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Ich kam im Frühling 1779 nach Hause. Mein Vater stellte abermals ein Examen mit mir an und war zufrieden. Ich predigte mit Beifall, denn ich predigte Moral, und nicht vom Satan oder vom Blut Jesu Christi, das uns rein macht von allen Sünden. Genug, die Bauern und Bürger hörten, wo ich auftrat, etwas Neues. Ich bin nie ein Redner gewesen, allein in der Pfalz braucht man nur eine reine Aussprache zu haben und nicht abzulesen, um des Beifalls beim Predigen sicher zu sein.
Aus der wohlversehenen Bibliothek des wackeren Amtmanns Schröder in Grehweiler las ich in anderthalb Jahren fast alle Werke Voltaires, den »Esprit des lois« von Montesquieu, Rousseaus »Nouvelle Héloise«, »Emile« und andere, freilich sehr unorthodoxe Bücher. Ich lernte aus Voltaire nichts als spotten: denn andere Bücher hatten mich schon instand gesetzt, richtig – nämlich wie ich die Sache ansehe – über Dogmen und Kirchenreligion zu urteilen. Gewiß habe ich unendliches Vergnügen genossen bei der Lesung des französischen Dichters, der der Priesterreligion mit seinem feineren und gröberen Witz vielleicht mehr geschadet hat, als alle Bücher der englischen und deutschen Deisten. Die englischen gehen von Gründen aus und suchen ihre Leser durch philosophische Argumente zu überzeugen: die deutschen machen´s beinahe ebenso, und haben's auch mitunter mit der Philosophie zu tun. Zudem reduzieren letztere alles auf Geschichte und verursachen dadurch, daß die Leser ihre gelehrten Werke nicht anders verstehen, als wenn sie selbst gelehrt sind. Der französische Deist hingegen wirft einige flüchtige Gründe leicht hin, schlüpft über die Streitfrage selbst weg und spöttelt hernach über das Ganze, als wenn er seine Behauptungen noch so gründlich demonstriert hätte. Ich weiß wohl, daß das nicht überzeugt; aber Tausende, die es lesen, halten sich von nun an für überzeugt und beehren die Philosophen mit ihrem ganzen Beifall. So war es auch möglich, daß Voltaire so viele Proselyten des Unglaubens anwarb. Er schrieb nicht für Gelehrte; die, dachte er, mögen die Berichtigung ihrer Denkungsart anderwärts suchen, wenn sie klug sind. Er schrieb für Ungelehrte, für Frauenzimmer, für Fürsten und Kaufmannsdiener; diesen sollten die Schuppen von den Augen weggenommen werden. Und wenn das so Voltaires Zweck war, so hat er seine Sachen wirklich klug eingerichtet. Alles Geschrei der Gegner hat dem Manne an seinem Kredit nicht schaden können.
Ich hatte anfangs wenig Umgang; bald aber kam ich in eine größere Verbindung, die mich wie ein Strom fortriß und mir selten Zeit ließ, mich zu besinnen. Wenn man von ihnen sprach, so hieß es nur kurzweg: der liederliche Amtsverwalter Schönburg, der liederliche Lizentiat Macher usw. Mein Vater sah es eben nicht gern, daß ich mich so sehr an diese Leute anschloß, aber da sie doch in Charakter standen, so ließ er es geschehen, ohne mir anfangs ernsthafte Vorstellungen zu machen.
Daß ich in dieser Sozietät nicht wenig werde brilliert haben, läßt sich denken. Meine Zotologie war in Göttingen gleichsam verrostet, ich holte sie aber hier wieder hervor und erlangte solchen Beifall, daß kein Gelag ohne den »Großen«, so nannte man mich χαι εξοχην, gehalten werden konnte. Unsere Gesellschafter dutzten sich alle und nahmen einander durchaus nichts übel. Unsere Gelage waren wenigstens so lustig und ausschweifend, wie die Studentengelage in Jena oder Gießen.
Die Bauern in Kriegsfeld hatten mich zum Seelsorger – so hießen die dortigen Herren Geistlichen gewöhnlich und hören den Titel auch gern – haben wollen; weil aber die Pfarre daselbst gar sehr schlecht ist, so wollte mein Vater nicht, daß ich sie annehmen sollte. Ich muß hier eine kleine Beschreibung von den lutherischen Pfarreien in der Kurpfalz einschalten. Vorzeiten hatten die Lutheraner dort gute Pfarreien; nachdem ihnen aber die Katholiken, verbunden mit den Reformierten, ihre Kirchengüter genommen und unter sich geteilt haben, so müssen die armen lutherischen Geistlichen seit der Zeit bloß von dem leben, was ihnen ihre Pfarrkinder aus Gnade und Barmherzigkeit geben wollen. Da aber der Kurpfälzer Bauer selbst nicht viel hat und also auch nicht viel geben kann, so sind die Predigerstellen ungemein schlecht, und die Inhaber derselben haben oft kaum das liebe Brot. Doch sind die Lutheraner in der Pfalz, wie jede ecclesia pressa, Unterdrückte Kirche L. streng auf ihren Glauben, so daß sie beinahe in jedem Dorf eine Kirche haben und auch einen Pastor. Was das aber auch für Pastöre sind! Kaum kann man, ich weiß nicht, ob ich sagen soll, des Weinens oder des Lachens sich enthalten, wenn man so einen pfälzischen lutherischen Gottesmann einhertreten sieht, mit einem alten verschabten Rock, der ehedem schwarz war, nun aber wegen des marasmus senilis, wie D. Bahrdt von seinem Hut sagte, ins Rote fällt, mit einer Perücke, die in zehn Jahren nicht in die Hände des Friseurs gekommen ist, mit Hosen, die denen eines Schusters in allem gleichkommen, sogar in Absicht des Glanzes, und mit Wäsche, wie sie die Bootsknechte tragen. – Aber freilich, der Mann kann sich nichts Besseres anschaffen; es ist der Anzug, welcher bei seiner Ordination neu war und ihm sein ganzes Leben hindurch dienen muß.
Das Innere dieser Herren stimmt vollkommen mit ihrem Aeußeren überein, und wenn je das Sprichwort wahr ist: »Man sieht's einem an den Federn an, was er für ein Vogel ist«, so ist's gewiß von den lutherischen Herren Pfarrern in der Pfalz wahr. Darunter findet man die allerkrassesten Ignoranten, welche kaum ihren Namen schreiben und lateinisch lesen können. Sie sind zwar auf Universitäten gewesen, da sie aber schlecht unterrichtet dahin kamen, so lernten sie auch da nichts; und der gänzliche Mangel an Büchern – einige alte Schunken und Postillen, die vom Vater auf den Sohn forterben, ausgenommen – verbietet ihnen, weiter zu studieren. Aber wenn man ihnen auch Bücher geben wollte, so würde ihre krasse Orthodoxie, welche allemal bei Ignoranten und Dummköpfen krasser ist als bei Gelehrten, nebst ihrer natürlichen Trägheit, sie hindern, irgendeinen Gebrauch von einem guten Buche zu machen.
Die Lebensart dieser Leutchen ist – abscheulich. Saufen, das charakteristische Laster der Pfalz, ist auch ihre Sache; da sitzen sie in den Dorfschenken, lassen sich von den Bauern traktieren, saufen sich voll und prügeln sich mitunter sehr erbaulich. So bekam der Pfarrer Weppner zu Alsheim einst so viele Prügel in der Schenke, daß er in drei Wochen nicht predigen konnte. In einem anderen Lande würden derartige Skandale verdrießliche Konsequenzen ziehen; aber in der Pfalz nimmt man's so genau nicht. Ich rede aber, was sich von selbst versteht, nicht von allen und jedem, sondern vom größten Haufen.
Die reformierten und katholischen Herren sind nicht viel besser, was nämlich ihre Sitten und Kenntnisse betrifft, ob sie gleich besser gekleidet gehen, besseren Wein trinken, und, der guten Atzung wegen, auch dickere Bäuche haben als die lutherischen.
Mein Vater wollte nun nicht haben, daß ich in der Kurpfalz Pfarrer werden sollte; dazu, meinte er, hätte ich zu viel gelernt. Ich hatte auch nicht Lust, mich dem traurigen Joch des pfälzischen Kuratoriums und der Tyrannei der Oberamtmänner zu unterwerfen; überhaupt verlangte mich damals nicht nach einem Amte, welches nur meine Vergnügungen würde erschwert haben.
In unserer Grafschaft war zwar eine nicht schlechte Stelle aufgegangen, welche mir als einem Landeskinde gebührt hatte, allein der Herr Konsistorialrat Dietsch, ein sonst braver Mann, und der damalige Administrator der Grafschaft, Herr von Zwirnlein, waren von einem Ausländer durch Geld präokkupiert worden, der denn auch die Pfarre erhielt.
Aber da starb im Herbst 1779 der Pfarrer Ritterspacher in Badenheim, einem dem Grafen Schönborn, Heusenstammscher Linie, zugehörigen Dorf. Ritterspacher war mein Freund und Universitätsbruder gewesen und hatte eine Witwe seines Vorgängers geheiratet. Weil er aber auf der Akademie sehr akademisch gelebt hatte, so bekam er die Schwindsucht und mußte abfahren. Während seiner Kränklichkeit hatte ich einigemal für ihn gepredigt und alles Lob der Bauern davongetragen. Diese lagen mir nun bei seinem Absterben äußerst an, mich zur Pfarre zu melden. Ich wollte anfangs nicht; weil es aber eine sehr gute Stelle war, so drang mein Vater darauf, daß ich mich melden sollte. Ich tat es und gab eine Bittschrift bei dem Grafen oder vielmehr bei des Grafen Beamten, dem Hofrat Schott in Mainz, ein. Dieser Hofrat ist ein rüder und unwissender Mensch, welcher vorher hinter der Kutsche gestanden hatte. Er sagte mir gerade heraus: »Herr, Sie müssen die Frau nehmen, sonst kriegen Sie die Pfarre schwerlich.« Ich gab ihm zu verstehen, daß es wider meine Grundsätze wäre, je ein Frauenzimmer zu heiraten, das mich an Alter überträfe und schon zwei Männer gehabt hätte. Der Hofrat bedauerte meine Delikatesse, versprach aber doch, die Sache bestens zu besorgen.
Ich traute dem Menschen nicht recht und schrieb gerade an den Grafen nach Wien, der mir zwar auch sehr artig antwortete, aber zugleich zu verstehen gab, daß die Sache nicht mehr ganz von ihm abhinge, indem er dieselbe bereits einem anderen übergeben hätte; doch wollte er sehen, was sich für mich noch tun ließe. Als mein Vater diesen Brief gelesen hatte, riet er mir, alle Hoffnung aufzugeben, weil ich durchfallen würde.
Er hatte recht; denn nicht lange darauf heiratete die Frau einen Pfälzer Pfarrer, so einen von denen, die ich soeben beschrieben habe, und der wurde Pfarrer in Badenheim. Freilich rebellierten die Bauern ein wenig darüber, aber Bauernrebellion hat selten Bestand. Der erste Mann der Pfarrerin, die eine Schwester des bekannten Malers Müller Der bekannte Dichter der Idyllen: »Die Schafschur« und »Das Nußkernen«. P. von Kreuznach ist, hatte tausend Gulden für die Stelle gegeben; weil er aber, so wie der zweite, bald starb, ohne für sein vieles Geld die Pfarrei benutzt zu haben, so ließ ihr der Graf die Freiheit, sich zur Schadloshaltung noch einen dritten zum Nachfolger des zweiten zu wählen. Allein auch der ist bald hernach gestorben, und da soll man die Pfarrei an Herrn Sträuber, einen Menschen, der es im Saufen mit jedem Matrosen aufnimmt, abermals für tausend Gulden verkauft haben.
Ich könnte nicht sagen, daß diese fehlgeschlagenen Aussichten mich sehr geärgert hätten; aber desto mehr ärgerte sich mein Vater, daß man das Ding angefangen hatte. Er wünschte indes gar sehr, mich versorgt zu sehen, um mich aus dem unbestimmten wüsten Leben herauszureißen, wie er sagte. Als demnach eine sehr elende Pfarre in der kaiserlichen Grafschaft Falckenstein aufging, mußte ich mich auch da melden, aber vergeblich: ein Landeskind wurde mir vorgezogen. Indessen gab man mir bei dem Oberamte zu Winweiler zu verstehen, daß wenn ich etwas dran wenden wollte, das Ding sich so karten ließe, daß das Landeskind seinem Vater adjungiert würde und ich die Pfarre bekäme. Dieser Vorschlag war so unrecht nicht, denn weil viele alte Pfarrer in der Grafschaft waren, so hätte ich Hoffnung gehabt, bald weiter zu rücken; allein er stand mit einem Schurkenstreich in Parallele, und so wollte mein Vater durchaus nichts weiter davon wissen.
Diese mißlungenen Versuche, mir in der Kurpfalz eine Pfarrstelle zu verschaffen, brachten meinen Vater auf den Entschluß, mich in Heidelberg examinieren und in die Zahl der pfälzischen lutherischen Kandidaten, deren es wenige gibt, aufnehmen zu lassen. Ich hatte freilich keine Lust, in der Pfalz angestellt zu werden, doch mußte ich meinem Vater für sein öfteres Nachgeben wohl auch einmal wieder nachgeben und nach Heidelberg reisen, um mich da einstweilen zu erkundigen, wie mir wohl die Tür zum pfälzischen Schafstall offen stehen möchte, oder ob ich sonst irgendwo hineinsteigen müßte.
Es hätte wohl etwas daraus werden können, denn ich gefiel dem Heidelberger Konsistorialrat Zehner, einem Vetter von mir, und er versprach mir, für mich sorgen und den Tag bestimmen zu wollen, wo ich mich zum Examen stellen solle. Aber es kam hernach doch nicht dazu, denn es öffneten sich mir andere Aussichten, und da dachte ich nicht mehr an die Pfälzer Versorgungen. Doch lernte ich bei dieser Gelegenheit wenigstens wieder eine neue Hochschule kennen.
Wenn sich eine Stadt in Deutschland zu einer Universität schickt, so ist´s gewiß Heidelberg. Sie liegt in einer der schönsten Gegenden, alles ist wohlfeil da, und da weder Hof noch Regierung die Stadt verführerisch und brillant macht, auch wenig Soldaten da sind, so könnte der Student daselbst eine angemessene Rolle für sich spielen und ceteris paribus den Zweck seiner Ausbildung da weit wohlfeiler und ungestörter erreichen, als in Mainz, Halle oder Leipzig. Aber die Universität ist, mit einem Wort gesagt, erbärmlich. Vorzeiten hat sie große Männer unter ihre Lehrer gezählt, aber das achtzehnte Jahrhundert hat auch nicht einen einzigen da aufkommen lassen. Die Studenten sind lauter Landeskinder; denn sehr selten verläuft sich ein Ausländer dahin, und selbst diejenigen Landeskinder, die etwas Rechtes lernen wollen, gehen auf andere Schulen und Universitäten.
Da die Pfälzer Schulen über allen Glauben elend sind, so kommen die Herren Füchse ohne alle Vorkenntnisse nach Heidelberg, nehmen die Lehrstunden an, welche ihnen der Herr Kirchenrat, an den sie empfohlen sind, vorschlägt, und hören dann zu. Hefte werden bei den Reformierten gar nicht geschrieben, bei den Katholiken aber wird alles aufgezeichnet. Wenn ein Student zehn Stunden wöchentlich zu hören hat, so denkt er wunder, welche Arbeit er habe. Nach drei Jahren zieht er wieder ab, läßt sich examinieren, und zwar bei seinen Lehrern, die ihn dann freilich nicht abweisen, und er wird mit der Zeit Pastor, Schaffner, Amtmann, Doktor oder sonst etwas.
Der Komment ist zu Heidelberg elend, auch nur wenn man ihn nach eingeführten akademischen Regeln mißt. Die Studenten unterscheiden sich in ihrer Aufführung wenig von Gymnasiasten; es fehlt ihnen allen das sonst bei Studenten gewöhnliche freie unbefangene Wesen. Doch saufen die Leutchen wie die Bürstenbinder, denn der Wein ist sehr wohlfeil da. Schlägereien sind gar nicht Mode, obgleich den Studenten erlaubt ist, Degen zu tragen. Aber en revanche nehmen die Herren allerlei Zeug vor, welches sonst Schüler aus Mutwillen oder Langerweile zu tun pflegen: sie spielen Ball, gehen auf Stelzen, suchen Vogelnester, spielen mit Weinschrotern, die sie zusammenjochen und an ein kleines Wägelchen spannen u. dgl. Das Pasquillieren ist auch ihnen gar gewöhnlich.
Die Studenten zu Heidelberg werden eingeteilt in Seminaristen, Juristen und Sapienzknaster. Die Seminaristen sind katholische Theologen, meist Kinder armer Eltern; denn wer Geld hat, den schnappen die Kuttenpfaffen weg – so heißen die Mönche in der Pfalz – und machen einen Heiligen aus ihm. Unter dem Namen Juristen begreift man alle wirklich Jura Studierenden, sodann die Mediziner und protestantischen Theologen; diese sind eigentlich Kern der Universität und alleinige Inhaber des Komments. Sapienzknaster endlich heißen diejenigen armen reformierten Theologen, welche auf der »Sapienz«, einem mit Einkünften zur Erhaltung dürftiger Studenten errichteten Kollegium, wohnen und also von der Gnade des Herrn Kirchenrats leben müssen. Diese Sapienzknaster sind sehr verachtet und dürfen sich nirgends sehen lassen, wo Juristen hinwandern, sonst bekommen sie Nasenstüber. In den Kollegien wird ihnen Musik gemacht, und wer des Nachts bei der Sapienz vorbeigeht, der schreit: Heraus, ihr lumpigen Sapienzknaster! pereant!
So viel von Heidelberg.
Ich war schon vor langem durch Crellius um meinen Glauben an die Dreieinigkeit, und durch Tyndale vollends um allen Glauben gekommen. In der Pfalz suchte ich nun Proselyten zu machen und fand mehrere Anhänger. Anfänglich erstreckte sich mein Bekehrungseifer bloß auf meine Freunde; mit diesen sprach ich oft über heilige Dogmen, und das Resultat war jedesmal, daß das Dogma falsch und läppisch wäre. Da unter meinen Freunden mehrere Katholiken waren, so hütete ich mich, Unterscheidungslehren anzutasten; denn so würde ich sie niemals gewonnen haben; vielmehr griff ich die sogenannten Grundlehren des Christentums an und widerlegte sie mit meinen Argumenten, welche bei meinen Leuten fangen mußten.
Gewöhnlich schlug ich den Weg ein, daß ich die ganze Historie der Bibel suchte verdächtig zu machen, und dann fragte, ob man einem Buche glauben könnte, welches sich so oft widerspräche? Bald beschrieb ich den Abraham, Moses, David, Samuel, Elias und andere in der Bibel als Heilige dargestellte Personen als Erzschurken, Spitzbuben und Rebellen, deren Stückchen ich erzählte und mit Anmerkungen erläuterte. Sofort ging ich ans Neue Testament, machte mich über die Lehrart Jesu und der Apostel lustig und bewies, daß die weisen Heiden Sokrates, Platon, Xenophon, Zeno, Plutarch, Cicero und Seneca die Moral oder eigentliche ewige allgemeine Religion weit schöner und gründlicher gelehrt hätten, als die Stifter der kirchlichen Sekten. Da ich merkte, daß die Historien der unendlichen christlichen Zänkereien, Spaltungen, Verfolgungen und Pfaffenspitzbübereien den meisten Eindruck auf meine Freunde machten, so blieb ich bei diesem Kapitel immer recht lange stehen und erläuterte alles, so gut ich konnte. Voltaire kam mir, wie man denken kann, recht wohl zustatten. Dabei gab ich mir ein sehr gelehrtes Air und blickte mit Verachtung auf die herab, die die Kirchenreligion verteidigten. Mußte ich dem einen oder anderen dieser Verteidiger die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er ein gelehrter Mann und heller Kopf sei, so gab ich vor: der Mann sei nur einseitig aufgeklärt, sei ein Heuchler, rede anders als er denke oder dergleichen. Ich weiß es recht wohl, daß ich nicht allemal redlich zu Werke gegangen bin, denn ich brauchte oft Argumente, deren Schwäche ich selbst einsah; allein ich hatte mit Leuten zu tun, die alles, was ich sagte, für bare Münze annahmen, und da, dachte ich, sei eine pia fraus erlaubt. In diesem Falle machte ich es gerade so wie die heiligen Kirchenväter, ja selbst wie die Apostel, welche ad hominem bewiesen und zufrieden waren, daß ihre Zuhörer glaubten, sie mochten nun überzeugt oder übertölpelt sein.
Endlich erhielt ich die berühmten Fragmente, die Lessing herausgegeben hat; jetzt war ich vollends recht in meinem Elemente. Bisher hatte ich die christliche Religion noch immer als eine gute moralische Stiftung für ihre ersten Anhänger, vorzüglich aus den Juden, angesehen, und verehrte den Urheber derselben, sowie seine ersten Nachfolger, als brave ehrliche Männer, die höchstens Fanatiker und Feinde des Priesterdespotismus gewesen wären. Aber von nun an erblickte ich in dem ganzen christlichen System nichts als Betrug, und zwar Betrug, der sich auf die abscheulichsten Absichten gründete. Ich teilte meinem Vater die Dinge mit. Er las sie durch und gab sie mir mit den Worten wieder:
»Haec et ego dudum cogitaram; nil inveni novi.« »Das sind schon längst meine eigenen Ansichten gewesen; ich habe nichts Neues darin gefunden.« L. Dabei riet er mir, da ich nun gescheit genug sein müßte, ich solle das alles für mich behalten und nichts davon ins Publikum bringen. Aber das war kein Rat für mich. Ich las meinen Freunden die Fragmente, besonders das über die Auferstehung Jesu und dessen und seiner Jünger Zweck mehrmals vor. Letzteres Buch wurde, weil ich es wieder zurückgeben mußte, von uns abgeschrieben und war von nun an unsere Bibel.
Auf diese Art hatte sich eine kleine deistische Gesellschaft gebildet, wovon ich der Matador war; jeder konsultierte mich, trug mir seine Zweifel vor und bat sich meine Orakelsprüche aus. Unsere Disputationen wurden meistens beim Weinglase geführt, und da disputiert sich's freilich ganz allerliebst.
Ob wir gleich unsere Sache ziemlich geheim anfangs hielten, so waren doch verschiedene Pfaffen auf unsere Spur gekommen und hatten uns als Erzfreigeister ausgeschrien. Um diesem üblen Gerüchte zu entgehen, fertigte ich, auf Anraten meines Vaters, eine kleine Schrift aus und ließ sie im Manuskript zirkulieren. Das Ding war lateinisch und hieß: »Dissertatiuncula de veritate Religionis Christ. argumentum morale.« Es enthielt die gewöhnlichen moralischen Beweise für die Wahrheiten der christlichen Religion, und tat ziemlich gute Wirkung. In meinen Zirkeln widerlegte ich, nach Art so manches anderen gezwungenen Schriftstellers, mein eigenes Schriftchen und machte es lächerlich.
Mein redlicher Freund, der Inspektor Birau zu Alzey, den ich sehr oft und auf mehrere Tage besuchte, ermahnte mich fleißig, mein freies Reden über die Religion einzustellen.
»Sauft, lieber Freund,« sagte er oft zu mir, »macht Hurkinder, schlagt und rauft Euch, kurz, treibt alle Exzesse; das wird Euch nicht so viel schaden, als Eure Freigeisterei.«
Er hatte recht; denn Saufen u. dgl. sind peccatilia, Herrn Simons Sünden, wie D. Luther sagte, die der Küster vergib; aber über die Dreifaltigkeit zweifelhaft reden, verdient alle Anathemen.
Da ich in der Rheingrafschaft Kandidat war, so kam meine Ketzerei vor das Konsistorium; ich wurde vor den Rat Dietsch geladen, doch gelang es mir, mich herauszureden. Sonntags darauf mußte ich in Flonheim für den Pastor Stuber auftreten. Da nahm ich Gelegenheit, die Gottheit Christi zu beweisen, d.h. ich schrieb alle Beweise aus Schuberts Kompendium ab, brachte sie in Form einer Predigt, und warnte am Ende vor dem im Finstern schleichenden Gift der Freigeister. So wollten es die Umstände!
Nach der Kirche stellte mich der Kantor Herrmann, mein guter Freund, zur Rede: wie ich eine Lehre verteidigen könnte, über die ich schon so oft in seinem Beisein gespottet hätte? Ich erzählte ihm aber den Vorfall mit dem Konsistorialrat und bat ihn, er möchte den Inhalt meiner Predigt so bekannt machen, als er könnte. Herr Herrmann bat sich mein Konzept aus, schrieb es fein ab und ließ es zirkulieren. Dieses Benehmen brachte meine Rechtgläubigkeit wieder zu einem gewissen Kredit, der aber leider nicht sehr lange währen wollte.
Mein Vater war ein geborener Darmstädter und hatte in diesem Lande viel Freunde und Verwandte; nun dachte er daran, ob er mich vielleicht an eine Stelle bringen könnte, etwa an eine Schulstelle, deren es im Darmstädtischen manche gibt. Er schrieb daher an seinen Freund, den Hofprediger Kremer. Dieser antwortete: er dürfe sich deshalb gerade an den Landgrafen wenden, der wäre ein guter Herr, und wenn er bei dem Regierungsrat Stauch Einlaß finden könnte, so wären die Sachen so gut wie fertig. Stauch war seines Handwerks ein Schneider von Kirn an der Nahe. Da er gut schreiben konnte, auch Französisch auf der Wanderschaft gelernt hatte, so ward er erst Schreiber bei dem Rat Kappes in Pirmasens; nach dessen infamer Kassierung kam er in landgräfliche Dienste, benutzte die äußerst schwachen Seiten des Landgrafen zu seinem Vorteil und ward Regierungsrat, pro titulo nämlich, denn im Grunde regierte er das ganze Land. Ich erhielt vom Pfarrer Stuber, seinem Vetter, einen Brief an den Rat, und Herr Stauch versprach, sich für mich zu verwenden; nur möchte er mich erst sehen und seinem Herrn vorstellen.
Ich reiste also nach Pirmasens, wo Landgraf Ludwig IX. seine Residenz hatte. Pirmasens liegt in der Grafschaft Lichtenberg, unweit der französischen Grenze. Es ist ein kleiner Ort, den der Landgraf voll Soldaten gesteckt hat. Dieser Fürst war nämlich ebenso in Soldaten verliebt, wie der Herzog von Zweibrücken in seine Jagdhunde und Katzen. Nach Darmstadt kam der Landgraf niemals, und die Regierungsgeschäfte waren gänzlich in den Händen seiner Bedienten und seiner Kreaturen. Er hatte immer Maitressen, freilich gegen das Ende seines Lebens nur zum Zeitvertreib. Die, welche er damals hatte, war ein gemeines Mädchen von Rheims, die lange in Paris als fille de joie gelebt hatte. Der Fürst hatte die Gnade gehabt, ihr den Titel einer Komtesse von Lemberg zu geben.
In Pirmasens logierte ich bei meinem Vetter, dem reichen Gerber Böhmer, welcher bei Herrn Stauch gut stand und mich auch da einführte. Herr Stauch parlierte französisch mit mir und war außerordentlich höflich. Es war ihm, meinte er, une satisfaction infinie, einen braven Mann, einen homme de mérite zu poussieren. Das freute mich, und ich insinuierte mich besonders dadurch bei dem Rat, daß ich ihm erzählte, wie, seitdem er am Ruder wäre, die Klagen nicht mehr so gehört würden wie vorher; das müßte durchaus von den guten Anschlägen herkommen, die er seinem Herrn, dem Landgrafen, gäbe. Und in diesem Stück hatte ich auch nicht gelogen, denn obgleich Stauch nicht studiert hatte und ein gelernter Schneider war, so machte er doch weit klügere Anstalten im Lande, als viele seiner studierten Vorgänger, welche Schurken gewesen waren und die Not der mittleren und unteren Volksklassen vielleicht nicht so gut gekannt hatten wie er.
Herr Stauch stellte mich auf der Parade dem Landgrafen vor, welcher sehr freundlich und herablassend nach seiner steten Gewohnheit mit mir redete und mir ganz treuherzig auf die Achsel klopfte. Er befahl mir, eine Schrift bei ihm einzugeben und meine Wünsche bekannt zu machen; hernach wollte er schon sehen, was man tun könnte. Das hieß denn, er wollte es Herrn Stauch überlassen, wie ich könnte placiert werden. Die herablassende Güte des ehrlichen Fürsten rührte mich, und ich bedauerte ganz aufrichtig, daß ein Herrscher von so gutem Charakter und Herzen so wenig Regent war.
Ich besuchte auf Herrn Stauchs Rat auch den Feldpropst Venator, einen erzorthodoxen, düstern Kopf, der mir alsbald auf den Zahn fühlte. Ich hielt Farbe und behauptete das absurdeste Zeug mit allen Gründen, die ich aus dem Kompendium behalten hatte. Das behagte dem guten Herrn, der über die einreißende Ketzerei heftig klagte. Uebrigens konnte Venator bei dem Landgrafen viel ausrichten, denn er war dessen geistlicher Konsulent, und mußte seine geistlichen Grillen aufs reine bringen. Der Landgraf hatte dergleichen mehrere; z.B., wenn er des Nachts nicht schlafen konnte, so dachte er an dies und das, und wenn ihm etwas einfiel, worin er sich nicht zu finden wußte, so ließ er jemanden holen, der ihm ein kompetenter Richter zu sein schien. In geistlichen Dingen war dies Venator. Einst fiel dem Landgrafen – Venator hat es mir selbst erzählt – die wichtige Frage ein, ob der Hohepriester im Alten Testament mit bedecktem oder unbedecktem Haupte ins Allerheiligste eingetreten sei. Darüber konnte er sich nun nicht finden, und Venator mußte herbei, des Nachts zwischen zwölf und eins, und ihm diese wichtige Frage auseinandersetzen.
Meine Supplik an den Landgrafen wurde von Stauch so gut unterstützt, daß ich vierzehn Tage nach meiner Zurückkunft ein Dekret erhielt, worin eine Versorgung versprochen wurde, wenn ich mich in Darmstadt examinieren ließe und bestände. Ich meldete mich, bestand und gehörte nun in die Zahl der Darmstädter Kandidaten, erhielt auch ein vortreffliches Testimonium vom Konsistorio, worin die Wörtchen praeclare und optime mehrmals angebracht waren. Indes auch die Hoffnung, die ich nun schöpfen konnte, bald versorgt zu werden, ging mir verloren.
Herr Stauch hatte zwar gut für mich gesorgt, und als der bisherige Konrektor in Darmstadt versetzt wurde, wirkte er mir ein Dekret vom Landgrafen zu dieser Stelle aus. Ich begab mich nach Darmstadt und glaubte, da ich die Hand des Landgrafen hätte, daß meine Anstellung keine weiteren Schwierigkeiten haben könnte. Indessen, es war noch ein anderer Bewerber da, der vom Superintendenten begünstigt wurde, und deshalb wurde entschieden, daß wir beide uns erst noch einem Schulexamen unterwerfen müßten. Der andere, ein gewisser Zimmermann, zeigte sich zwar sehr unwissend, und ich glaubte bestimmt, die Stelle zu erhalten; trotzdem wurde er, reiner Kabalen wegen, mir vorgezogen, und ich ging leer aus.