Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XX

So gingen sie durch das trübfeuchte Land hin.

An vielen Stellen war die Erde schon aufgebrochen, um neue Saat zu empfangen. Andere Strecken standen noch in der rauhen Stoppel, aber über alles dampfte der Geruch nach Scholle und Wintersaat, ein gutes Zeichen für das kommende Frühjahr, für Hoffnung und Auferstehungsfreude. Nach kurzem Marsch kam weite Heide, die sich weich um die Füße schmiegte und den Schritten nicht gestattete, laut zu werden. Einförmig, nur von einzelnen Gehöften und Windmühlen durchsetzt, lief sie gegen das Meer an und schluckte gleichsam die düsteren Wolken ein, die niedrig über sie fortzogen.

In der Ferne erhob sich die große Düne. Sie unterschied sich deutlich von den andern Höhen. Ein fahles Licht lag darauf, das stetig heller wurde.

Ohne auf die Wege zu achten, stakelte Klaas Buhle darauf los. Seine Geleitsmänner vermochten ihm nur mit Mühe zu folgen, so nachhaltig zog er mit langen Beinen querfeldein und rollte ein Stück Heideland nach dem andern auf. Zehn Schritt war er immer voraus. Er marschierte so rank und aufrecht wie eine Wachskerze, die einer Prozession vorgetragen wurde, ohne Aufhören, unermüdlich, nur die große Düne vor Augen und das fahle Licht, das sie immer deutlicher machte. Er überragte alle, die hinter ihm gingen, nicht nur an Leibesgröße, sondern auch an Gedanken. Aber die Gedanken waren wirr und unstet und flogen fahrig nach oben. Wie Hunde trabten ein paar Dutzend Seelen neben ihm her, die er öfters ansprach, bald freundlich, bald in einem Ton, der ihnen gebot, nicht von seiner Seite zu weichen. Er kannte sie alle; auch die von Basilius war darunter; nur eine fehlte noch. Die schwebte zwischen Himmel und Erde und über dem Wasser und wußte nicht, wohin sie ihren Weg nehmen sollte. Es hatte keine Not: bald würde auch sie ihm Gefolgschaft leisten. – Wie der Wind wehte . . .!

Noch einmal querten sie fruchtbare Erde: langgestreckte Häuserkomplexe und saftige Wiesen, auf denen buntgescheckte Kühe weideten. Es waren die alten Liegenschaften von Hazegras. Stille Menschen gingen mit blanken Melkgefäßen vorüber.

Wie der Wind wehte . . .! Er wurde stärker. Hinter Hazegras wellte sich das Gelände allmählich gegen die Dünen vor. Schon erklang der gleichmäßige Pulsschlag des ewigen Meeres. Da verlangsamte Klaas Buhle seine Schritte und blieb schließlich auf einer vorgeschobenen Kuppe stehen, die noch etliche Büchsenschußweiten vom Strande entfernt lag. Hier streckte er den Hals wie eine alte Trappe im niedrigen Roggen und sichtete mit seinen mattblauen Augen nach der großen Düne hinüber, auf deren Spitze sich die Gestalt eines untersetzten Mannes bemerkbar machte.

»Hat wer 'nen Schnaps da?« fragte Klaas Buhle. »Ich und der Knasterbart haben die ganze Nacht bei ihm Wache gestanden.«

Niemand hatte gebranntes Wasser bei sich.

»Denn nicht,« sagte Klaas Buhle und drückte sein Priemchen auf die andere Seite, »aber daß ich's man sage . . .« Er wollte Aufklärung geben. Er hatte es lange genug mit sich herumgetragen; jetzt mußte er reden, es mußte ihm vom Herzen herunter.

Er wandte sich an Heinrich vom Hövel.

»Mynheer,« sagte er kantig, »bei den Frauensleuten war's nicht angebracht, die können solche Geschichten nicht vertragen, aber hier muß ich sprechen, und wenn Sie glauben, es wäre per Unglück passiert, und wir wären nicht auf Posten gewesen – all right! – für meinetswegen . . . aber ich sage: Mynheer, es ist nicht per Unglück passiert, daß er jetzt auf dem Strandhafer liegt, denn was wir Seemänners sind, wir waren auf Posten. Mynheer!« – und seine Augen brannten wieder wie erleuchtete Glasscherben – »ich und der Knasterbart haben es kommen sehen. – Was los?! – Das weiß der Deuwel, aber es war gestern abend komisch in der Heyster Bucht. Sechs Uhr! – oder um so was herum, da rief der Knasterbart von achtern: Boot in Sicht! – Wo? – Am Klüverbaum links! – Gotts den Donner noch mal! – gerade auf das Feuerschiff los – und war ein Ausreißer in strammer See. Das ganze Geschirr heruntergebrochen . . . Hoho! da war's alle . . . 'ne schwere See holte über, und seitwärts ging's . . . Und der Mensch da drüben lachte und lachte . . . Mynheer, er lachte, als müsse er sich in den Himmel hineinlachen . . . Boot klar! – Die halbe Mannschaft mit 'runter. – Riemen ein! – aber nichts mehr zu machen. Er wollte nicht – ums Verrecken nicht . . . Na, und zwei Stunden später haben wir ihn an der großen Düne gefunden; da findet sich alles, was zwischen Scheide und Heyster Bank treibt.«

»So 'n Malör!« stöhnte Jan Bottertje auf und fror bis in die Zehenspitzen hinein.

»Malör . . .?!« fragte der Seelenmensch mit spöttischem Anflug. »Ne, Jan, das war kein Malör nicht. Was hat er überhaupt bei so schwerem Wetter zu segeln? So 'n unbefahrener Mensch – er . . .! – In der Bucht ging's noch; aber hier draußen – da kann's nicht mal unsereiner riskieren. Gottverdammich noch mal! – ich weiß schon, was so 'n reguläres Malör ist und weiß auch, daß der da . . . Der pfiff aufs Segeln, der wollte sein Leben quitt sein, der wollte ins Wasser. Aber wir« – und er schlug sich kräftig auf die Brust – »wir waren auf Posten. Und was der Tote ist: wie 'n Seeheld ist er untergegangen. – Nu kommt man, aber das mußte ich sagen von wegen unserer seemännischen Honorigkeit und von wegen, daß wir jetzt unter uns Männers allein sind. Nu kommt man.«

Da nahm er wieder seinen stakeligen Schritt auf. Die anderen folgten und gingen durch Disteln und Strandhafer ihrem traurigen Ziel zu und sahen, wie der Knasterbart ihnen von der großen Düne aus Signal über Signal gab.

»Marasmus . . .!« seufzte Moritz. So elend war es ihm niemals in seinem erbärmlichen Leben gewesen. Er konnte kaum weiter. Nur mit Mühe vermochte er sich voranzuschleppen.

Bald darauf lag das weite Meer vor ihnen – grau und wüst und unendlich, und lange, schaumige Streifen rollten gegen den Strand an, wo der Friede saß, und eine arme Seele sich geflüchtet hatte unter seine barmherzigen Flügel, die da schatteten von Mittag bis Mitternacht, von Morgen bis Abend . . . und war eine tiefe Ruhe unter seinen gewaltigen Schwingen. – – –

Inzwischen hatten Wilhelmintje und Bernadintje alles bereitet. Er, der Verstorbene, war seinerzeit mit offenem Herzen gekommen und war ihnen ein lieber Hausgenosse geworden, jetzt, wo er fort mußte, sollte er auch von dem traulichen Häuschen aus, in dem er sich wohlgefühlt hatte, die letzte Wanderung antreten – und so sorgten sie denn und weinten dazwischen und schmückten den Thronsaal mit allem aus, was der Herbst noch hergeben konnte. Um die Mittagszeit kam die Lichtjungfer vom benachbarten Sluis herüber, ein behäbiges Mädchen in den fünfziger Jahren, die aber, ihres Ansehens wegen, ›Myfrouw‹ genannt wurde und auch streng darauf hielt, daß dieser Ehrentitel aufs peinlichste estimiert wurde. Trotz ihrer Komplettigkeit und ihres traurigen Berufs schwebte sie dennoch wie eine weiche Daunenfeder dahin und hatte einen stets freundlichen Zug um die Lippen, herrührend von ihren dicken Filzgaloschen und der Überzeugung, daß ein Toter nur heiteren Mundes aufgebahrt werden dürfe, wenn man nicht wolle, daß er in der Ewigkeit unter den Traurigen und Stillen säße. Das erste, was sie vornahm, war, daß sie den porzellanenen Kanarienvogel entfernte, dann richtete sie das Lager her, dann legte sie das Weißzeug zurecht, das sie mitgebracht hatte, dann ging sie in die Küche und ließ sich, der Benauigkeit wegen, einen doppelten Schiedamer mit gestoßenem Kandiszucker präsentieren, den sie hinter ihr Busentuch wippte, als wäre es pures Brunnenwasser gewesen. So – nun war alles in der richtigen Ordnung, und da stellte sie sich breit und völlig in die Haustür, nickte freundlich mit ihrer weißen Bänderfladuse und wartete auf den, der bald kommen mußte.

Und er kam . . .

Sechs Männer trugen ihn auf einer in aller Eile hergerichteten Bahre. Sein Kopf lag zur Seite. Ein Mantel war über seinen Körper gebreitet. So zogen sie ernst und gefaßt nach Sankt Anne ter Muiden, und wo er vorbeikam, da nahmen die Männer, die im Felde schafften, die Mützen herunter und beugten sich vor der Majestät des Todes, der in seiner ganzen Unnahbarkeit und Größe durch das frisch pulsierende Leben dahinschritt. Entsetzlich! – so aus dem vollen Dasein herausgerissen zu werden . . . Der Pflug stand still, und die Ackerpferde wurden angehalten, wo der ruhige Mann mit seiner Gefolgschaft vorbei mußte, und als sie die Dorfstraße passierten, da lief es den Menschen, die auf den Türschwellen standen, kalt über die Herzen, und die Kinder führten ihre Schürzen zum Mund, und die Bäume der Priesterkoppel neigten sich im Wind, als müßten sie den Geist des Abgeschiedenen anrauschen, der von nun an ob vlämischer Erde schweben sollte.

Und er kam . . .

Eine Stunde später hatte die dicke Myfrouw aus Sluis alles aufs beste geordnet. Wenn auch aus den benachbarten Zimmern ein gedämpftes Sprechen und ein trostloses Schluchzen herüberdrang, ab und zu die Leute an der Schwelle stehn blieben, um nach dem deutschen Schriftgelehrten und den Einzelheiten des Unglücks zu fragen – sie hatte sich in keiner Weise beirren lassen; ohne seelische Aufregung, mit linder Sorgfalt und lächelnden Mundes hatte sie alles erledigt. Sie hatte nur ein Amt und keine Tränen. Warum auch? Sie war in ihrer Tätigkeit wie eine Blume, die nicht danach fragt, wo der Gärtner sie hinpflanzt, wenn sie nur die Bedingungen erhält, sich entfalten zu können, gleichviel, ob sie auf Gräbern oder Zierbeeten ihr Erdreich findet. Und die dicke Myfrouw aus Sluis hatte ihr Erdreich gefunden – und dieses Erdreich duftete nach Schollen, wie der Totengräber sie aufwirft, über die sich Trauerweiden neigen, die leise erbeben und harfen und singen und von einem Wiederfinden erzählen – von einem Wiederfinden in einem besseren Leben, das ohne Anfang ist und ohne Aufhören. Es stimmte schon: die Lichtjungfer ähnelte einer Blume auf dem Kirchhof. Sie blühte, um zu blühen, sie waltete ihres Amtes, um ihres Amtes zu walten, und hatte alles sehr schön gemacht.

Die Vorhänge waren niedergelassen. Im Thronsaal herrschte eine gedämpfte Helle; es roch nach Astern und zerschnittenem Kalmus. Bernadintje hatte ihre beiden Oleanderbäume gestiftet. Sie standen zu Häupten des schlichten, weißgespreiteten Bettes, das in die Mitte des Zimmers gerückt war. Dazwischen erhob sich ein hoher Kirchenleuchter, den Moritz herbeigeschafft hatte. ›Ons Wilhelmintje‹ konnte gerade über den Leuchter fortsehn. Kaum merklich flackerte eine geweihte Kerze im Zugwind, deren gelbliches Licht ein Totenantlitz beschien, friedlich, verklärt, ohne den Kampf des Todes, von jener Zuversicht beseelt, die über alle Erdennot triumphierte und zu sprechen schien: Vergebt mir; ich habe zwar nicht die Prüfung bestanden, aber was mir die Erde nicht geben konnte, das fand ich: ich habe vergessen.

Ja – er hatte vergessen und abgeschlossen mit allem, was ihm das Dasein zur Qual machen mußte . . . und die Leute, die etwas zu besorgen hatten, kamen und gingen wie in der Kirche; sie wollten die Ruhe nicht stören . . .s und so eng und schmal das Häuschen auch sein mochte, unter dessen Sparren der Verstorbene ruhte – für ihn war es ein majestätischer Tempel geworden mit mächtigen Säulenhallen und ragenden Pforten, und die größte von ihnen war aufgetan und öffnete sich immer weiter und weiter. Durch sie hindurch, nach heißem Kampf und langem Ringen, schritt die erlöste Seele in die ewige Freiheit. Er war mächtiger denn alle gewesen: Mors Imperator . . . und sein graues Bannertuch flog siegreich über das noch immer aufgewühlte und düstere Meer hin – weithin schattend und ewig gebietend . . .

Ums Dunkelwerden kam niemand mehr und ging niemand mehr. Was zu erledigen war, hatte seine Erledigung gefunden: der Schreiner wußte Bescheid, der Küster hatte Auftrag erhalten, der Prediger wollte ein übriges tun, und auf dem Friedhof hatte man eine Stätte gewählt, von der aus ein kundiges Auge die Düne zu erkennen vermochte, wo sich Lust und Leid die Hände gereicht hatten, und doch nur die Trauer übriggeblieben war, um heiße Tränen in den spärlichen Strandhafer zu weinen. Nein – es ging niemand mehr in das kleine Häuschen von Sankt Anne ter Muiden; aber die behäbige Madam aus Sluis stand mit sanftem Blinzeln und in ihrer großen Bänderfladuse auf der Hausschwelle und nickte und nickte – und dennoch kam jemand . . .

Die Bäume schwammen im Nebel; wie ein riesiger Schatten ragte der stumpfe Kirchturm gen Himmel. Herbstblumen und Sträucher waren in Naß getaucht, die Dohlenvögel hatten niedrigen Flug; wie langsame, schwerfällige Gedanken, matt und flügellahm flogen sie über die jämmerliche Erde, die weinen wollte und doch nicht zu weinen vermochte . . . und alle ruderten gegen das Meer an, gegen das finstere, ewige Meer an, unter sich den schwimmenden Nebel und das Elend der Menschen.

Die dicke Person bewegte sich nicht von der Stelle. Es war noch nicht völlig dunkel geworden. Auf der herabgelassenen Gardine ruhte ein matter Reflex, der von der Sterbekerze herrührte, die immer heller wurde, je länger sie brannte, die über das Antlitz des Abgeschiedenen hinwegsah, als müsse sie seiner Seele leuchten und sie geleiten in das Land der Verheißung. Strahlte das Licht nicht auf, wuchs es nicht ins Riesenhafte, ins Unendliche, wurde es nicht zur leuchtenden Flamme, suchte es nicht, wie der ewige Glaube, Himmel und Erde zu einen . . .? – und schien aus ihm nicht eine Stimme zu tönen, die da lautete: Wer kein Erbarmen kennt, der hat selber niemals gelitten! – und zog es nicht mit unwiderstehlicher Gewalt ein schlagendes Herz immer näher und näher, um es zu einem andern zu führen, das so verlassen und einsam war wie das des großen Dulders auf dem Kalvarienberge . . .? – Die Sterbekerze war übermächtig geworden. Die Klingel an der Haustür gab einen Ton von sich. Im Flur regte sich nichts. Niemand kam und ging – und dennoch kam jemand . . .

Sie war von Brügge gekommen – allein; niemand war bei ihr.

Die dicke Myfrouw drehte den Kopf, als sie die unbekannten Schritte hörte – und nickte und nickte. Ihr Blick überflog die Verspätete, die, ihrer Haltung und der vornehmen Gestalt nach, nicht nach Sankt Anne gehörte. Über Haar und Gesicht hatte sie einen schwarzen Spitzenschleier geworfen. Als sie an der Lichtjungfer vorbeikam, strich sie mit beiden Händen langsam an ihrem Kleide herunter. Ohne sich weiter um die Erstaunte zu kümmern, trat sie über die Schwelle und schritt der Zimmertür zu, die sie, ohne Klopfen, sacht in ihren Angeln bewegte, wußte sie doch, daß sie hier willkommen war und niemand sie zurückweisen würde.

Ein intensiver Duft nach Wachs und frischen Blumen drang ihr entgegen.

Anna van Dornick trat ins Sterbezimmer, groß und gefaßt und mit einer grausamen Härte auf den scharfgemeißelten Zügen – eine grausame Härte, die mehr erzählte denn alles, was Tränen hatte und Zeugnis ablegen konnte. Das wahre, gigantische Unglück kennt keine sanften Übergänge. Es verachtet sie, es weist sie von sich. Was die innersten Tiefen bewegt und aufwühlt, schlägt es mit wuchtigem Hammer und unerbittlichem Meißel in die Menschengesichter hinein, unbekümmert darum, ob sich die Welt darüber entsetzt, gleichsam vor ein Rätsel gestellt – hart und unerforschlich, an dessen Lösung ihre Verstandeskräfte zerschellen. Und Anna van Dornick trat ins Sterbezimmer . . .

Noch einmal wandte sie sich, um die Türe geräuschlos ins Schloß fallen zu lassen. Dann ging sie über Kalmus und zerschnittenen Buchsbaum.

Da lag er, fast unverändert, zwischen den Kissen, die Hände bleich und wächsern und auf einer übergespreiteten Decke gefaltet. Nichts Fremdartiges haftete ihm an. Der Tod war barmherzig gewesen. Eine herbe Geringschätzung des Daseins hatte sich um seine Mundwinkel gegraben, jene Geringschätzung, die alles auf eine Karte setzte – nichts oder alles, und dennoch: in seinen Zügen lag auch das furchtbare Geständnis, wie schwer es ihm geworden war, vom Irdischen und seiner Liebe zu scheiden. Das Licht der Wachskerze, das mild über ihn fortglitt, weckte die kalten Lippen zu einem scheinbaren Leben. Umkleideten sie sich nicht mit einer spielenden Röte? Schienen sie sich nicht leise zu öffnen? Sprachen sie nicht? Ja – sie sprachen; sie hörte es deutlich.

»Anna-Maria,« sagten sie heimlich, »hast du nicht ein sündiges Spiel mit mir getrieben? – Was willst du jetzt hier? – Anna-Maria, ich habe um deine Liebe gebettelt wie ein Hungriger um ein Stück Brot und wollte Trost bei dir suchen – aber du hast mich von dir gestoßen. – Anna-Maria, ich habe nach dir geschrien wie ein durstiges Tier in der Wüste – aber du hast nicht gehört, oder du wolltest nicht hören. Du hast mich einsam gemacht. Du ließest mich allein mit meinen trüben Gedanken. Was sollte ich in der Einsamkeit schaffen? Wohin sollte mein irrer Fuß gehn? Ich fand mir selber nicht Rat und mußte daher an meiner großen Liebe sterben. – Anna-Maria, ich liege jetzt hier um deinetwillen . . .«

Starr und entsetzt sah sie auf das Antlitz des Toten. Sie suchte ihm die Worte vom bleichen Munde zu lesen. Sie war vorwärts gewankt und hatte den Schleier zurückgeschlagen.

»Hans, sieh mich noch einmal an . . .« sagte sie fröstelnd.

Sie beugte sich vor . . . sie tastete nach den eisigen Händen . . .

Aber seine Augen blieben für immer geschlossen.

Da warf das gigantische Unglück Hammer und Meißel beiseite.

Es war kein Trugbild: da lag er . . .

Mit beiden Händen hatte sie die Pfosten des Bettes ergriffen und sich dann über den Toten geworfen.

Bis weit über die Nachbarschaft hinaus mußten sie den entsetzlichen Aufschrei hören . . .

Der dicken Myfrouw aus Sluis, die immer noch mit unterschlagenen Armen auf der Schwelle stand und in den Abend hinaussah, wollten die Knie versagen. Es lag ihr wie Blei in den Gliedern; allein sie hatte noch immer Kraft genug nach der stillen Kammer zu wanken, die plötzlich ihre Ruhe verloren hatte.

Da kamen Schritte von oben.

Gleich darauf sah sie sich einem ernsten Manne gegenüber.

Es war Heinrich vom Hövel.

»Es ist gut,« sagte dieser, hieß die behäbige Madam zu Wilhelmintje gehen, die ganz verstört in der Küche hantierte, und begab sich selbst zum abgeschiedenen Freunde.

Wilhelmintje hielt sich das arme Herz fest, als die Lichtjungfer so unerwartet erschien. Die wollte doch nicht schon wieder einen Schiedamer haben – so einen recht steifen mit ausgelassenem Zucker? – Als sie aber das entsetzte Gesicht sah, als sie des Aufschreis gedachte . . .

»Nu weiß ich's,« sagte sie bedrückt, »jetzt ist Fräulein van Dornick gekommen . . .« und da weinte sie still vor sich hin – und die Gardinen, auf denen das Licht der Wachskerze ruhte, wurden immer heller und heller – der Duft nach zerschnittenem Kalmus wurde immer stärker und stärker – der Schmerz saß auf den Fliesen des kleinen Häuschens und verhüllte sein Antlitz, und Jan Bottertje selber war so fassungslos, daß er nicht imstande war, Feuer zu schlagen. Mit der kalten Pfeife im Munde torkelte er von Zimmer zu Zimmer. In Sankt Anne aber wurde die Sterbeglocke geläutet; ihre Stimme bewegte alle, die des verstorbenen Mannes gedachten.

Wie Anna van Dornick gekommen war, so ging sie auch wieder: gefaßt, ohne jede sichtliche Erregung, völlig abgeklärt und befreit von allem, was sie noch kurz zuvor in selbstquälerischer Weise erduldet hatte. Ohren und Nasenflügel schimmerten durchsichtig. Ihr war nichts mehr geblieben. Alles zerfloß ihr unter den Händen wie rieselnder Dünensand, wie mit der hohlen Hand geschöpftes Wasser, aber ein verwunderter Blick ging in die Vergangenheit zurück und dann in die kommenden Tage. Sie schweifte nicht mehr vom Wege ab. Sie war einer Nachtwandlerin ähnlich, die trotz ihres traumhaften Zustandes nicht fehl ging. Die Zukunft hatte für sie ihre Schrecken verloren. Sie fürchtete nichts mehr: keine Fragen, keine Schwierigkeiten, keine Zweifel. Anna van Dornick wußte, was sie zu tun hatte. In stiller Ergebung pflückte sie am Straßenrain die Blumen tiefer Erkenntnis, die denen nur blühen, die nichts mehr zu sorgen und zu suchen haben.

Sie hatte ihn zum letzten Male gesehen.

Der schwarze Schleier bedeckte ihr Antlitz.

Heinrich vom Hövel führte sie.

Noch einmal warf sie einen feuchten Blick auf die erhellten Gardinen, hinter denen die Wachskerze brannte. Hierauf begab sie sich zu Bernadintje in ihre frühere Wohnung, wo sie die Nacht zu verbringen gedachte. Anderen Tages wollte sie wieder nach Brügge, um ihren klarsichtigen Geist zu betören und sich für immer den Kreppschleier über die Augen zu werfen. –

Ruhig ging die Nacht über die weiten Lande. Der Wind legte sich; die Müdigkeit wandelte schweren Fußes um die Häuser der Menschen. Ab und zu blinzelte am dunklen Himmel ein verlorenes Licht auf. Alle Feuerstellen schlossen die Augen. Kein Schein irrte mehr über die vereinsamten Straßen. Nur auf der Frontseite des Jan Bottertje'schen Anwesens standen zwei weiße Flecke. Dort lag der Thronsaal. Sie schwanden nicht und blieben bis zum hellichten Morgen.

Anna van Dornick warf sich angekleidet in einen Lehnstuhl. Wachen Sinnes verfolgte sie das heute Durchlebte. Sie war sich klar darüber, was ihr am Morgen begegnen würde. Sie machte sich kein Hehl daraus. Folgerichtig fügte sie Schake an Schake, bis die Kette ihrer Erwägungen geschlossen war und keine Lücke mehr aufwies.

So vergingen die Stunden.

Ein kleiner Vogel revierte ständig vor den erleuchteten Fenstern. Minutenlang ließ er seine klagende Stimme ertönen. Als würde er auf lindem Flaum getragen, so wiegte er sich. Ohne Aufhören schwebte er ab und zu. Als sich der tiefe Horizont mit bleichen Streifen gürtete, stellte er seine Flugkünste ein. Kalt und fröstelnd sah der Morgen ins Zimmer. Die Spatzen schilpten; mit klammen Fingern tastete sich das Licht über die Erde.

Gegen neun Uhr kam Klaartje, sah nach dem Rechten und ging dann wieder.

Anna van Dornick hatte nichts zu besorgen. Sie schlief mit offenen Augen wie eine, die die wirklichen Sinneseindrücke noch nicht verlieren konnte. Ihr Geist schwebte zwischen Wachen und Träumen. Dann sah sie auf ihre Hände. Das fahle Morgenlicht spielte darüber und weckte das bläuliche Netzwerk des feinen Geäders. Sie ruhte vornübergebeugt.

Plötzlich fuhr sie auf.

Sie war starr und ehern.

»Ich wußte, daß er kommen würde,« sagte sie mit eisigem Lächeln . . . und da trat auch schon Fritz Heiking ins Zimmer. Von innerer Unruhe getrieben, wollte er bereits gestern abend vorsprechen und sie mit sich führen. Er hatte sich aber anders besonnen und hoffte jetzt eine Umwandlung in ihr, eine Zärtlichkeit zu finden.

Er täuschte sich.

Sie stand unbeweglich; ihre Blicke trafen ihn, als erinnere sie sich nicht, ihn jemals gesehen zu haben.

Er wartete einen Augenblick, dann versuchte er, sie an sich zu ziehen.

Mit einer Gebärde des Hasses wies sie ihn von sich.

Da schien auch er zu begreifen. Die Umwandlung der Dinge packte ihn mit kalter Faust in den Nacken.

»Und du bist bei ihm gewesen . . .?« meinte er endlich, ohne zu wissen, wie er zu dieser Frage kam. Er entsetzte sich vor ihrer Ruhe, die wie eine Resignation bei der Betätigung des letzten Willens erschien.

Sie schaute ihn fest an.

»Ja – ich bin bei ihm gewesen.«

»Und du liebst ihn noch?«

Er war wie verstört. Das Blut hämmerte ihm gegen die Stirne. Die Schärfe in seinem Wesen wurde brüchig wie tönerne Scherben – und vor ihm das Weib in seiner herben, unfaßbaren Schönheit und der Größe im Herzen . . .

»Du weißt, was mich bewegt,« sagte sie mit einer Offenheit, die nichts mehr zu verheimlichen hatte. »In der verflossenen Nacht sah ich eine Perlenschnur vor mir. Es waren die aufgereihten Tränen, die er um mich geweint hatte. – Ich tat, was ich mußte. Ich drückte ihm die Augen zu, daß er meine Liebe noch fühle . . .«

»Und jetzt . . .?!

In ihm schrie etwas auf, als müsse er Hand an sie legen.

»Was meinst du damit?«

Ihre Blicke gingen über ihn fort und verloren sich ziellos ins Weite. Ein unsagbarer Schmerz zog ihre Lider in die Länge. Dann erstarrte sie wieder. Der Gedanke an den Tod hatte sie ergriffen.

»Du glaubst doch nicht . . .« sagte sie endlich, ohne den Gedanken auszuführen. Auch ihre Stimme klang wie erstickt, wie abgebrochen, wie von einem heimlichen Grauen durchzittert.

»Ja,« stieß er rauh hervor, »daß wir zusammen gehören.«

Sie schüttelte leise den Kopf.

»Nein – du, seit gestern nicht mehr. Das ist anders geworden, seit gestern abend anders geworden. Höre mich ruhig an. Was ich jetzt sage und tue, das sage und tue ich mit voller Klarheit und vollem Bewußtsein.«

Sie verschränkte die Hände. Ein Bangen ging über sie hin; dann stand sie wieder vor ihm in ihrer unnahbaren Hoheit und Würde.

»Du weißt es ja selber,« fuhr sie unbeirrt fort, »unsere Seelen sind schon längst auseinandergerissen – und waren es seit dem Augenblick, wo ich erkannte und sehend wurde, wo eine innere Stimme mir sagte, wem ich eigentlich gehörte. Das warst du nicht. Der es war, ist still und ruhig geworden und kennt das Vergessen. – Ich liebte dich, als wir in der Sünde waren, als mir das Selbstvertrauen fehlte, und die Würde des Weibes in mir das Antlitz verhüllte. – Ich liebte dich nicht mehr, als die reine, selbstlose, aufopfernde Liebe kam, bei mir anpochte und sagte: Tu auf, tu auf, tu auf! – und ihr ward aufgetan. Ich hatte kein Recht dazu, das weiß ich, denn ich war dir verpflichtet, wenn auch sündig verpflichtet . . . und du hattest den traurigen Mut, diese meine Verpflichtung bis auf den letzten Heller, und zwar unter Anrufung deines armen Weibes, zu fordern. Ich tat es und löste mein Wort ein – und das ist mein und des Verstorbenen Schicksal gewesen. Unbarmherzig ging es über uns fort und trat uns zu Boden. – Jetzt aber« – und über ihr Gesicht legte sich ein Leuchten, als wenn ein inneres Licht aus ihr bräche – »der Tod steht zwischen uns und zerreißt meine Verpflichtung dir gegenüber wie ein Stück Papier, das seines Wertes beraubt ist. Es ist nichtig geworden. Der Tod gleicht den Tod aus – und die Abgeschiedene hat ihre Sühne gefunden. Das trennt uns. – Ich habe mich damit abgefunden vor Gott und meinem Gewissen und denen, die unseretwegen dahingegangen sind. – Das war's, was ich dir zu sagen hatte. Alles Schmerzgefühl ist mir genommen. Nichts bedrängt mich. Ich bin keinem mehr Rechenschaft schuldig; auch dir nicht. Lebe wohl, denn du siehst mich nicht wieder . . .«

Ungebeugt verließ sie das Zimmer.

Er wollte ihr folgen; aber er sah nur noch ihren flüchtigen Schatten. Da erkannte er, daß alles umsonst war. Er hatte nichts mehr zu hoffen.

Er stieß einen Fluch aus und ging und biß die Zähne zusammen. Ein Blutstropfen lag auf seinen fahlen Lippen.

Bald darauf kam Heinrich vom Hövel. –

Er aber, der Gebieter jenseit der Dünen, war mächtiger denn alle gewesen: Mors Imperator . . . und sein graues Bannertuch wehte über die Heyster Bucht und das Meer hin, weithin schattend und ewig gebietend, siegreich und herrisch und doch für viele ein Zeichen des allbarmherzigen Gottes.

 


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