Wege von Hof zu Hof bin ich einmal gegangen. Diese Wege, die manchmal an einem Weidegatter plötzlich enden, um ebenso unvermutet hinter der Halt wieder anzubrechen. Drunten liegt der Fragnerhof, ich erkenne ihn an der angebauten Kapelle, der Benedikter mit der mächtigen Zirbe hinter dem Haus. Der mit dem großen Stadel mag der Brock sein.
Ich schaue die beiden Schlösser, die nun seit Jahrhunderten in Bauernhänden sind. Beherrschend liegen sie wie Talsperren in der Landschaft; die Wirtschaftsgebäude, die Stallungen, die Schmieden und Hütten, alles steht eng beisammen in ihren umfriedenden Mauern. Südseitig hängen in kleinen Terrassen die dürftigen Gemüse- und Blumengärten. Beim Kanzler heißt es hüben, beim Bühler drüben. Mächtige Felder breiten sich um die 9 Schlösser, reich tragen die Äcker und Wiesen. Die Wälder im Umkreis gehören ihnen zu, auch die Halten, in denen vielköpfig die Herden stehn.
Angesehen sind die Schloßbauern, und aus ihren Familien stammen durch viele Generationen die Bürgermeister der Gemeinde. In ihrem Schutz stehen die Einleger, die Armen und Bedürftigen.
Nun wandere ich hier oben am Kulmer vorbei, dem Siebzigjährigen, der seinen Hof nicht abgibt und Söhne und Enkel warten läßt, der mit biblischer Strenge sein Haus führt und die Kraft seiner Nachkommen ausnützt zum Aufbau des Hofes. Gehaßt ist der Alte von vielen und gefürchtet. Sein Hof ist der ältesten einer in der Gemeinde. Eine gemalte Sonnenuhr mit einem schmiedeeisernen Weiser ist der Zierat der Südwand. Immer wieder haben die Kulmerbauern die Ziffern nachgezogen. Seit vier Jahrhunderten ist der Hof im gleichen Besitz, öfter als einmal brannte er, aber unversehrt stand die Mauer mit der Sonne, so daß im Dorf der Spruch geht: »Ewig wie dem Kulmer seine Uhr.«
Auch heute steht der Greis als erster in der Reihe der Mäher. Kein gedungener Fremder ist auf dem Hof. Ich grüße hinüber, und der Alte gibt den Gruß zurück, ohne einzuhalten in der großen Bewegung des Mähens.
Immer mehr öffnet sich die Landschaft im Weitergehn, hinter Hügeln und Wäldern steigen drüben die äußersten Bauernhöfe der Gemeinde auf, der Seraphi, der Brandner, der Groggher, von denen die beiden letzten in Feindschaft stehn, die keine Liebe und Vernunft überbrückt; langsam sterben die Höfe.
Hinter der Wegbiegung, im Schatten alter Vogelbeerbäume, steht baufällig der Pilgramhof. Schadhaft ist sein Dach, und die zerklirrten Fensterscheiben sind notdürftig ersetzt. Mit großer Mühe kämpft der Pilgram gegen den Verfall. Nein – er hat nicht hundert Tage in seinem Leben sorglos gehabt. Mit 10 drückenden Lasten hat er den Hof geerbt, gegen eine schier unbezwingliche Übermacht hat er den Kampf aufgenommen. Er ist noch jung, nicht weit gegen die Vierzig, und schon sind acht Kinder geworden. »Gottlob«, sagt er. Die Größeren helfen auf dem Hof. Sie spannen ihre winzigen Kräfte mit den Ochsen ins Joch, sie wenden das Heu und tragen es auf schwachen Rücken die steilen Felder bergan auf den Hof. So wie es der Vater auch tat in jüngsten Jahren. Schmal sind die Kinder und blaß, kleine Tiere der Arbeit. Sie grüßen nicht, so hingegeben sind sie ihrem Tun. Bei der Scheune stampfen zwei Ochsen die Runde mit dem Göpel. Die allerkleinsten Pilgramkinder sind mit Haselgerten und ernsthaftem Zuruf hinter ihnen her. Ich trinke am laufenden Brunnen, der Hund tobt an der Kette und aus dem Hause kommt der beizende Qualm des offenen Feuers.
Immer weiter steige ich bergan. Der Hochwald nimmt mich auf, Axthiebe tönen laut in der Nähe und dann stürzt krachend ein Baum, der seinen schwachen Nachbarn mit sich reißt. Ich biege vom Weg ab, hinein in die grüne Dämmerung, auf den Holzplatz zu. Eine Blöße tut sich vor mir auf, das Licht stürzt wie durch einen Schacht auf den Schlag. Wieder tönen die Axthiebe, und ich sehe das Weib des Pilgram. Mit hochaufgebundenem Rock und bloßen Armen, breitbeinig, holt sie mit der Axt zum Hieb aus – wie ein Mann arbeitet sie – ohne Pause läßt sie das Eisen in den Stamm sausen. Blond und fest ist sie; unter einer Brücke von Lärchenästen hat sie das Jüngste liegen. Nun legt sie die Axt beiseite und neigt sich zum Kind. Sie knöpft ihren Leibrock auf und stillt es. Sie wiegt es ein wenig dabei, dann bettet sie es in den Schatten, und während ich den Weg aufsuche, erklingen wiederum die Axthiebe. Der kämpfende Hof wäre ohne dieses Weib verloren.
Der Wald rauscht über mir. Der Bergwind geht hundertstimmig in den Kronen und wiegt die Wipfel. Manchmal tropft es aus den Ästen oder es regnet dürres Gezweig. Manchmal 11 streicht ein Vogel schrillend ab. Oder ein Wild hastet irgendwo den Hang hinunter und das Fallholz kracht unter seinen Sprüngen. Farn ragt riesenhoch, Pestwurz steht an grundigen Stellen. Auf moosigen Lichtungen glänzt das Wollgras und duften die Federnelken. Der Arnika trägt Knospen, bald werden seine goldenen Sonnen aufstrahlen. Niedrig stehen die Bergastern, leuchtend heliotrop.
Herdenglocken läuten auf, langsam zieht das Vieh über den Waldrand. Es sind hellfellige Tiere ohne Flecken, mit bläulichen Mäulern und schwarzen Hornenden. Ihre Rücken sind geradlinig, ihre Becken breit, stämmig der faltige Hals. Anders sind diese Tiere als die in der Ebene. Sie wenden die Köpfe, schnauben und neigen spielend ihre Häupter, stoßen und drängen einander und ziehen weiter hinüber zur Tränke – ich habe den Grund des Pernerhofes betreten.
Steil steigt es noch an, aber bald werde ich die kleine Hochebene erreicht haben, dann geht es eben fort hinüber zum Hof. Im weiten Almgrund stehen einsam schwarzgrüne Zirben, uralt manche oder vom Blitz zerschellt. Dann bleichen ihre Leiber bleigrau im Grund. Rote Ameisen laufen über ihre toten Äste, der hungrige Specht zerhackt suchend ihren Stamm.
Ich habe mich hingesetzt. Entfaltet ist unter mir die weite Erde, mit wolkenbeschatteten Höhen, lichtgefleckten Gründen, winddurchwehten Wäldern. Grüne Kornfelder wogen aufsilbernd, Wiesen schimmern in blauen, weißen und rötlichen Farben, die bewaldeten Hänge der Berge starren in rauhem Grün. Ein Sonnenstrahl fällt auf eine weite dämmerige Alm und der Grund glüht smaragden auf.
Kleine Dörfer ruhen, weit verstreut, in den Tälern, weiße Kapellen und eine Wallfahrtskirche leuchten auf halben Höhen. Und den Blick umgrenzt das hohe Gebirg, in dessen Einschnitten noch der Schnee in Zungen und Flecken liegt; denn es ist Juni.
Nach einer Viertelstunde betrete ich die Schwelle des 12 Pernerhofes. Der Schatten des Berges hat den Hof schon erfaßt; es ist kühl geworden. Ich durchschreite den dunklen Vorraum und taste nach der Stubentür. Mit einem Gruß trete ich ein. Die Stube ist noch erfüllt von dem Widerschein des besonnten Gebirges.
Die Pernerin wendet mir das Gesicht zu – sie reicht mir die Hand und heißt mich rasten. Der Magd befiehlt sie, einen Stuhl zu bringen. Alles ist wie sonst. Die Pernerin ist blind, seit Jahren schon. Aber jeden, der von der Welt drunten kommt, erkennt sie wieder an Stimme und Schritt.
Wir reden nicht viel. Sie hat die schmalen Greisenhände im Schoß gefaltet. Aufrecht sitzt sie in ihrem Stuhl. Manchmal kommt ein Knecht oder eine Magd mit einer Frage und jeder bekommt eine bestimmt gehaltene Weisung. Sie ist die Herrin.
Sie mag einmal sehr schön gewesen sein. Hoch und dunkel, mit schwerem Haar über dem schmalen Gesicht, das an andere Jahrhunderte erinnert. Drei Männer hat sie überlebt. Sie hat drei Söhne geboren und wieder verloren. Den letzten holte sie tot aus dem Nachbarland, als die Heimat in den letzten Grenzkämpfen stand. Das war vor siebzehn Jahren. Ein Jahr darauf wurde sie blind. Niemand konnte sie dazu bestimmen, den Arzt aufzusuchen. »Das Schicksal will auch noch das«, sagte sie. Ohne Änderung ging das Leben am Hof weiter.
Ein zwanzigjähriger Bursche aus dem anderen Tal lebt auf dem Hofe, sie hat ihn zum Erben bestimmt. »Er ist gerecht und umsichtig und kennt Wald und Vieh. Ich will den Pernerhof in seinen Händen wissen. Er wird den alten Namen tragen.«
Später betritt er die Stube und auf ihr Geheiß entnimmt er dem Glasschrank die geschnittene Flasche mit dem zinnernen Verschluß. Er füllt mir den auf dem Hof gebrannten Wacholder in ein Glas.
»Trinkt und bleibt«, sagt die Frau zu mir gewandt. Dann lehnt sie sich in den Stuhl zurück und richtet die Augen wie sehend auf die Tür. Eine Magd bringt das Licht und das einfache Abendmahl. 13
»Christian ißt beim Gesind«, sagt die Pernerin; da greife ich zu.
Sie spricht vom Vieh, von der kommenden Mahd, von den sorgsam betreuten Obstbäumen an der Südseite des mächtigen Hofes, als wenn sie sehend bei allen Arbeiten gegenwärtig wäre. Sie erwägt den Zukauf einer Hube und einer Notweide im geschützten Tal. Zu lange bleibt der Winter droben auf dem Berg.
Das vieltönige Herdengeläut der einziehenden Rinder dringt zu uns, es ist Melkzeit. Die Feldarbeit ist zu Ende, hinter der Scheune halten die Knechte Feierabend. Polternd stürzen die Kegel unter den rollenden Kugeln.
Es ist spät geworden. Das Leben auf dem Hof verstummt, die Lichter verlöschen in Stall und Haus.
Christian kommt und legt die Schlüssel des Hofes auf den Tisch, große, schwere, altertümliche Gebilde.
Er begleitet mich bis an meine Kammer, dann bin ich allein. Ich lehne am Fenster. Es ist eine klare Nacht. Das Gebirge über den Tälern ruht unter tausend Sternen. Das Wasser des Brunnens rauscht. Der Wind weht in den Bäumen. In der Tiefe ahne ich am schwachen Lichtschein die Dörfer: St. Oswald, St. Helen, St. Kathrein, Thorstein und Wiesantberg. Sie liegen viele Stunden im Umkreis verstreut. Manchmal bellt der Hund. Er und ich sind wohl die einzig Wachen hier oben. Dieser Hof, anders als die andern, zieht mich in seinen Bann. Ich trete in das Zimmer zurück. Alter Hausrat ist da, gemalte Truhen, geschnitzte Kästen; Hinterglasmalereien, einfältig und rührend, zeigen den St. Christophorus und Anna selbdritt. Davor ein Steingutkrug aus bäuerlicher Werkstatt mit Rosmarinzweigen, über dem Bett ein Bord mit Büchern, ein Arzneibuch, ein geistliches Liederbuch und hier ein dicker, in Leder gebundener Foliant mit Silberschließen.
Ich habe den Band heruntergehoben. Auf der Einbanddecke steht in verzierter Schrift: Historia St. Oswaldi
Ein Joachim Perner, Pfarrer von St. Oswald, vermeldet 14 auf der ersten Seite, daß er als Erster in der seit alters bestehenden Gemeinde eine schriftliche Urkund verzeichne.
Dick und gelblich sind die Blätter, in bläßlichem Braun darauf die Schrift.
Ich lese: »Es ist ein große Seuchen ausgebrochen. Die Menschen sterben dahin, Kindlein wie Alte.Ich komb mit meinem Ambte nimmer nach. Vor dem Dorf ist ein Kreutz gesetzt, darunter fiinfundsechzig liegen an der Pest begraben. Sie ruhen im Frieden Gottes.«
Ich kenne das Kreuz – es steht hart am Weg auf einem Bühel –, niemand hat mir bislang davon berichtet.
– »Von St. Marien sollen kommen jedwedes Jahr die Gläubigen zum Dank für die Errettung vor der Seuchen. Hingegen gehen sie von hier drey Tag später auf St. Marien. Es seynd nicht viele mehr im Leben. Beim Pernherr leben sie noch. Auch dem Pilgram ist keiner genommen.«
Das Licht neben mir knistert und singt. Ich wende Blatt für Blatt.
Eine Gräfin Trattendorf wird auf einer Seite mit einer Schenkung erwähnt. Weiter heißt es:
»Die Toten düngen gut – noch nie seind so vile Kindlein geboren worden, unterweilen zu dritt auf einmal. Es kommbt wieder Freude in die Welt.«
Der Tod der Kaiserin wird vermerkt. Bittere Anklagen gegen den nachkommenden jungen Kaiser und seine Verordnungen folgen.
Die Handschriften wechseln in der Chronik – zitterig und einfach die eine, kühn die herrische Schrift eines andern, der nach Rom reiste und von dort einen Maler mitbrachte, der den Karner der Kirche mit Fresken schmückte. Aber dann die Anmerkung von seines Nachfolgers Hand, daß er die Gemeinde in Schulden gestürzt habe und selber abtrünnig geworden sei.
Dann folgt einfach und klar eine Aufschreibung aller Bauern des Kirchspiels. 15
Der Name des Geschlechtes Trattendorf wird nicht mehr geführt. Dafür: Kanzler auf Trattendorf und Bühel.
Brogg in der Gegend,
Kulmer auf der Höh,
Perschin in Lind,
Häfenmaar in Kralehn,
Pernherr in der Einöd,
Pilgram im Eibl,
Benedikter,
Seraphi,
Groggherr,
Brandner.
Ein Name folgt dem andern. Todesfälle sind verzeichnet und Geburten. Wandelbar ist die Zeit. Geschlechter sterben aus. Armut und Not heißt die Besitzer wandern. Der Kanzler aus dem Bayrischen verheiratet seine Tochter an den Bühler. Der Besitz wird geteilt und blieb es bis zum heutigen Tage.
Vom Grenzstreit der Familien Brandner und Groggherr steht da, und noch immer ist der Haß zwischen den Höfen lebendig.
Vom Totschlag lese ich, den der eine Pilgram im Zorn verübt, dessen Nachkommen sich den Hof durch Abarbeiten wieder erkaufen durften. Und noch heute fehlt das Korn in der Kammer, das Holz auf dem Berg.
Der Perner ist als ältester Ansiedler genannt, vor seinem Namen steht der Titel Herr. Zwei Pfarrer der Gemeinde führen diesen Namen.
Der Häfenmaar in Kralehn zog mit einem Feldscher mit und kam nicht mehr. Sein Erbe verfiel, und einer kam und kaufte den Hof von der Gemeinde. Kralehner schrieb er sich von da an.
Namen, aufgehende und untergehende, auf verwitternden Grabsteinen sind sie noch zu finden, alte Bauerngeschlechter, in frühe Jahrhunderte zurückreichend, verwurzelt mit der Erde. 16
Dann folgen unbeschriebene Seiten, vergilbt und nach Harz duftend, Kornähren sind ins Buch gelegt – von wem?
Die Flamme verflackert neben dem aufgeschlagenen Buche.
Die Menschen wandeln hin und vergehen, die Höfe bestehen.