Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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VI

In dem Jan Bottertje'schen Anwesen lag rechts von der Flurtür der Spezereiwarenladen mit Theke, Anrichte und den übrigen Utensilien, links davon ein geräumiges Zimmer, proper wie ein blankgeputztes Kastemännchen, mit verschnörkelten Sandfiguren auf den gescheuerten Dielen und einem vlämischen Kamin, auf dessen Kacheln sich die Motive immer wiederholten: eine Mühle in weiter Ebene, ein Kanal, auf welchem ein Schiff lag, ein Reiter, der gemächlich durch eine stilisierte Landschaft trabte, dann wieder der Reiter, der Kanal und die einsame Windmühle, alles Blau in Blau gemalt und mit einer weißlichen, schon etwas rissigen Glasur überzogen. Auf der Kammplatte stand ein messingner Käfig, ein wahres Prachtstück seiner Art, mit Schellchen und Glöckchen verziert, in welchem ein Kanarienvogel saß, der, obgleich er von Porzellanmasse war, dennoch tagtäglich von Wilhelmintje mit frischen Rübsen und Wasser versorgt wurde, jeden zweiten Tag eine neue Lage Streusand erhielt und von ihr angepfiffen, versorgt und geliebkost wurde, als wäre es ein wirklich lebender Kanarienvogel. Für Sankt Anne war dieses Zimmer etwas Außergewöhnliches, etwus Niedagewesenes. Jan Bottertje nannte es ›Thronsaal‹, aber nicht etwa des porzellanenen Kanarienvogels, der feinen Gardinen und der zierlich geflochtenen Strohmatten halber, sondern des großen Öldruckbildes wegen, das im breiten Goldrahmen über dem Binsensofa hing und ›Ons Wilhelmintje‹ in vollem Krönungsornat darstellte. ›Ons Wilhelmintje‹ lächelte aus dem Bilde heraus. Sie lächelte wie ein holländisch Meisje, wie ein Rosenknöspchen, das eben aufbrechen wollte, wie etwa die Veilchen mit ihren blauen Äugelchen lächeln, wenn sie an den verschwiegenen Parkwegen von ›Het Loo‹ erwachen. Dabei stand sie aber so kerzengerade und stramm da wie die schönste Tulpe auf einem prächtigen Beete in Haarlem. In ihrem blonden Haar ruhte ein goldenes Krönchen. Mit der linken Hand hielt sie einen Zipfel ihres Hermelinmantels, mit der anderen das Zepter gefaßt, und rechts in der Ecke erhob sich der niederländische Leu, der die rote Zunge vorstreckte und den geklingelten Schwanz energisch in die Höhe schob. Darunter stand die Devise: ›God zy met ons.‹ ›Ons Wilhelmintje‹ vereinigte auf diesem Bilde Güte und Feierlichkeit, Rosenknöspchen und Tulpe, Menschliches und Königliches – sie repräsentierte.

Madam Bottertje, geborene Oemmertje-Donselaer, benutzte diesen Thronsaal nur in Ausnahmefällen, und zwar: erstens an allen Sonn- und Feiertagen, zweitens, wenn sie ihre Teestunde hatte, das Mädchen das kupferne Stoofje mit dem glühenden Torfmull auf den Tisch stellte und den Kessel mit kochendem Wasser darüber placierte, und schließlich, wenn sie die Honoratioren zum Besuch erwartete, das heißt, wenn ihre Schwester vorsprach, denn außer Bernadintje gab es für sie keine anderen Honoratioren in Sankt Anne ter Muiden.

Heute, so um die Schummerstunde herum, trafen die letzten Voraussetzungen ein: Besuch und Teestunde fielen an diesem Tag zusammen, und so saßen denn die beiden Schwestern im Thronsaal, gerade unter dem Bild von ›Ons Wilhelmintje‹, strickten an großen, wollenen Strümpfen und hörten zu, wie der Teekessel über dem Stoofje immer lustiger wurde, mit dem Deckel klapperte und langatmige Geschichten aus der zierlichen Tülle herausdrehte.

Die beiden Fenster des Thronsaals, die auf die Straße sahen, standen geöffnet. Die bunten Stockrosen des schmalen Vorgärtchens grüßten ins Zimmer und hoben sich apart vom Abendhimmel ab, der, obgleich noch völlig entschleiert, schon das geheimnisvolle Ahnen der kommenden Dunkelheit ausströmte.

Die gemütliche Sitzung hatte sich über Gebühr in die Länge gezogen, aber das machte, weil Bernadintje unter allen Umständen dabei sein wollte, wenn Wilhelmintje ihrem neuen Mieter die Ehre erwies und ihn die Treppe hinaufkomplimentierte, und so war denn aus der ursprünglichen Teestunde eine pläsierliche Wartezeit geworden, die den Gedankenaustausch der beiden Bottertjes so recht intensiv und mollig gestaltete.

Sie saßen wie angeleimt. Nur wenn nebenan die Klingel im Laden laut wurde, erhob sich Wilhelmintje, ging hinter die Theke, verabfolgte ihren Kunden die verlangte Portion an Kandiszucker, Nudeln und Kaneelsborke und begab sich dann wieder in den Thronsaal und unter den Schutz von ›Ons Wilhelmintje‹. Als sie zum fünftenmal dieses Manöver ausführte, rutschte ihre um zwei Stunden elf Minuten jüngere Zwillingsschwester unruhig auf den Binsen herum, sah zum Fenster hinaus und warf dann so verloren über den Tisch fort: »Nu könnten sie kommen.«

»As't üh belieft, Bernadintje?«

»Ich meine, daß sie nu kommen könnten.«

»Meine ich auch, denn der Tram muß nu da sein – und ich freue mir sehr auf die beiden.«

»Ich auch,« sagte Bernadintje, »gerade so wie auf meinen Domine in Brügge. Aber,« setzte sie neugierig hinzu, »was er wohl für einer ist?«

»Wer denn?«

»Nu, ich meine: der Schriftgelehrte aus Deutschland?«

»Nobel,« war die kategorische Antwort.

»Wieso?«

»Weil ihn Mynheer vom Hövel rekommandiert hat,« sagte Wilhelmintje und arbeitete dabei ihre Stricknadeln energisch gegeneinander.

»Ja, der!« kam es langgezogen und süßlich zurück, etwa so, als wenn einer Katzengold um die Finger spinnt, »aber Mynheer Dütz-Josum gehört doch auch in dieselbige Freundschaft, und ich kann nicht gerade behaupten . . .«

»Exküsiert, Bernadintje,« fiel ihr die ältere Schwester ins Wort. »Ein gut ausgemistet Ferkel – ja, aber 'nen Menschen kann man nicht nach seinen äußeren Kulören taxieren. Da gibt es welche, die auf das erste Gesicht hin weiß und pläsierlich erscheinen und doch 'ne schwarze Seele besitzen. Zum Beispiel . . . Ich will keine Namens nennen, aber er heißt Vasilius und veramüsiert sich . . .«

»O, o, o!« seufzte Bernadintje. Ihre Augen feuchteten sich und sahen traurig in die Vergangenheit zurück.

»So 'n Windhund,« sagte sie giftig.

»Exküsiert, Bernadintje – wohingegen die andern schwarz und unförmlich erscheinen und dennoch schneeweiß sind und die unschuldvollsten Engels bedeuten – und so ein unschuldsvoller Engel . . . Bernadintje, da kommt er.«

»Wer denn?«

Aber nicht Moritz Dütz-Josum, wie zu erwarten stand, sondern Jan Bottertje gab sich die Ehre. Angeheitert trat er ins Zimmer: fidel, die Mütze schief auf dem Polkakopf, überhaupt nicht wiederzuerkennen, und setzte des längeren auseinander, daß Tram und Gepäck inzwischen eingetroffen seien, und er bereits Order gegeben habe, letzteres auf die vermietete Stube zu bringen.

»Und Mynheer vom Hövel?« fragte Wilhelmintje.

»Noch nicht da.«

»Und der rekommandierte Mynheer?«

»Desgleichigen dito nicht da.«

»Aber – Jan . . .!« rief Madam Bottertje enttäuscht aus und schien wie vor den Kopf geschlagen.

Bernadintje, die bei der Ankunft ihres Schwagers wie ein, Stehaufmännchen hochschnellte, hatte bei dieser Nachricht keineswegs die Fassung verloren.

»Dann warten wir einfach,« sagte sie kurz angebunden, schob in aller Gemütsruhe ihre hintere Portion in die Binsen zurück und setzte sich wieder, wohingegen ihre Schwester noch immer mit einem Gesicht dastand, als müsse sie hilflos zusehn, wie sich die Schweine von ganz Sankt Anne ter Muiden in ihrer besten Kappesplantage herumsielten.

Jan machte eine pompöse Bewegung.

»Nur keine Mouvements, Wilhelmintje,« sagte er mit lustigen Augelchen, »die fahren per Landachs',« aber das Gesagte kam mit einem so konfusen Zungenschlag zum Vorschein, daß die beiden Frauen unwillkürlich aufsahen und Jan etwas genauer unter Beaugenscheinigung nahmen.

Frau Votterje schlug die Hände zusammen.

»Aber – Jan . . .!« rief sie noch einmal.

»Aber – Jan . . .!« echote Bernadintje von ihren Binsen herunter.

»Du hast drei Genever getrunken,« konstatierte Wilhelmintje, und ihre goldenen Ohrgehänge kamen in eine nervöse Erregung.

Ihre Zwillingsschwester war derselben Meinung.

»Natürlich! – er hat drei Genever getrunken.«

»Hab' ich,« gab Jan zurück, »und zur Feier des Tages werde ich mir den vierten genehmigen,« und damit verließ er den Thronsaal, begab sich hinter die Ladentheke, wo diverse Schnäpse in langhalsigen Flaschen standen und langte sich die Geneverbouteille von der Anrichte herunter.

»O Gott, o Gott!« stöhnte Madam Bottertje auf, »jetzt sollst du sehn, Bernadintje – nu kommt die alte Geschichte, nu ist er wieder der verdammte Admiral de Ruyter geworden.«

In stiller Ergebung legte sie die Hände zusammen.

Mittlerweile war es so schummerig geworden, daß das Stoofje schon einen schwachen Schein über den Tisch warf.

»Wollen man Licht anmachen,« sagte Bernadintje, erhob sich, setzte die altmodische Moderateurlampe in Brand und stülpte einen japanischen Schirm darüber. Und da lief so ein warmer Schein auf die Straße hinaus, daß die Malvenstöcke ordentlich aufleuchteten; hierauf machte er sich's auch in der Stube bequem und umspielte ›Ons Wilhelmintje‹ und das Schwesternpaar, das jetzt in selbstquälerischer Erwartung dasaß, ob Jan den Thronsaal wohl in seiner Eigenschaft als Admiral de Ruyter beehren würde.

Den vierten Genever hatte er soeben hinter seine Velvetweste gegossen – und trotzdem: Jan Bottertje hatte nichts mit einem professionellen Trinker gemein. Er war von dieser niedrigen Leidenschaft soweit entfernt wie Amalie, Sophie und Doortje von einem unreellen Verhältnis. Jan war ein tüchtiger Schweinezüchter, ein viver Ehemann, ein pfiffiger Spezereiwarenhändler – aber kein Trinker. Allerhöchstens gönnte er sich ein Deputat von vier Schnäpsen an ein und demselben Tage, aber auch dann nur, wenn er mit sich zufrieden war und ein Geschäft abgewickelt hatte, das sich sehen lassen konnte. Das traf jetzt ein. Auf dem Schweinemarkt im benachbarten Sluis konnte er im Verlaufe des heutigen Nachmittags einen Profit von dreizehn Gulden in die Tasche stecken, was ihn so amüsierte, daß er von seiner gewohnten Enthaltsamkeit abließ und etliche Genever interpolierte. Aber wie das so in der Natur begründet liegt, sobald einer Dinge betreibt, die nicht in seinen Lebenszirkel hineinpassen, wird er auf einen Grund und Boden geworfen, der ihm unbekannt ist und ihn mit fremden Augen ansieht. So auch bei Jan. Je nach der Anzahl der ungewohnten Gläschen, die er sich leistete, hatte er auch hinsichtlich seines äußeren und inneren Menschen Wandlungen durchzumachen, die genau die Anzahl der genossenen Schnäpse repräsentierten. Beim ersten Gläschen verlor er seine unerschütterliche Resignation und Pomade. Beim zweiten neigte er zu einer Art väterlicher Melancholie. Seine verwässerten Fischaugen gewannen an Glanz – ein Stadium, welches in ihm die ganze Menschenfreundlichkeit und geberische Würde eines Friedensapostels entwickelte. Beim dritten wurde er fidel und patriotisch. Die übrige Welt war ihm wurschtig. Beim vierten und letzten Gläschen schlug er wie ein Pferd über die Stränge. Dann wurde er noch übermütiger und bekam es mit der richtigen Forsche zu tun, denn beim vierten Genever dachte er an seine Militärzeit zurück, die er auf einem alten, braven holländischen Orlogschiff abgedient hatte. Gottverdomie noch mal! – das war doch 'ne große Sache gewesen, wie er so als Matrose im Tauwerk herumkletterte, das erste Kommando ertönte, und – bumbum! – die ehrlichen, eisernen Brummers mal so 'n bißchen das Maul aufrissen. Gottverdomie noch mal! – und dann mußte er, wenn das Schiff so unter fünfundvierzig Grad hin und her balancierte und See auf See schwer überkam, in die Rahen hinein, um so 'n flattriges, fahriges Segel vor Sturm und Wetter beizulegen – und dann: ja dann kam er wieder herunter, und der Kapitän stand stramm und kurzbeinig vor ihm, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: Gut gemacht, Jan, brav so, Jan, Jan, ›en Snuifje‹ gefällig?! – und dabei bäumte das Schiff in mächtiger Dünung, und die alten Brummers taten wieder das Maul auf und riefen: Bum, bum, bum! – Ne, da ging das nicht andes: er war höllisch begeistert, und in dieser Begeisterung avancierte er sich selber durch alle militärischen Grade bis zur Stellung eines Admirals hindurch, und, da er einen besonderen Respekt für die alten Seehelden und speziell für den bärbeißigen de Ruyter hatte, glaubte er sich identisch mit ihm, steuerte im Geiste auf die Kommandobrücke los und kommandierte schlankweg: Tops hoch! – Bum, bum, bum! – es lebe de Ruynter! und das alles nach dem vierten Genever. – Und Jan hatte den vierten getrunken, schob die Mütze forsch in den Nacken, steuerte hinter der Theke herum, nahm Kurs auf den Thronsaal, marschierte als Admiral Michiel Adrianszoon de Ruyter direktemang auf die staats aufgetakelten Fregatten Wilhelmintje und Bernadintje Bottertje los und meinte: »Gottverdomie noch mal! – daß ich's nur sage . . .«

»Na, was denn?« fragte Bernadintje und begegnete ihrem Schwager mit lustigen Äugelchen.

»Um Gott nicht!« fuhr Wilhelmintje dazwischen, »der Mannskerl ist ja wieder rein aus dem Leimpott. Ich sagte es ja – der olle Genever . . .

»Woso?!« fragte Jan, »wo ich hier als Admiral de Ruyter den Thronsaal beehre? Der geht immer aufs Ganze und macht nicht lange dämliche Mouvements. Denn was so'n richtiger Seeheld bedeutet, hat neben der Kurasch noch'ne verschreckliche Liebe im Herzen, und daher: komm her, Wilhelmintje!«

Er hielt die Arme gebreitet und machte klar zum Gefecht, segelte dabei aber auf seine Schwägerin zu, was ihm auch nicht weiter zu verübeln war, da sich die beiden Frauen ähnelten wie ein Ei dem andern, wie eine Erbse der anderen Erbse, bekam sie im Griff und drückte sie an seine stolze Admiralsbrust, daß sie glaubte, Hören und Sehen verlieren zu müssen.

»Du irrst dir, du irrst dir!« wehrte sie ab.

»Woso?« fragte Jan.

»Ich bin ja gar nicht Wilhelmintje! – Ich bin ja dem verfluchten Basilius – dem Schweinemarkör – dem infamen Balbierer . . .

»Auch egal!« dekretierte Jan im Vollgefühl seiner angemaßten Würde, »denn wer wie ich als seebefahrener Mann in India und bei die Türkens Anker geworfen hat, der darf sich auch 'nen Harlem zulegen und zwei Frauens besitzen.«

Nu aber Wilhelmintje . . .!

Ihr Auge gab Feuer wie eine Brandrakete, wenn ein steifer Sturm hinter ihr herläuft.

»Du Buttermilchskerl . . .! – Du Ferkel-Jonkheer . . .

Mit klingelnden Ohrgehängen war sie vor ihn getreten.

»Jan, hast du denn keine Schanierlichkeit gar nicht? Was willst du überhaupt hier anstellen, du schwarzlackierter Pascha von Kochinchina und Konstantinopel? – 'nen richtigen Harlem will sich das Mannsmensch zulegen! – Aber warte, mein Junge, ich werde dir schon den Admiral de Ruyter austreiben.«

Mit einem Ruck setzte sie beide Hände in ihre stämmigen Hüften.

»Hier stehe ich,« sagte sie giftig, »und die da steht, ist meine leibhaftige und eingeborene Schwester. Außerdem werde ich's Mynheer vom Hövel noch stechen, und wenn du noch einmal . . . Verstanden, du Mehlfaß?«

Ja, er hatte verstanden, Jan Bottertje hatte mehr wie verstanden. Stückweise fielen ihm sämtliche Insignien eines holländischen Admirals vom Leibe herunter. Der piekfeine Frack, die goldbesetzten Hosen, die Epauletts, das Seeperspektiv – alles lag kunterbunt auf den blankgescheuerten Dielen. Ihm blieb nichts weiter übrig, als die Flagge vom Großtopp niederzulassen und von der Kommandobrücke zu steigen. Nur den Admiralshut fühlte er noch in Gestalt einer seidenen Schirmmütze auf dem verbaselten Kopfe.

Auch der mußte herunter.

»'runter mit ihm!« sagte Jan, packte ihn und schleuderte ihn in die nächste Ecke hinein.

Mit dem Ablegen des Hutes war auch der Einfluß des vierten Genevers verschwunden. Von dem ganzen Admiral Michiel Adrianszoon de Ruyter, geboren zu Vlissingen, gestorben in Syrakus nach einem Seetreffen bei Messina, war auch nicht ein Hosenknopf übrig geblieben – nichts, reineweg gar nichts. Der innere und äußere Zustand Jan Bottertjes rückte ein Stadium tiefer. Er gelangte in die dritte Position – in den Zustand also, der durch den Genuß von nur drei Schnäpsen bedingt war. Schritt für Schritt wich er zurück, retirierte, seine noch immer erregte Frau nicht außer acht lassend, bis an das geöffnete Fenster, lehnte seine hintere Breitseite dort an und richtete die Blicke stramm auf ›Ons Wilhelmintje‹, die von dem Reflex des japanischen Lampenschirms wie von einem rosigen Heiligenschein umgeben war. Jan war patriotisch geworden.

»Ons Wilhelmintje!« sagte er mit glücklichen Augen. »Ach, ons lief Wilhelmintje!«

»Das ist denn eine andere Sache,« konstatierte Madam Bottertje, setzte sich wieder und ließ ihren Unmut unter den Tisch fallen.

»Hier steh' ich als Staatsbürger von Sankt Anne ter Muiden,« schwadronierte Jan in seiner patriotischen Begeisterung weiter, »und keine menschliche Seele, nur ons lief Wilhelmintje hat uns hier zu kommandieren – selbst nicht de Koning van Preußen. Und wenn de Koning van Preußen sich mausig machen tun täte, wir machten mobil mit die Schutterij, klabasterten auf die Paardjes und sängen durch ganz Holland, von Sankt Anne bis nach Amsterdam und bis an den Nordpol.«

Und dann legte Jan Bottertje los – aber feste:

»Zy zullen hem niet temmen,
Den fieren vlaemschen leeuw,
Al dreigen zy zyn vryheid
Mit kluisters en geschreeuw.
Zy zullen hem niet temmen,
Zoo lang een Vlaming leeft,
Zoo lang de leeuw kan klauwen,
Zoo lang by tanden heeft.«

Donnerwetter noch mal! – das packte. Wilhelmintje und Bernadintje stimmten begeistert mit ein. ›Ons Wilhelmintie‹ lächelte aus dem Bilde heraus, bekam das goldene Zepter fester im Griff, selbst der porzellanene Kanarienvogel hätte vor Freude mitgesungen, wenn er's gekonnt hätte, als nun der Refrain des Liedes dreistimmig und mit allen Schikanen durch den Thronsaal und von hier aus in den schönen, feierlichen Sommerabend hinaustönte:

»Zy zullen hem niet temmen,
Zoo lang een Vlaming leeft,
Zoo lang de leeuw kan klauwen,
Zoo lang hy tanden . . .«

Da war's alle. Die Zunge verstummte plötzlich. Die beiden Frauen fuhren in die Höhe und schrieen entsetzt auf, als sei jeder von ihnen eine Stecknadel durch die Sitzgelegenheit geschoben worden. Jan Bottertje selber, der forsche, patriotische Jan Bottertje klappte zusammen wie ein vollgestopfter Getreidesack, dem das Korn aus allen Nähten herausläuft. Er schrumpfte wieder zu dem ganz gewöhnlichen Jan, zu dem Spezereiwarenhändler, dem Balbierer und Ferkel-Jonkheer zusammen, er war wieder der alte Jan mit dem aalglatten Kabeljaugesicht und den fischigen Augen geworden, nur noch mit einer gehörigen Portion Angstschweiß angerührt, der aus allen Löchern seiner Velvetweste herauswollte. Das Postpapierartige und Pomadige in seiner Veranlagung war mitten durchgerissen, weil eine grobharte und teerige Hand . . .

Herr Gott, was für 'ne Hand denn?!

Das war es ja eben! – eine grobharte und teerige Hand hatte sich ihm plötzlich von draußen her auf die Schulter gelegt, denn hinter ihm, mitten im Fensterrahmen, stand ein verwittertes, borkenrissiges Gesicht, das zu einem Menschen gehörte, der über Manneshöhe reichte und auf seinen langen Ständern wie ein Matrose wiewackte. Und er war ein Matrose, der runde, blaue Augen hatte, aber verblaßte, genau so verblaßte, wie sie die Vergißmeinnicht haben, wenn sie im Schatten eines Teichrandes wachsen – und dieser Mensch streckte seine schwieligen Hände ins Zimmer und sagte: »Wie ist das aber jetzt mit die Lichters?«

»Pottdorie!« atmete Jan auf, »einen so in die Benautheit zu sagen. Diese Mouvements! – da kann ja unsereiner dran sterben.«

»Das kann man,« bestätigte Wilhelmintje. »Aber was soll das nu wieder?«

»Je, Madam Bottertje,« fragte die ruhige Stimme von eben, »wie ist denn das mit die Lichters?«

»Mit was für Lichters?«

»Heute ist doch der fünfzehnte Juli.«

»Stimmt.«

»Da kommt doch der neue Inwohner.«

»Stimmt.«

»Da haben wir doch sonst ›Verlichtung‹ gemacht, wenn so einer ankam – fünfzehn Seelenlichters auf fünfzehn Bouteillen, denn heute ist der fünfzehnte Juli, Madam Bottertje.«

»Wie kann einer so dumm sein und so was im Koppe nicht haben!« freute sich Wilhelmintje. »Richtig! – das war's ja, wo ich immer dran denken wollte, aber Jan mit seinem dämlichen Admiral de Ruyter . . . Richtig: fünfzehn Seelenlichters auf fünfzehn Bouteillen . . .

»Und ich stecke fünfundzwanzig auf, wenn mein Domine ankommt,« warf Bernadintje dazwischen.

»Aber dicke, fette Talgkerzen, wenn ich bitten darf,« ließ sich plötzlich eine Meckerstimme vernehmen, »das lieb' ich noch von meiner Rattenzeit her, denn die infamigen Biester . . .«

Neben dem borkenrissigen Gesicht türmte sich unerwartet ein grotesker Zylinder im Fensterrahmen auf.

»Herrje!« rief Wilhelmintje und schlug verwundert die Hände zusammen, »Mynheer Dütz-Josum . . .! – Mynheer, Sie wollen wohl auch den deutschen Schriftgelehrten . . .

»Natürlich.«

»Dann vorwärts!« dekretierte Madam Bottertje, und alle drei verließen den Thronsaal, um das Nötige für den Empfang und die Illumination vorzubereiten – Wilhelmintje zuletzt und in gehobener Stimmung. Sie hatte den unliebsamen Auftritt von eben ganz vergessen, und ihre noch vor kurzem so aufgeregten Ohrgehänge gerieten in ein liebliches Klingeln, etwa so, wie es ausgereifte Haferähren an sich haben, wenn sie ihre glasharten, spitzen Glöckchen auf- und niederbewegen, und ein laulicher, sanfter Abendwind über sie fortgeht. Sie klingelten im Flur und um die Theke herum, und dann ließen sie ihr harmonisches Klingeln draußen vernehmen.

»So ist's gut,« sagte der lange Matrose, der Mensch mit dem Harmonikagesicht, auf dem hartes Salzwasser und Sturm und bittere Kälte ihre Spuren gelassen hatten, »fünfzehn Lichters auf fünfzehn Bouteillen . . .! – Nu kann ich wohl gehn?«

Bedächtig steckte er sich ein frisches Priemchen hinter die Backe, schob die Hände in die soliden Hosen hinein und ging dann mit sich und seinen Gedanken in die ruhige Landschaft. Er stakelte dem Meer zu; in tiefen Atemzügen schluckte er den kräftigen Seewind, der etwas von Südwest herkam. Über den fernen Dünen lag ein Stück Wolke, das mit einem Menschenkopf Ähnlichkeit hatte. Zwei gelbliche, schräggezogene Flecke standen darin, aus denen ab und zu ein hämisches Leuchten aufbegehrte.

»Das kommt nicht herüber,« sagte der lange Mensch, »das steht, wo es steht und konkurriert nicht mit die fünfzehn Seelenlichters auf die fünfzehn Bouteillen.«

Mit großen Schritten ging er des Weges, über ihm blinzelten die ersten Sternchen wie goldene Fliegen am Himmel. – – – – – – – – – – –

»Du,« sagte Heinrich vom Hövel, »genau da, wo soeben das matte Licht stand, liegt Sankt Anne ter Muiden.«

Er ließ sich zurückfallen und machte sich's wieder bequem in den Wagenkissen.

Wortlos saßen sie jetzt nebeneinander, aber sie fühlten, daß die Schwingungen des Abends sie mit weichen, sammetartigen Fingerspitzen berührten. Es war wie das Büscheln einer magnetischen Kraft, wie eine feine Ausstrahlung, unter deren Einfluß sie sich befanden und wechselseitig, ohne zu sprechen, ihre Gedanken errieten. So waren sie durch Damme und in Höhe von Oostkerke gekommen. Aus dem Nebel der Wiesen und Roggenfelder hob sich der Mond auf. Leise wogten die Halme gegen ihn an; seine Strahlen trippelten noch ungewiß über das Gewirr von Myriaden säuselnder Spelze und Ähren. Kaum zu verfolgen, ohne Übergang wuchs der Abend in die Nacht hinein. Es war eine jener seltsamen Sommernächte, die voller Gegensätze sind. Sie war dunkel und doch von jener Helle durchgeistert, die alle Gegenstände mit scharfen Linien umzieht, sie war schweigsam wie der Tod, und dennoch lebten ungezählte Stimmen und Stimmchen in ihr, jene Stimmen, die Luft und Erde bewohnen, die ein Geräusch und doch kein Geräusch sind, die nur die Seele vernimmt, und die dann verzittern, als würden sie von unsichtbaren Schwingen weiter getragen. Es war eine jener seltsamen Nächte, die mit sanfter Hand über die Stirne gleiten, trösten und Vergessen bringen, um dann wieder die Saiten einer schmerzlichen Sehnsucht in ein lautes, nachhaltiges Tönen zu bringen. Sie war rätselhaft, unerforschlich und doch wie ein Kind, dessen Innenleben keine Rätsel aufgibt. Sie schien eine Bettlerin zu sein; trotzdem spendete sie unermüdlich und mit seligen Händen.

Hans Vehrend hatte sichtlich unter diesen Gegensätzen zu leiden. Unvermittelt drängten sich einzelne Begebenheiten und Erinnerungen nebeneinander – eine Gedankenflucht, der er nicht Herr werden konnte.

»Hast du Nachricht von ihm?« fragte er plötzlich.

»Wen meinst du?«

»Nun – den Menschen . . .« kam es bitter zurück.

»Er spielt eine Rolle,« versetzte Heinrich vom Hövel nach einigem Zögern.

»Und du bist ihm wieder begegnet?«

»Lassen wir das; wir wollen uns doch nicht die Laune verderben.«

»Ich möchte es wissen.«

Heinrich vom Hövel pfiff leise durch die Zähne.

»Ja,« sagte er endlich, »bei einer Assemblee in Berlin, die von hoher Seite inszeniert war. Die Kunstausstellung machte damals von sich reden. Du kennst ja meinen verträumten Kanal . . . Ein leidliches Stück; es hat mir jedenfalls die große Staatsmedaille eingebracht. Na, und so weiter . . . Kurz, es war auf einer Gesellschaft beim Kultusminister. Bunte Uniformen, hoher und niederer Adel, tiefentblößte Schultern, leidliche und unleidliche Gesichter, darunter Literaten und Pinselleute – mit einem Wort: 'ne große Sache, und ich als simpler Provinzler mitten dazwischen. Gott sei Dank! – anderen Tages konnte ich wieder die niederrheinische Luft einatmen.«

»Und du fandest ihn?«

»Ja.«

»Als was?«

»Als Streber. Jedenfalls war er aus dem schlichten Frack eines höheren Regierungsbeamten in den mehr vergoldeten eines Geheimen Legationsrates geschlüpft, eine Metamorphose, die er mit der ganzen Würde eines selbstgefälligen Menschen zu tragen wußte. Du mußt wissen: Elbe und Spree sind heterogene Begriffe. Dort einfache Gasbeleuchtung, hier elektrisches Licht – und so ein Scheinwerfer hat neben seiner magnetischen Kraft noch die Fähigkeit, auch die kleinsten Nuancen schärfer hervortreten zu lassen.«

Hans Behrend lächelte.

»Und kennst du den eigentlichen Grund seiner Versetzung?« fragte er wieder.

»Ja – und nein. Wie gesagt: unsere Begegnung war ebenso flüchtig wie schattenhaft. Sie erinnerte an den Eindruck, den man bei verregneten Herbsttagen empfindet. Man soll jedoch in zweifelhaften, ungewissen Fällen immer das Beste vermuten. Nehmen wir daher seine amtliche Tüchtigkeit als den Beweggrund seiner Versetzung an, obgleich es sub rosa hieß: irgendeine mysteriöse Persönlichkeit, eine Eva natürlich, sei in dieser Versetzungsaffäre unwillkürlich mit tätig gewesen, er habe sich dabei die weiße Weste etwas bekleckert, sei aber seiner ganzen Veranlagung gemäß wieder auf die Beine gefallen und fortgelobt worden – und daher . . . Es gibt eben nichts Neues unter der Sonne. Möglich, daß der alte Ben Akiba mit dieser Hypothese den Nagel auf den Kopf getroffen hat – möglich, daß sie im vorliegenden Falle deplaciert erscheint. Ich für meine Person habe mir jedenfalls die Überzeugung gebildet, daß er, abgesehen von seinem wirklichen Können, auch das Zeug und die Energie besitzt, seinen Weg über Leichen zu machen. Lassen wir ihm daher den goldbordierten Frack eines Geheimen Legationsrates. Er hat eben Karriere gemacht und scheint weiter Karriere zu machen. Das ›Wie‹ ist seine Angelegenheit.«

»Ich habe gar nichts dagegen,« versetzte Behrend nach einigem Nachdenken. »Der Mann aber interessiert mich; er ist eben das Übel in meinem Leben geworden und brachte es fertig, mir ein Stück Erde, auf dem ich mit allen Fasern und aller Leidenschaft wurzelte, in seiner brutalen Manier zu entreißen. Es ist verloren für mich – unwiederbringlich verloren, denn ein Rätsel, das Weib mit dem Tierkörper, hat sich darüber gelegt und streckt die Tatze . . .«

Er unterbrach sich mit einem häßlichen Lachen.

»Nun aber genug.«

Heinrich vom Hövel machte eine unwirsche Handbewegung.

»Causa finita,« sagte er hart. »Du wolltest doch . . . Eine Liebe kann nicht über das Grab hinaus leben. Sie ist nicht körperlich mehr und hat somit die Berechtigung des Daseins verloren. Sprechen wir also von anderen Dingen.«

»Gut,« sagte Hans Behrend, »sprechen wir nicht mehr davon, obgleich ich am eigenen Leibe die bittere Erfahrung mache, wie die Vergangenheit tagtäglich und stündlich in die gegenwärtigen Tage hineingreift. Leben und Tod hängen mit unsichtbaren Organen zusammen, und diese Organe, so seltsam es auch klingen mag, halten die Seelen von Tod und Leben wechselseitig gefaßt und suchen sie an sich zu reißen. Und wer mächtiger ist . . .? Ich kenne Fälle, wo der Tod es war.«

»Aber, Mensch . . .

»So ist es. Und jetzt noch eine einzige Frage – die letzte.«

»Wirklich die letzte?«

»Ja – wirklich die letzte.«

»Dann frage, mein Junge.«

»Wann erfolgte seine Berufung, oder besser gesagt: um welche Zeit wurde seine Versetzung ausgesprochen?«

»Kurz nach der Katastrophe.«

»Du willst also sagen?«

»Ja – kurz nachdem sie verunglückte.«

Hans Behrend sank mit einem dumpfen Laut zurück, über das durchgeistigte Gesicht hatte sich eine eigentümliche Blässe gezogen. Das stärker gewordene Mondlicht ließ sie noch ausgeprägter erscheinen.

»Kopf oben behalten!« sagte Heinrich vom Hövel. »Wind- und Wolfszeit sind vorüber. Hier sollst du gesunden.«

»Ich will gesunden,« versetzte Hans Behrend und sah in die Landschaft, die immer zauberischer wurde. Warum dieses reizvolle Dämmern und Weben? Warum griff es in seine Seele hinein und ließ sein Herz mächtig erschauern? Himmel und Erde umfingen sich. Silbrig lag es auf den Wassern, leuchtend zitterte es über die endlosen Felder. Ob dem vlämischen Land ruhte eine Fülle des Lichtes. Kein Laut mehr – nur der dumpfe Hufschlag und die monotone Arbeit des Wagens.

Sankt Anne war in Silber getaucht, als sie einfuhren. Und da standen sie alle. Moritz Dütz-Josum schwenkte den Hut, und Jan dienerte, was das Zeug halten wollte. Bernadintje und Wilhelmintje hingegen taten verschämt, knicksten aber so herzhaft, daß sie fast vergaßen, die richtigen Worte zu finden. Dann aber ging's proper herunter, und in die erste Begrüßung klingelten die Ohrgehänge der beiden Damen wie zierliche Glöckchen hinein – leise, ganz leise und mit goldenen Stimmchen.

»Und die Lichter . . .?« fragte Heinrich vom Hövel.

»Aber, Mynheer,« sagte Wilhelmintje, »heute ist doch der fünfzehnte Juli – und denn . . .«

Ihre kregelen Blicke glitten über Hans Behrend. Sie schien zufrieden mit ihm zu sein. Auch Bernadintje war der nämlichen Ansicht.

»Fein, Wilhelmintje! – und wer ist auf den Einfall gekommen?«

»Auf den mit die fünfzehn Lichters und die fünfzehn Bouteillen?«

»Ja.«

»Ehrlich, Mynheer – der Seelenmensch.«

»Wer ist der Seelenmensch?« fragte Hans Behrend.

»Der Mann vom Feuerschiff. Davon später, aber du, mein Junge, sei mir in Sankt Anne herzlich willkommen.«

»Ja, Mynheer,« sagte Wilhelmintje und reichte ihm die Hand »hartelijk willkommen.«

 


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