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Einleitung.

Der Aufforderung der Verlagsbuchhandlung, der Ausgabe dieses hochinteressanten Werkes einige Worte, freundliche Begleiter auf der Reise in die Leserwelt, beizugeben, bin ich um so lieber nachgekommen, als es schon lange mein Wunsch war, die berühmte Selbstbiographie des Magisters Laukhard in modernem Kleide erscheinen zu sehen. Dieses Unikum der deutschen Literaturgeschichte drohte leider aus dem Gesichtsfelde des Publikums zu verschwinden, seit die immer seltener werdenden Originaldrucke in nicht jedermann zugänglichen Sammlungen mehr und mehr verschwanden. Zudem erlag das Auge des Lesers, der sich glücklich in den Besitz eines der noch vorhandenen Exemplare gesetzt hatte, dem grauen Löschpapier und den elenden Typen dieser einer schlechten Offizin des achtzehnten Jahrhunderts entstammenden Ausgabe. So glaube ich kühn behaupten zu dürfen, daß der Herausgeber der Stuttgarter Memoirenbibliothek sich einer dankenswerten Mühe unterzogen hat, indem er Laukhards Werk in einer dem Geschmacke der Gegenwart entsprechenden Bearbeitung aufs neue in die Oeffentlichkeit bringt.

Ueber Wert und Nutzen der Memoirenliteratur im allgemeinen zu reden, kann hier wohl schwerlich der Platz sein. Ist es wirklich nötig, an Goethe und sein Interesse für »alles wahrhaft Biographische« zu erinnern oder an die Tatsache, daß die glänzend geschriebenen Memoiren des französischen Generals Marbot das letzte Buch waren, das Fürst Bismarck in Friedrichsruh gelesen hat? Auch Marbots Denkwürdigkeiten gehören, wie die Erlebnisse verschiedener deutschen und französischen Militärs, zum Bestande der in Robert Lutz' Verlag erscheinenden Memoirenbibliothek.

Zwei Dinge sind freilich erforderlich, um für eine Lektüre dieser Art die weiteren Kreise der Gebildeten zu gewinnen: der Memoirenschreiber muß etwas zu erzählen, also allerlei gesehen haben, und er muß über die Gabe einer fesselnden Darstellung verfügen.

Beides ist bei Laukhard in einem ungewöhnlichen Grade der Fall. Als Student ein Zeitgenosse der Orden und Landsmannschaften und selbst ein Mitglied zweier von diesen Verbindungen, ist er imstande, von deren Leben und Treiben, an dem er starken Anteil genommen und dessen intime und intimste Seiten er aus dem Grunde kennt, genaueren Bericht zu geben. So gehört er denn zu den Klassikern der Geschichte des Universitäts- und Studentenlebens, und kein Forscher auf diesem Gebiete, weder Schrader noch König, noch Fabricius oder ein anderer, hat an ihm vorübergehen können, ohne sich mit dem absonderlichen Gesellen zu beschäftigen, und die meisten haben es nicht ungern getan.

Auch die Theologen können den Namen eines der skrupellosesten unter den »Aufklärern« aus den Annalen ihrer Wissenschaft nicht streichen, so wenig sympathisch den meisten unter ihnen dieser Schüler Bahrdts und Semlers auch sein kann, dessen extremer Radikalismus mit jeder positivgläubigen Richtung in schneidendem Gegensatze steht und dessen zynisches Wesen mehr noch als sein Unglaube manchen frommen Herrn mit gelindem Schauder erfüllen mag. Schauder vor diesem frevelnden Weltkinde, das an den Folgen gewisser Naturanlagen, verfehlter Erziehung, trauriger Lebensverhältnisse und – wenn man so will – auch an eigener Schuld schwerer zu tragen, härter für sie zu büßen hatte als viele, die im Grunde weit schlechter waren. Es ist unmöglich gewesen, trotz umfangreicher Streichungen in dem Original, die vielfachen Ausfälle gegen andere theologische Richtungen und deren Vertreter in der vorliegenden Ausgabe der Lebensbeschreibung des merkwürdigen Mannes gänzlich zu tilgen. Es würde auch unmöglich sein, die nicht minder zahlreichen Szenen verschwinden zu lassen, in denen der unter dem wüsten Studenten- und Soldatenvolke damaliger Zeiten lebende Autor die geschlechtlichen Ausschweifungen dieser Kreise grell, oft nur zu grell beleuchtet. Zur »Entschuldigung« – wenn es in der Ausgabe historischer Denkwürdigkeiten einer solchen überhaupt bedarf – also zur Entschuldigung mag gesagt werden, daß Laukhard zwar seine Bilder mit einer manchmal verblüffenden Offenheit malt und ausstellt, daß ihm aber niemals einfällt, zweifelhafte Situationen in jener durchsichtigen Verschleierung vorzuführen, die pikant, verlockend und daher nach meinem Empfinden unsittlicher und gefährlicher wirken muß als die freilich poesielose, aber ehrliche Darstellung nackter Gemeinheit.

Wir sind hiermit auf den Punkt gekommen, der einen Hauptwert der Laukhardschen Lebensbeschreibung ausmacht: das Kulturgeschichtliche. Ja, es ist wahr, was in dieser Hinsicht C. Baur über Karl Friedrich Bahrdts und Laukhards Lebensbeschreibungen sagt: »Wer an optimistischer Schwärmerei für die ›gute alte Zeit‹ leidet und an pessimistischer Schwarzsehern in bezug auf die Zustände der Gegenwart, in welcher alles schlechter geworden sei. der muß, wenn ihm überhaupt zu helfen ist, durch diese Schriften gründlich geheilt werden.«

Wie falsch ist es doch, sich den allgemeinen Bildungszustand zur Blütezeit unserer klassischen Literatur, die auch die Epoche unserer großen Philosophen war, weit erhaben über dem heutigen zu denken! Das Gegenteil war der Fall, wenn auch zugegeben werden muß, daß Deutschland und andere Länder damals über eine ungewöhnlich reiche Zahl erster Geister verfügten. Gerade Laukhards Schriften gehören aber zu denen, die da zeigen, wie wenig tief die breiteren Schichten der zeitgenössischen Gesellschaft von der gepriesenen Humanität des Klassizismus durchtränkt, ja, wie roh und ungebildet sie geblieben waren.

Mochten in den Zaubergärten von Weimar die Leonoren und Iphigenien wandeln: im benachbarten Jena hausten in alter Roheit Hieber und Hetzpeitsche: konnte im entlegenen Königsberg der Tiefsinn Kants die Grenzen menschlicher Erkenntnis bis an ferne Punkte zurückschieben: in dem Berlin der Wöllner und Bischofswerder herrschte die schwärzeste Finsternis, die beschränkteste Orthodoxie, der barockste Aberglaube, in dessen Dunkel die Rosenkreuzer ihr lichtscheues Wesen trieben. In beschaulichem Quietismus aber lag noch Laukhards Heimat, lagen die pfälzischen und die rheinischen Lande, mit ihren Krummstabherrschaften und Duodezfürstentümern, in denen rundwangige »Nichten« den Bischöfen und Prälaten, Kammerzofen und Amtleute den kleinen weltlichen Herren »regieren« halfen. Aus der behaglichen Ferne eines Jahrhunderts betrachtet, nehmen sich diese Dinge fast romantisch aus; die Feder des scharfäugigen Zeitgenossen aber enthüllt uns eine Menge von Dingen, die, bei Licht besehen, unumstößlich beweisen, daß es in der Urgroßväter Tagen neben Philistertum, Kleingeisterei und Beschränktheit auch an einer tüchtigen Dosis »Korruption« wahrlich nicht gefehlt hat.

Durch den sommerlich schwülen Nachthimmel dieser Zeit und ihrer Zustände fährt nun aber der grelle Blitz der französischen Revolution. Er ist auch in Laukhards Leben gefahren, und sein Widerschein leuchtet uns aus dem Buch entgegen, das in sauberem Neudruck unter den modern angezogenen Kindern des zwanzigsten Jahrhunderts heute wieder den Büchermarkt betritt.

Laukhard ist ein Zeitgenosse Robespierres und Napoleons; und wenn auch der Sieger von Marengo in der Lebensgeschichte des hallischen Magisters weiter keine Rolle spielt, so hat besagter Magister eine um so genauere Bekanntschaft mit den Sansculotten gemacht, in deren Land ihn die Irrfahrten seiner wunderbaren Erdenpilgerschaft verschlugen.

Das war so zugegangen: Nachdem er in Gießen, Göttingen und Halle studiert und die Burschenherrlichkeit dieser drei berühmten Hochschulen bis auf die Neige gekostet, hatte er sich in Halle zu einer gelehrten Dissertation aufgeschwungen, das Magisterexamen bestanden und begonnen, an der dortigen Universität Vorlesungen zu halten. Aber der Sumpf lockte, und der junge Gelehrte war, wie so oft, in Schulden geraten. Sein Vater, sonst den nicht immer noblen Passionen des Sohnes gegenüber großmütig, will diesmal nicht zahlen. Ein psychologisches Nachtstück hebt an, ein Monodram, das in wenigen Stunden sich abspielt. Am Weihnachtsabend sieht ein Freund den unglücklichen Magister, der sein letztes rotes Kleid nebst Rock und Weste bei der Trödlerin versetzt hat, in einer Soldatenkneipe verschwinden. Am folgenden Morgen geht der Verzweifelte in die Christmette, von da in die »Broyhanschenke«, ein malerisch an der Saale gelegenes Wirtshaus, wo er stundenlang in dumpfem Schweigen vor sich hinstarrt. Nun folgt der dritte Akt: Laukhard meldet sich auf der Hauptwache, empfängt das übliche Handgeld – und der preußische Staat ist um einen jener bedauernswerten »Vaterlandsverteidiger« reicher, die sich um ein paar Goldstücke dingen ließen und den Leichtsinn einer Stunde mit einem Leben voll namenlosen Elends bezahlten.

So war der Privatdozent gemeiner Musketier geworden, hinter dem die Hallenser Kinder in hellen Haufen hersangen:

»Laukhard hin, Laukhard her,
Laukhard ist kein Magister mehr.«

Das war der Kehrreim einer Ballade, die ein schauerliches Menschenschicksal zum Inhalt hatte.

Zwar wurde ihm das Los, als gebildeter Mann unter den »Ausländern« des damaligen Werbeheeres zu dienen, von wohlwollenden Vorgesetzten tunlich erleichtert; aber Laukhard hat doch das schreckliche Soldatenleben mit seinem Hunger und Elend, seiner sittlichen Verwilderung und seinen grausamen Strafen bis in die untersten Tiefen kennen gelernt. Besonders während des Feldzugs in die Champagne, wo infolge der unfähigen Führung ein ganzes Heer in Regen- und Schlackerwetter verfaulte.

Wir sind hier an einem wichtigen Wendepunkte angekommen. Denn mit dem Abmarsch seines Regiments zur französischen Grenze hat unser Magister den Boden der großen geschichtlichen Ereignisse betreten, und er, dessen Schilderungen bis hierher vorwiegend den Kulturhistoriker und besonders den Freund der Geschichte des akademischen Lebens interessieren, darf nun den Anspruch erheben, auch den Quellenschriftstellern der eigentlichen Weltgeschichte beigezählt zu werden. In der Tat sind die »Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzugs gegen Frankreich«, die einen Teil seiner Selbstbiographie ausmachen und dem zweiten Bande der vorliegenden Ausgabe einverleibt wurden, eine äußerst wertvolle Quelle zur Geschichte der Rheinfeldzüge.

Bekanntlich haben über die »Kampagne in Frankreich« auch andere Teilnehmer berichtet, und selbst Goethe, der in Karl Augusts Gefolge den Zug mitmachte, hat ein Buch darüber geschrieben. Gerade zu diesem aber bilden Laukhards »Begebenheiten« eine sehr wünschenswerte Ergänzung. Gewiß ist Goethes Werk von einem höheren Standpunkt aus entworfen; es ist auch ungleich feiner und delikater gehalten als das Laukhardsche. Die Welt sieht eben verschieden aus, wenn man sie von der Beletage eines Hauses oder aus den Luken einer Keller- oder Mansardenwohnung betrachtet; ein Feldzug anders, wenn ein hochgestellter Herr im Hauptquartier darüber schreibt oder ein Kriegsmann, der im zerlumpten Mantel bei den Vorposten gelegen hat. Wer nun aber die Ereignisse von der vornehmen Höhe Goethescher Lebensauffassung mit angesehen und sich mit dem Dichterfürsten über dessen geistreiche Prophezeiung gefreut hat, daß mit dem Tage von Valmy eine neue Epoche der Weltgeschichte heraufsteige: der wird auch Laukhards viel prosaischere, aber der unmittelbaren Wahrheit weit näher kommende Darstellung nicht ohne Nutzen lesen. Denn die Kenntnis des Soldatenlebens und -leidens jener Tage verdanken wir doch in erster Linie dem Musketier Laukhard, der nicht allein mitten darin stand, sondern auch die finstersten Nachtseiten, über die Goethes Goldfeder zierlich hinweggleitet, mit seinem, wie immer, derben Realismus belichtet und beleuchtet.

Aber das Interesse an dem Laukhardschen Werke geht hierüber weit hinaus. Im folgenden Jahre spielt sich nämlich vor der Festung Landau ein Vorfall ab, in dessen packende Einzelheiten wir hier nicht weiter eingehen wollen, um nicht dem Leser durch vorzeitiges Ausplaudern die Freude an der Episode vorwegzunehmen. Genug, infolge einer wunderbaren Verkettung von Umständen kommt Laukhard aus dem deutschen ins französische Lager und von hier ins Innere der großen Republik. Das gibt ihm Gelegenheit – eine Gelegenheit, wie sie in gleicher Weise nicht viele gehabt haben –, als Zuschauer an dem brodelnden Hexenkessel der Revolution zu stehen und dem schäumenden Gebräu da drinnen in einem Augenblick zuzuschauen, als es eben im Siedepunkte der Schreckenszeit angekommen war. Und er wäre fast selber dem Revolutionsdrachen zum Opfer gefallen, dieser ehrliche Deutsche, wenn nicht gute Freunde, die der fröhliche, leichtlebige Gesell allerorten zu finden das Glück hatte, in diesen Stunden höchster Not ihm beigesprungen wären. Selbst der öffentliche Ankläger baute ihm goldene Brücken, und die Tür des Gefängnisses öffnete sich ihm wieder, als die deutschen Zeitungen schon meldeten, daß der interessante Zeitgenosse unter dem Fallbeil der Guillotine sein Leben verhaucht habe.

Es verdient bei dieser Gelegenheit erwähnt zu werden, daß die Urteile, die Laukhard als unmittelbarer Augenzeuge über die französischen Verhältnisse abgibt, im höchsten Grade Beachtung verdienen. Daß ein Mann in seiner Lage, der die elende Wirtschaft der kleinen Despoten des Heimatlandes und die eiserne Härte der preußischen Militärsklaverei am eigenen Leibe verspürt, den Gedanken der französischen »Freiheit« nicht abhold gewesen, das kann nicht wundernehmen. Auch daß er die Terroristen, selbst Robespierre, nicht ohne weiteres verdammen möchte, ist für sein Gerechtigkeitsgefühl ebenso bezeichnend wie für seine politische Einsicht. Hat er es doch ganz richtig erkannt, daß das rücksichtslose Regiment des Nationalkonvents mittels der levée en masse Frankreich damals tatsächlich vom Abgrund rettete. Sind doch auch Geister ersten Ranges, selbst Herder und Wieland, ihrer anfänglichen Bewunderung für die Revolution bis lange nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. treu geblieben, einem Ereignis, das auch Laukhard kühl genug behandelt. Auf der andern Seite war dieser den Revolutionsmännern gegenüber nichts weniger als ein blinder Jasager; er betrachtet im Gegenteil die französischen Zustände mit bemerkenswert scharfer und helläugiger Kritik. So wird man auch nicht allzu sehr erstaunt sein, zu hören, daß, wiederum in Uebereinstimmung mit ersten Geistern, unser preußischer Musketier prophetischen Blickes die Erfolge der französischen Republik voraussagt, wenn sie einen großen Führer finden würde – und er hat das zu einer Zeit gesagt, als eben dieser große Führer, Napoleon Bonaparte, noch den blauen Rock eines einfachen Artillerieoffiziers trug.

Auch über französisches Volksleben und die Stimmungen in den Provinzen zur Sansculottenzeit erhält man aus Laukhards Mitteilungen eine Menge wertvoller Aufschlüsse: nicht minder über das scham- und sittenlose Treiben der Emigranten, die der Autor zu Beginn des Feldzugs in ihrem Hauptquartier in Koblenz kennen gelernt hat und denen er später nach seiner Rückkehr aus Frankreich in Süddeutschland wieder begegnet ist. Seine vorzügliche Kenntnis der französischen Sprache hat ihn befähigt, in die Denkweise dieser Leute, die, einem geflügelten Worte zufolge, »nichts gelernt und nichts vergessen hatten«, tiefer einzudringen, als mancher andere, der an sich auf höherer Warte stehen mochte, als dieser preußische Soldat.

Endlich hat Laukhard zuletzt noch eine Zeitlang unter den schwäbischen Kreistruppen gedient, und, wenn er dem Biedersinn der ehrlichen Schwaben alle Gerechtigkeit widerfahren läßt, so weiß er mit dem derben Humor, der seine Schilderungen überall begleitet, die unter diesem Bruchteile der alten »Reichsarmee« herrschenden Zustände seinen Lesern in zwerchfellerschütternder Weise vorzuführen. Wer es noch nicht wissen sollte, warum weder die Kroaten Oesterreichs noch die Reichsvölker oder die Prügelsklaven der Armee weiland König Friedrichs des Großen mit den undisziplinierten »Banden« der Revolutionsheere fertig zu werden vermochten, der wird aus den Vorlesungen unseres hallischen Magisters eine besonders reichliche Belehrung mit nach Hause nehmen.

Von den Schwaben kommt Laukhard endlich wieder ins Preußische und – im Jahre 1795 – nach der Universitätsstadt Halle zurück. Seine weiteren Erlebnisse bis zum Schlusse der Selbstbiographie bewegen sich nun freilich mehr im Rahmen der Alltäglichkeit, und doch ist es zu bedauern, daß das Werk im Jahre 1802, mit dem fünften Bande der Originalausgabe, abbricht.

Denn noch einmal hat später das Leben des exzentrischen Mannes, das nicht dazu bestimmt war, in normalspurigen Geleisen zu verlaufen, eine höchst eigentümliche Wendung genommen, über die allerdings nicht mehr auf Grund der Selbstbiographie, sondern nur aus zerstreuten Notizen berichtet werden kann, die aus den Faszikeln der Archive zusammengesucht werden mußten. Auch die Tradition hat einiges beigesteuert, das im Schlußkapitel nach kritischer Sichtung zusammengestellt wurde.

So sind Laukhards »Leben und Schicksale« ein Torso, aber ein Torso von hoher Bedeutung. Denn es dürfte nur wenige Geschichtsbücher geben, die einen solchen Reichtum kaleidoskopartiger Bilder aus dem Kleinleben einer Zeit, namentlich der mittleren und niederen Stände zweier großen Völker enthalten, wie die Aufzeichnungen dieses fahrenden Schülers, dieses »literarischen Vagabunden« (Häusser), dessen Werk, mitten in den Kriegsstürmen des Jahres 1807, Achim von Arnim seinem Freunde Brentano zur Lektüre empfahl.

Und auch das darf behauptet werden: neben der unendlichen Fülle des Stoffes, überhaupt dem sachlichen Interesse des Buches wird der Leser doch nicht minder von der Persönlichkeit des Schreibers gefesselt, der seine oft haarsträubenden Erlebnisse ungemein unterhaltend vorzutragen weiß. Es ist ja richtig, wenn es auch eine feindselige Feder über Laukhard geschrieben, daß ihm die Poesie gefehlt und daß dieser grobkörnige Realist in seinen Darstellungen alles abstreift, was man eigentlich den »Schmelz« des Lebens nennen darf. In recht unangenehmer Weise zeigt sich das besonders in seinen Romanen, deren er eine längere Reihe verfaßt hat, die das Entsetzen der Hüterinnen ästhetischer Konvenienz und Etikette, der gelehrten und schöngeistigen Literaturzeitungen seiner Tage waren. Da ihm echt künstlerisches Kompositionstalent abging, so waren diese »Romane«, die heute fast sämtlich am Gestade der Vergessenheit angelangt sind, im Grunde nichts als form- und gestaltlose Abenteurergeschichten ohne psychologische Vertiefung, geschweige denn dichterische Verklärung der Gestalten. Sein »Rheingraf Karl Magnus«, in dem er die Schandtaten eines der winzigen Despoten des ancien régime schildert, sein »Marki von Gebrian«, der die Torheiten eines französischen Emigranten behandelt – es ist überflüssig, die andern dieser Werke hier aufzuzählen Vgl. das Schlußkapitel, wo über Laukhards Schriftstellerei noch einiges gesagt wird. –, sie sind bloße Aneinanderreihungen wilder Streiche und grotesker Begebenheiten, und auch das umfangreichste und vielleicht beste der Erzeugnisse seiner epischen Muse, die »Annalen der Universität zu Schilda«, enthalten zwar eine Menge an sich recht ergötzlicher »Harlekinaden« der akademischen Bürgerschaft dieser absonderlichen Hochschule, aber auch hier fehlt die Künstlerhand, um einen an belustigenden Situationen keineswegs armen Stoff zu einem harmonischen Ganzen zu verschmelzen.

Wesentlich anders ist dies in der Selbstbiographie, deren Faden nicht erst künstlich gesponnen zu werden brauchte, wo vielmehr die temperamentvolle Darstellung eines ganz eigenartigen Lebensganges an sich schon vollauf genügt, um den Leser beständig in Atem zu halten.

Es ist eine Tragödie der Irrungen, eine wahre Tragödie des menschlichen Leichtsinns, die sich vor unseren Augen abspielt, wenn wir diese Blätter in die Hand nehmen. Das Leben eines hochbeanlagten Menschen, aber von außerordentlicher Willensschwäche, der, wie er selbst gefühlt hat, ein Kind war und von dem ersten besten, der ihm über den Weg lief, sich leiten ließ.

Einer der wunderlichsten »Helden« der Geschichte und ein unverfälschtes Original des achtzehnten Jahrhunderts: das ist Friedlich Christian Laukhard gewesen. In dem Leben dieses Menschen war nicht weniger als alles absonderlich. Nicht einmal sein Geburtsjahr hat er gekannt, er, der ein Gelehrter und dazu der Sohn eines Pfarrers, also Hüters der damaligen Geburtsurkunden war! Denn er ist nicht, wie er selbst angibt (vgl. Band I, S. 7 dieses Buches), 1758, sondern am 7. Juni 1757, zwischen sieben und acht Uhr des Abends, geboren. Ich verdanke diese interessante Notiz der Güte des Herrn Oberlehrers Friedrich Schläger in Offenbach a. Main, der das auf der Bürgermeisterei zu Wendelsheim (Rheinhessen), Laukhards Geburtsort, aufbewahrte Kirchenbuch auf meine Bitte persönlich eingesehen hat. Ich habe selbst schon einmal an anderer Stelle über ihn gesagt und darf das Wort wohl hier wiederholen: er war einer jener Charaktere, deren Bekanntschaft für den Humoristen, einen Jean Paul, einen Wilhelm Raabe, eine Tonne Goldes wert gewesen wäre.

Um so mehr, als seine Konfessionen mit wahrhaft Rousseauscher Offenheit geschrieben sind. Ja, es hat vielleicht außer dem großen Jean Jacques nie einen Menschen gegeben, der mit so klassischer Ungeniertheit die Mit- und Nachwelt hinter die Gardine seines Seelenlebens hat blicken lassen, wie Laukhard. Selbst daß ihn die Rachsucht einmal fast verleitet hätte, in Frankreich einen Freund, von dem er sich verraten glaubte, auf die Guillotine zu bringen, selbst das gesteht er, und er gesteht es mit einem so ehrlichen Armesündergesichte, daß man dem sonst grundgutmütigen Menschen diese Aufwallung verzeihen muß.

Ueberall tritt uns in Laukhards Werk ein ungeheurer Wirklichkeitssinn entgegen, eine erstaunliche Wahrhaftigkeit, die den Leser gefangen nimmt und ihn mit einem echt tragischen Mitleide für den Helden erfüllt, der trotz eines so offenen und urteilsfähigen Kopfes, trotz seiner respektabeln Gelehrsamkeit und mancher praktischen Fertigkeit nichts weiter als ein Vagant geworden ist.

Zartbesaitete Seelen muß manches, vieles an dem Denkmal naturalistischer Darstellung abstoßen, das unter dem Titel »Magister Laukhards Leben und Schicksale« in der Literaturgeschichte auf alle Fälle einen aparten Eckplatz behaupten wird.

Der Verfasser erspart uns nichts: weder die viehischen Saufgelage der Gießener Burschen oder die Stinkbomben, mit denen sie in der Silvesternacht den Eintritt des neuen Jahres begrüßen, noch die schamlosen Orgien in den Bordellen der Großstädte. Er weist mit Fingern auf hohe Herren, die in diesen Tempeln der Freude verkehren, er nennt die hallischen Studentenliebchen und ihre Anbeter mit Namen. Wir hören aus seinem Munde, wie 1792, während des Champagner Feldzuges, die unglücklichen Soldaten in den Hospitälern bei lebendigem Leibe verfaulen, wie man sogar Leichen in den Latrinen der Biwaks zwischen dem Unrat findet. Man sieht die Opfer der Spießrutenstrafe mit zerfleischten Rücken zusammenbrechen, man riecht das Blut, das zur Schreckenszeit in weiten Lachen zu Lyon auf den Richtplätzen steht. Widerlich-gräßliche, lächerlich-burleske Fratzen der Weltgeschichte steigen empor. Sie wirken um so packender, da sie sich als unmittelbare Lichtbilder erweisen, frisch von der Platte, ohne die mildernde, sänftigende Phrase, die dem Schriftsteller anstatt der Retusche dient. Auch die »anständigen« Leute, selbst die hohen Herren erscheinen ohne das konventionelle Lächeln, das der Hofphotograph distinguierten Personen auf die Lippen zu legen pflegt. In puris naturalibus treten die Menschen der Zopfzeit bei Laukhard auf. Nicht schön, aber in Zolaschem Sinne echt und interessant, doppelt interessant für das heutige Geschlecht, das den Kampf gegen die »Gesellschaftslüge« erfolgreich begonnen hat.

An subtilen, schönfärbenden Ateliermalern in der Geschichte ist wahrlich kein Mangel – viel seltener sind die rücksichtslos arbeitenden Freilichtler. Ein Exemplar dieser Gattung, freilich mit recht borstigem Pinsel, steht hier vor uns. Ein prächtiger Kerl – quand même.

Bonn, zu Neujahr 1908.
Paul Holzhausen.


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