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Nun, war es also doch noch gekommen, wie ein kalter, tödlicher Reif in all die Frühlingspracht hinein . . . und die Freude und das Glück, die während kurzer Sommertage bei den Menschen in Sankt Anne weilten, gedachten Abschied zu nehmen, Abschied wie die Schwalben, die sich bereits zusammentaten, um gen Süden zu fliegen. –
Und der Abend ging hin, und die Nacht ging hin. Es war eine lange und bange Nacht gewesen, eine Nacht voller Herzeleid und Not; aber die Not hatte so rechtschaffene Arbeit gemacht, daß die bedrängten Menschen keine Tränen mehr finden konnten. Tränenlose, harte, verzweifelte Stunden . . .! – ohne Trost und Erlösung.
Sie zermalmen und führen uns hinter stille Gatter, wo langes Gras im Winde weht, und wenn sie gegangen sind, ist ein betäubender Duft nach Buchs- und Lebensbäumen übrig geblieben.
»Was nun?« sagte Erasmus.
Er sah in den grauenden Morgen. Die Kerze neben ihm war zu einem Lichtstumpf geworden. Da gedachte der Prediger des gestrigen Abends. Nichts entging ihm. Sein Geist arbeitete mit einer unheimlichen Klarheit. Ja – er erinnerte sich . . .
Er sah sich selber, wie er schwankenden Ganges das Zimmer seiner Tochter betrat. Sie saß auf der Bettkante und hob verwirrt den Kopf in die Höhe. Er erzählte ihr alles. Als er gesprochen hatte, kam es über sie wie eine Empörung im Angesicht des Todes. Die Unmöglichkeit zu begreifen, daß alles ein Ende haben sollte, daß nichts mehr zu hoffen war, machte sie sprachlos. Was hatte sie besessen? – selige Stunden mit gebrochenen Flügeln. Was besaß sie jetzt? – das Elend. Was sollte noch kommen? – das Grauen. Sie löste ihr Haar, um es gleich darauf wieder zusammen zu nesteln. Sie erhob sich, um kraftlos rückwärts zu fallen. Sie betrachtete ihre Hände, die so weiß wie Kirschenblüte waren. Sie sah lange darauf. Von diesen Händen wurde ein Wunder verlangt. Sie sollte sie strecken und ganz sacht und still auf ein krankes Menschenherz legen. Es gehörte dem Geschlecht der Ruhelosen an und verlangte nach Ruhe. – Und sie streckte die Hände und das Wunder kam . . . und doch war alles eitel und nichts gewesen. Das wußte sie jetzt, und sie wußte noch mehr: sie hatte ihr Schicksal mit dem eines Dritten verkettet; das Unglück war größer geworden. Da barg sie ihre wundertätigen Hände, die sie betrogen hatten. Ein trauriges, weltfremdes Lächeln umspielte ihr Antlitz, und das Lächeln blieb, bis sie auf die Kissen zurücksank.
Er beugte sich über sie.
»Und hast du mir gar nichts zu sagen?«
Sie verharrte in ihrem Schweigen.
»Nein,« sagte sie endlich.
Sorgsam ordnete er die Falten ihres weißen Kleides und verließ das Zimmer.
Aber das Lächeln verfolgte ihn.
Da warf er sich in einen Lehnstuhl. Die Arme hingen schlaff herab. Nur die Fingerspitzen krampften sich gegeneinander.
So war der Morgen gekommen – ein vergrämelter Morgen, der nicht Tag wurde. Es hing wie graue Tücher in der Luft. Die alten Bäume, die auf der Priesterkoppel standen, ließen ein schwermütiges Rauschen vernehmen. In den breitausgelegten Kronen blieb es dunkel. Keine heiteren Reflexe zogen ihre wechselnden Fäden hindurch. Nichts tönte sich ab. Nichts Körperliches; die Konturen erweiterten sich nicht, gingen nicht in die Tiefe hinein. Es war nur ein Schattenspiel da draußen. Gottes allbefreiendes Licht wollte nicht kommen.
Regungslos saß der Insichgekehrte im Lehnstuhl. Er zählte die Viertelstunden, die von der nahegelegenen Kirche herüberklangen. Es mochte auf sechs gehn, und da saß er noch immer mit übernächtigen Augen, mit einem herben Zug um die Lippen und wartete auf das Licht.
Aber das Licht kam nicht, und er selbst war nicht mehr kindergläubig genug, sich ein inneres Licht zu schaffen. Er hatte eben seinen Kinderglauben und den Glauben an die Zukunft verloren.
Langsam legte er die Hände zusammen.
»Nun ist alles dahingegangen,« sagte er mit gekniffenen Lippen, »dahingegangen wie ein Schatten und wie ein Geschrei, das dahinfährt. Oder wie ein Vogel, der durch die Luft fliegt, da man seines Weges keine Spur finden kann.«
Er umkrampfte die Lehnen.
»Ich wandte mich,« fuhr er mit erhobener Stimme fort, »und sah alle, die unrecht leiden unter der Sonne; und die ihnen unrecht taten, waren zu mächtig, daß sie keinen Tröster haben konnten. Da lobte ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr denn die Lebendigen, die noch das Leben hatten.«
Erasmus erhob sich.
Das Bewußtsein, noch Odem zu haben, seine Tage weiter schleppen zu müssen, erfüllte ihn mit einem heimlichen Bangen. Er berührte auch die Vergangenheit nicht mehr; es war doch alles vergebens, und was da noch zerfetzt am Boden lag, verlohnte nicht der Mühe, es aus dem Staube zu heben.
Er öffnete das Fenster. Die Morgenluft drang ihm frisch entgegen.
Von Sluis her läuteten die ersten Glocken. Leise angeschlagen, wurden sie immer stärker und stärker. Auch Sankt Anne nahm das Geläut auf. Es ging wie ein Jubelruf über die weite Niederung.
Das waren die Glocken des Lebens.
»Auch für dich?« fragte ihn eine innere Stimme.
»Nein,« sagte Erasmus.
Für ihn hatten sie ihr Klingen verloren – aber er sah, wie sich der Nebel zerteilte. Die Fernen hellten auf; hinter den Dächern und den verschwommenen Bäumen stand ein glorreicher Schein.
Strahlengarben stiegen gen Himmel.
Und das Licht wuchs und wuchs.
Das war die Quelle des erwachenden Lebens.
»Auch für dich?« fragte ihn eine innere Stimme.
»Nein,« sagte Erasmus.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»Ich habe kein Licht mehr.«
Und das Licht wuchs und wuchs, und die Stunden vergingen . . . und Erasmus dachte an seine arme Tochter, an ein weites, stilles Ährenfeld, das ein Wetter niedergelegt hatte. In so einem Ährenfeld ruht die Hoffnung eines Jahres am Boden. Nur vereinzelte Halme stehen noch aufrecht; an diesen haften die Regentropfen der vergangenen Nacht wie glitzernde Tränen. Aber was will so ein verwüsteter Acker gegen ein zerstörtes Menschenleben bedeuten? Die Scholle grünt wieder; aus der frischgeworfenen Saat ringt sich eine neue goldene Fülle, die dankbar den Himmel anweht und mit geheimnisvollem Wispern und Rauschen die Sichel erwartet. Der vernichtete Segen eines Jahres läßt sich verschmerzen. Es kommen auch bessere Tage, die eine dreißigfältige Ernte versprechen. Aber so ein Menschenleben, so ein auf den Tod getroffenes Menschenleben . . .! – da ist auch Ruhe darin, dieselbe Ruhe wie in einem Ährenfeld, das ein Gewitter zerstampfte. Und dennoch ist es eine ganz andere Ruhe. Jene wandelt sich in Freude, wenn neue Frühlingswinde singen und sagen, und die ersten Lerchen gen Himmel steigen; diese hingegen kennt kein Erwachen, kennt keine Freude mehr; sie währt ewig, und die graue Sorge steht bei ihr. –
Klaartje ging auf Zehenspitzen umher, aus Furcht, durch ein starkes Auftreten das lauernde Geschick aufzuscheuchen und noch unbarmherziger zu machen, denn ein Widerhall von dem, was sich gestern abend bei den van Dornicks abgespielt hatte, war auch ins Erdgeschoß gedrungen. Klaartje hatte den fremden Mann von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie wußte sich an alles zu erinnern. Als er anklingelte, hatte sie ihm ängstlich die Türe geöffnet und ihn dann nach oben begleitet; als er das Haus eine Stunde später darauf wieder verließ, war sie mit ihm auf die Straße gegangen und hatte ihn dort zurecht gewiesen, damit er nicht fehl ginge. Er bedankte sich zuvorkommend; auch fühlte sie ein hartes Geldstück zwischen den Fingern. Der Mann war freundlich gewesen. Aber sein Gesicht, die Ruhe darauf und die eisige Kälte . . . das konnte sie nicht mehr los werden im Leben. Sie bewegte sich denn auch ganz verstört im Hause herum, tat wirr ihre Arbeit und mußte immer an das schöne, kalte Gesicht und den gestrigen Abend denken. Auch brannte ihr das Geschenk zwischen den Fingern. Als sie es in ihre Kommode legte, schien es gegen die Lade zu klopfen. Es kam ihr wie ein unrechtes Gut vor. Sie glaubte, es würde das Unglück unter die Dachpfannen rufen. Da ging sie hin, blickte sich scheu um, ob niemand sie sähe, und warf das Geld in den Brunnen.
Und Bernadintje . . .? – Ach, Bernadintje . . .! – Ihre rosigen Zukunftsbänder, die noch gestern abend wie Schmetterlinge ihr gaukelndes Spiel trieben, lagen heute verwaschen und matt am Boden. Das mußte so kommen, denn die Freude geliebter Menschen war auch ihre Freude, deren Bekümmernis war auch ihre Bekümmernis, und die in ihrem bescheidenen Hause wohnten, liebte sie vor allen übrigen Menschen. Sie tappte in Finsternis, aber sie vernahm noch immer die entsetzlichen Worte. Die Stimme des Predigers hallte zu schrecklich . . . Ich glaube, Sie gehören zu denen, die einem den Tod ins Haus bringen . . . Jedes Wort kam deutlich herunter. Die Nacht schärfte das Ohr, der Sturm schwieg gerade – und das geschah in dem Augenblick, als Erasmus das Licht ergriff und es dem Fremden entgegenhielt. So schreit ein Baum in der Winternacht, wenn der Frost klingt und sich gierig ins Kernholz frißt. So ein armer Baum muß zerspalten. Diese entsetzliche Stimme . . .! – Sie kam aus einem Herzen, das man zerreißen wollte – aus einem sterbenden Herzen.
»Nein,« sagte Bernadintje und hielt sich die Ohren zu, »ich kann's nicht vergessen . . .« und als bald darauf Moritz und Wilhelmintje vorsprachen, wußte sie in ihrer tiefen Not nichts anderes zu tun, als nach oben zu zeigen. Ohne weitere Redensarten zu machen, verhandelten sie das gestrige Begebnis, legten in großen Zügen den Zusammenhang fest und hatten bange Fragen an die kommenden Tage. Wilhelmintje dachte dabei an Klaas Buhle und die Heyster Bucht, ohne darüber ins klare zu kommen, was der Seelenmensch und die Heyster Bucht überhaupt mit dem Geschick der van Dornicks zu tun hatten. Reineweg gar nichts! – das war ja alles dummes Zeug, was Klaas Buhle aus seinem verbaselten Kopf hervorgebracht hatte, und trotzdem: es haftete wie Kletten an ihr, ängstigte sie bis aufs Blut und packte sie immer fester und fester, je mehr sie sich bemühte, es von sich zu schütteln. Herrgott, dieser Seelenmensch! – und als dann noch Klaartje anklopfte, ganz benommen hereinkam und ängstlich versicherte, die Herrschaften wollten noch heute nach Brügge, kämen aber in einiger Zeit zurück, und der Domine wünsche Mynheer vom Hövel zu sprechen, das Fräulein aber säße wie eine Tote im Lehnstuhl, da glaubten alle, das Haus müsse zusammenbrechen und sie unter seinen Trümmern begraben.
»Mußt dir aber beeilen,« flüsterte Wilhelmintje ihr zu, »denn Mynheer vom Hövel . . . Er will ja auch wohl nach Brügge. Herrgott, der arme Mensch!« rief sie aus und schlug die Hände zusammen, »der kann auch den Tag nicht mehr finden.«
Da ging Klaartje auf die Straße hinaus und zu Heinrich vom Hövel.
»Moritz,« sagte Bernadintje und weinte still vor sich hin, »nun glaube ich, ich bin auf Karfreitag geboren, denn alle, die auf Karfreitag geboren sind und das vierzigste Jahr hinter sich haben, sind arme Menschen und haben kein Lachen mehr.«
»Ja, Moritz,« sagte sie traurig und sah durch die Scheiben.
Mit Klaartje kam auch Heinrich vom Hövel und begab sich nach oben. Eine Viertelstunde später verließ er mit Anna van Dornick das Haus. Er mußte sie führen. Sie hatte einen dunklen Schleier umgelegt, der das Gesicht völlig bedeckte. Ihrer müden Gestalt haftete etwas von Todesbereitschaft an, etwas von dem, was an Lilien erinnerte, die im Schatten blühen.
Bernadintje stand am Fenster, hatte jedoch Mühe, sich aufrecht zu halten.
Jetzt erschien auch der Prediger. Gott, wie war der Mann in den wenigen Stunden gealtert! Nein, der wurde nicht wieder. Dem waren über Nacht Bergeslasten auf die Schultern gefallen, dem waren die Blicke abgestorben – und er hatte doch in seinen guten Tagen sagen können: Rüttelt nicht an mir. Was wollt ihr? Eure Mühe ist umsonst. Ich bin ein Fels im Meer und ein Pharus des Lebens. So ihr mir vertraut, leite ich euch in den sicheren Port; so ihr aber wider mich seid, werden eure Pläne an meiner Stirne zerschellen. Auf die Knie – ich will es. – Das war nun alles dahin – unwiderbringlich, und hätte einer mit Engelszungen geredet und wäre wundertätig gewesen – nein, der Mann wurde nicht wieder; dem konnte keiner mehr helfen. Und hätte selbst der Heiland gesagt: Erasmus, es kommen noch bessere Tage . . . es wäre vergebens gewesen.
Erasmus hatte seinen Glauben an Gott und die Menschheit verloren.
Er trat auf die Straße hinaus – und da war es Bernadintje, als ob er die Hände emporhöbe, um ihr kleines Häuschen zu segnen. Aber sie sah auch, daß er kaum noch die Kraft dazu hatte. Er schüttelte traurig den Kopf und ging der nahen Station zu.
Sie sah ihm noch lange nach.
Da kam es über sie.
»Ich weiß es,« sagte sie vor sich hin, »ich habe kein Lachen mehr.«
Mit heftigem Schluchzen drückte sie ihr Tuch gegen die Augen. – – –
Es war wie Eulenflug. Weich und lautlos war es gekommen – unaufhaltsam und ohne in seinem Fliegen innezuhalten: über den Kanal, über das Meer, über die vlämische Ebene. Genau so still und geräuschlos senkte es sich jetzt auf das düstere Haus in der Heiligen Geist-Straße, wo noch vor wenigen Stunden die Blenden vorlagen, und die Klingel so stumm hing, als hätte sie niemals geklungen. Jetzt war das anders geworden. Das Geschick hemmte die Schwingen, betrat die vereinsamte Schwelle und machte das abgestorbene Haus wieder lebendig. Da hellten die Flure auf; die weißen Gardinen kamen wieder zum Vorschein.
Das blonde Mädchen mit dem straffgescheitelten Haar, das in Abwesenheit der Herrschaft bei seiner Mutter im Armenviertel ausgeholfen hatte, stieß die Läden zurück und sorgte in aller Eile dafür, daß der Geist des Unwirtlichen die Wohnung verließ und Raum für den warmen Odem gab, der von draußen hereinwehte. Da flutete Gottes Sonnenlicht über die Dielen, vergoldete die verblichenen Möbel und legte einen milden Glorienschein um den Erlöser, der über dem Harmonium hing und die Arme breitete, als wenn er sagen wollte: Wer überwindet, dem werde ich zu essen geben vom Baum des Lebens . . . Worte so köstlich wie Balsam, Worte aus dem Paradies! – aber hier waren sie gleich flammenden Schwertern, die die Herzen siebenfach durchbohrten, überwinden – ja; aber essen vom Baume des Lebens . . .? – Mußten die Wände bei diesem Ansinnen nicht auflachen, mußte sich nicht auf den Korridoren eine Stimme erheben, die da sagte: Lasset alles hinter euch, ihr, die ihr diese Schwelle betretet, denn dieses Haus ist ein Haus der Trauer geworden.
Dies fühlte auch Erasmus, als er das Bildnis betrachtete. Worauf noch hoffen? Nichts erquickte ihn mehr; er war beladen genug, und kein Simon von Kyrene erschien, ihm das schwere Kreuz von den Schultern zu nehmen. Warum auch? – Und wenn er erschiene, es wäre überflüssig gewesen. Schon öffnete sich ihm die ewige Pforte. Da waren viele barmherzige Hände, die nahmen ihm das Kreuz ab, die befreiten ihn von den Dornen, die kühlten seine zerrissenen Füße und träufelten linderndes Öl auf die Wunden seiner Seele, denn er wußte: es konnte nicht lange mehr dauern; seine irdische Pilgerfahrt ging ihrem Ende entgegen, und daher: er bedurfte keines Simon von Kyrene, der die schwere Last mit ihm teilte. Er hatte mit der Welt abgeschlossen. Sie bot ihm nichts mehr; sie hatte ihm nur wenig geboten. Sein Lebensbaum, der in früher Jugend so herrlich gewesen war, der oft in Blüte stand und weithin schattete, hatte nur wenig Früchte getragen. Und wie steht geschrieben . . .? Ruhig konnte er die Axt an den Stamm legen – wäre nur sein Kind nicht gewesen . . .
Ja – sein Kind. Dessen Angelegenheit harrte noch der Erledigung.
»Also morgen,« sagte er bitter, schleppte sich müde zum Schreibtisch und warf etliche flüchtige Zeilen aufs Papier. Hierauf schloß er das Kuvert und machte sich fertig zum Ausgehn. Er wollte es selbst überbringen.
Er nahm Stock und Hut. Als er der Tür zuging, trat seine Tochter aus dem Nebenzimmer, noch in demselben Anzug, wie sie Sankt Anne verlassen hatte. Nur der Schleier war zurückgeschlagen.
»Für ihn,« sagte sie bewegt, kaum ihrer Stimme mächtig. Sie gab ihm ein versiegeltes Schreiben.
»Für Behrend?«
»Ja,« sagte sie leise.
»Es soll durch Heinrich vom Hövel besorgt werden.«
»Hoffentlich bald.«
»Sobald er zurück ist; er empfängt ihn am Bahnhof.«
Ihre Brust hob sich stürmisch.
»Und wann kommt er zurück?« fragte sie hastig.
»So spät?«
Da sah der Prediger sie bekümmert an. Er wollte ihr Trost zusprechen.
Sie aber wehrte ab.
»Es ist gut.« versetzte sie ruhig. Sie war mit sich im reinen und hatte nichts mehr zu sagen.
Fast bewegungsunfähig, einen herben Zug um die Lippen, verließ Erasmus das Haus, um Heiking den morgigen Tag für die Regelung seiner Angelegenheit zur Verfügung zu stellen. Er ließ die Salvatorkirche links liegen, ging die schmale Sandstraße entlang nach dem Stationsgebäude. Von hier aus erreichte er in wenigen Schritten das Hotel de Londres. Er sprach vergebens vor. Da händigte er das Schreiben dem Portier ein und begab sich zu Heinrich vom Hövel, von dem er wußte, daß er ihn um diese Zeit auf der Bibliothek antreffen würde. Zuweilen nötigte ihn die Schwäche, stehen zu bleiben. Als er dort ankam und schweren Fußes die Treppe erstieg, schlug der Glockenspieler auf den Hallen die sechste Abendstunde an. Weich und gedämpft wurden die einzelnen Klänge in die Ferne getragen. –
Anna van Dornick legte Hut und Schleier beiseite. Sie verschränkte die Hände. Leblos, wie von einer inneren Maschine in Bewegung gesetzt, trat sie an das geöffnete Fenster.
Eine zarte Stimmung lag in der Luft, ein feinmaschiges Netzwerk, dem der süßliche Duft nach Weihrauch anhaftete. Als käme eine Prozession von der Kapelle des Heiligen Blutes gezogen, als nähme sie ihren Weg dicht am Hause vorüber, als würden alle Weihrauchfässer der benachbarten Kirchen in Bewegung gesetzt, so duftete es: fade, an den Geruch absterbender Rosenblätter erinnernd und die Sinne benehmend.
Der süßliche, kranke Hauch lastete auf ihr. Hier rief ihr nichts mehr das Gedenken an das weite, ewige Meer zurück, an das freudige Licht der endlosen Ebene und an die Menschen, die unter einem glücklichen Himmel wohnten. Hier löste sich das Gegenständliche auf. Leben und Tod berührten sich innig. Hier gingen die Schritte gedämpft wie in einem Krankenzimmer. Die Freude am Dasein schrumpfte unter diesen Zeichen zusammen, wurde zum Krüppel, um elend am Boden zu kriechen. Horch, wie sie rauschen, die Pappeln im weiten, sonnigen Vorland! Wie anders sprechen sie, wenn die bange Nacht sie in ihre Arme schließt. Ein krankes Herz wird nur von Saiten berührt, die denselben Grundton wiedergeben. – Hier war alles vereinigt.
Daran dachte auch Anna van Dornick.
Sie war wieder in Brügge, in der verwunschenen Stadt, wo selbst die Glocken, wenn sie den Mund auftun, etwas Lautloses an sich haben, wo die Wasser stetig fließen, um nicht von der Stelle zu kommen.
Der Grundakkord ihrer Seele war eins mit dem, der schwermütig über die tote Stadt zitterte. Er war ohne Anfang und Ende und erzählte von dem, was war und noch kommen würde.
Ihr Blick ruhte auf den Baumkronen, die hinter dem Johannishospital aufragten. Nicht der geringste Laut ließ sich in der schmalen Gasse vernehmen. Die Schatten wurden länger und legten sich über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Langsam krochen sie weiter. Der intensive Duft nach Weihrauch und welken, Rosenblättern war stärker geworden. Sie mußte die Fenster schließen, so betäubend und aufdringlich wurde er.
Noch einmal sah sie die Straße hinauf. Da wich alles Blut nach ihrem Herzen zurück. In der Totenstille hörte sie die Schritte eines einzelnen Menschen. Sie kamen ihr bekannt vor. Sie horchte mit geschlossenen Augen. – Heute? – Und das jetzt? Er wurde doch erst morgen erwartet. – Er wagte doch nicht . . .? – Und wieder beugte sie sich vor, um auf die andere Seite hinüberzustarren.
Da warf sie das Fenster zu.
Aufgeschreckt, das kommende Verhängnis sehend, trat sie in die Mitte des Zimmers, unentwegt die Blicke auf die Tür gerichtet.
Unten schlug die Klingel im Hausflur an. Eine Flucht von Gedanken und Empfindungen drängte auf sie ein, beschleunigte ihren Puls und hob ihre Brust, als wenn sie das Mieder sprengen wollte. Unerträglich reihte sich Sekunde an Sekunde.
Jetzt klopfte es an.
Sie hatte kein Ohr, keinen Laut dafür.
Aber da stand er schon – ihr nah gegenüber. Ihre Folgerungen reihten sich haarscharf nebeneinander, schlossen sich zu einem Kreis, in dessen Mitte sie selbst war, unfähig, auch nur einen Schritt aus dem Bann dieses Ringes zu kommen. Jetzt war er dicht vor ihr, so dicht wie damals, als die Lindenblüten ihren betäubenden Duft verstreuten und kosend ihre Stirn umspielten. Ja – damals . . .! – In der Ferne hallte Musik, träumerische, einschmeichelnde Musik. Bunte Papierballons leuchteten verführerisch durch das dichte Grün der Bäume; liebestrunkene Falter taumelten über die verschwiegenen Wege. Sie waren allein; nichts störte sie. Die große Einsamkeit redete eine geheime Sprache, und er verstand sie zu deutlich. Du hast es ja lange gewußt, sagte er fiebernd. Er faßte ihre Hand. Da verlosch das Licht ihrer Erkenntnis. Die Scham schlug ihr ins Gesicht. Sie lag an einem schuldigen Herzen – aber sie liebte. Sie liebte mit einer verzweifelten Angst, wie eine, die dem Ertrinken nahe ist und ihren Tod vor Augen sieht. So vergingen die Tage. Die Menschen wurden kundig. Sie wußten es selber nicht. Mit traurigem Mut blickten sie dem Unabänderlichen ins Gesicht und trugen die Last einer gemeinsamen Schuld mit dem Bangen und dem doch süßen Empfinden, die dem Genuß der Sünde anhaften. Eine ungewisse Hast kam über sie beide, eine berückende Gier, die köstlichen Minuten einer verbotenen Neigung nicht ungenützt verstreichen zu lassen. Sie bauten auf die kommenden Tage, auf den Stern ihres Geschickes, der dunstig über dem Abgrund hing, unbekümmert darum, daß ihr Weg dorthin führen mußte. Liebestrunkene Falter und gaukelnde Lichter – und die Stunde der Sünde . . .!
In diesem Augenblick sah sie alles, fühlte sie alles . . . und jetzt stand er vor ihr.
»Mein Gott! – und Sie kommen . . .« sagte sie niedergebrochen. Sie tastete hinter sich, um Halt zu gewinnen.
»Ja,« sagte er kühl, ohne jede Erregung. Nichts verriet, was ihn herführte. Scheinbar gefaßt und mit den Allüren eines Weltmannes streifte er die Handschuhe ab, glättete sie und legte Hut und Handschuhe beiseite.
Dieses Selbstverständliche, diese empörende Ruhe! – Sie mußte sich Gewalt antun, um nicht den Zerstörer ihres Glückes . . . Aber war sie selber nicht schuldig . . .? – Hebe den Stein auf! – Sie hatte das Recht verwirkt, den Stein vom Boden zu heben. Nur mit reinen Händen . . . und ihre Hände hatten die Reinheit verloren.
»Sie wagen es,« stieß sie hervor, »und mußten doch wissen . . .«
Er unterbrach sie. Absichtlich überhörte er die letzten Worte.
»Ich weiß, was du sagen willst,« entgegnete er mit erkünstelter Gelassenheit. »Du wirst mir vorhalten, ich hätte die Aufforderung deines Vaters abwarten müssen. Kein Zweifel: es hätte mehr der konventionellen Lüge entsprochen. Daß ich mich darüber hinwegsetze und hinwegsetzen mußte, liegt in meiner augenblicklichen Lage begründet. Man tanzt nicht auf dem Seil, wenn man den Tod im Herzen spürt. – Du wirst mir noch einmal vorhalten, was du mir bereits des längeren in deinem Briefe auseinandergelegt hast. Du wirst mir von Fußspuren erzählen, die vom Wege der Pflicht abwichen und sich im Sande verliefen, um heimlich das Reich der sündigen Liebe zu suchen. Ich kenne das. Du wirst mir sagen wollen: die Rätsel einer Frauenseele sind nicht spielend zu lösen. Gewiß nicht. Das Ringen nach Lösung derartiger Probleme kann ins Pantheon oder ins Irrenhaus führen. Ich kenne Beispiele, die diese Behauptung glänzend illustrieren. Ich persönlich bin weit davon entfernt. Du bist kein verschleiertes Bild. Bei dir sind keine Rätsel zu lösen; wenigstens für mich nicht. Deine Seele ist für mich ein klares Wasser, das auch die kleinsten Schwingungen verrät und den Blick bis auf die tiefsten Tiefen verstattet. Deine Blicke, deine Küsse redeten eine zu deutliche Sprache – und jetzt willst du kommen . . .«
Er lachte bitter auf.
»Nein, du – so leichten Kaufes werden doch keine Verträge gebrochen. Ich fühle noch immer deine heißen Lippen. Die lügen nicht. Ich glaube daran; ich habe auch jetzt noch nicht diesen Glauben verloren. Wo um das Leben gewürfelt wird« – seine Stimme nahm an Schärfe zu – »und wir haben um das Leben gewürfelt, läßt man sich nicht mit Steinen abspeisen. Ich will meinen Einsatz und den Gewinn dazu – und wenn es zum Äußersten käme . . .«
Sie wollte sprechen. Sie wollte ihm etwas erwidern.
Krampfhaft verflocht sie die Hände.
Er machte eine abwehrende Bewegung.
»Nein. Laß mich zu Ende reden – ohne Unterbrechung. Was ich dir zu sagen habe ist nur eine Wiederholung dessen, was ich dir schon früher sagte. Ich pflege nicht im Taumel zu handeln. Ich bin kein Jüngling mehr und möchte ausdrücklich betonen: unsere Doktrin, daß ein hohes, edles Gefühl das Unstatthafte, Strafbare unserer Gemeinschaft, wenn auch nicht vor der gesellschaftlichen und staatlichen Schablone, so doch vor unserer Moral und unserem Gewissen gerechtfertigt erscheinen lassen kann, ist noch immer lebendig in mir – so lebendig wie damals, als ich sie dir auseinandersetzte und du sie mir mit einem heißen Kusse vom Munde nahmst.«
»Und wenn ich dir sage . . .«
Es flammte in ihr auf. Die Nägel in die Handflächen gebohrt, reckte sie ihre hohe Gestalt. Er wagte es, ihr den Spiegel vor Augen zu halten, sie in ihrer weiblichen Ehre zu kränken, ihr das, worüber sie fast den Verstand verloren, noch einmal vor die Sinne zu stellen. Das empörte sie.
»Du weißt doch, was in mir vorgeht,« sagte sie heftig. »Erinnere mich nicht an Dinge, die etwas Quälendes und Verletzendes für mich haben und stets haben werden. Aber abgesehen davon: alles Bestehende ist einem Wechsel unterworfen. Nicht das Greifbare, Faßbare allein – auch die Seele weist Schwingungen auf, die sich im Laufe der Tage verändern. Bei mir ist es eingetreten; ich bekenne es offen. Es wäre frevelhaft, dies verhehlen zu wollen. Ich irrte mich eben; ich war nicht klar über mein Handeln; ich war nicht imstande, seine ganze Tragweite zu ermessen. Ich wußte nicht, daß der Rausch, der einen heute emporträgt, morgen ernüchtert am Boden liegt – und er liegt ernüchtert am Boden . . . Durch tiefes Leid bin ich zur Erkenntnis gelangt, und wenn ich dich bitte . . . Nimm mir doch nicht den Glauben an deine Ritterlichkeit. Ich möchte von dir gehen, ohne mit Beschämung an dich denken zu müssen. Wir wollen uns die Hand geben und Menschen werden, die sich unbefangen ins Auge sehen können – eine Sühne für das, was wir verschuldet haben.«
»Nein,« sagte er ruhig.
»So hilf mir doch! – Habe doch Erbarmen mit mir . . .!«
Ihre Stimme erstickte unter Tränen.
»Ich lass' dich nicht frei,« gab er bestimmt zurück.
»Auch dann nicht, wenn ich nochmals bestätige, was ich dir in meinem Brief schon sagte?«
»Auch dann nicht – weil ich anders darüber denke. Man bereitet dem Verhängnis keinen fruchtbaren Boden. Wir wollen nichts beschönigen, aber auch nichts in den Schmutz ziehn. Was uns damals zusammenführte, die Folgerungen hieraus, das ist alles unser gemeinsames Erbteil geworden. Wir gehören nun einmal zusammen: unserer Vergangenheit nach und unserem Schicksal gemäß. Dieses Erbe zerstören, hieße uns selbst verderben. Du – ich achte zu sehr die unbefleckte Reinheit des Weibes in dir. Eine andere Deutung lehne ich ab. Sie fiele auf mich selbst zurück, sie wäre verbrecherisch und würde dich kompromittieren. In dieser Brust ist kein Raum für eine derartige Deutung. Frage dich doch selbst, was du wolltest. Erinnere dich. Du wolltest mein Weib sein und nicht . . .«
»Was . . .?!«
Ihre Augen blitzten.
»Was wollte ich nicht sein?!« fragte sie gierig.
»Nicht meine Geliebte.«
»Barmherziger Gott!« schrie sie auf.
»Oder solltest du . . .«
Sein Gesicht entstellte sich.
»Ich muß es fast annehmen, wie ich mich auch dagegen sträube,« sagte er mit eisiger Berechnung, jedes Wort abwägend und gleichsam wie ein scharfes Messer in ihre Seele hineinstoßend, »sonst könntest du nicht . . . Ja – du, ist deine Laune etwa befriedigt? Ist dir das Abenteuer zwischen uns langweilig geworden? Hat es seinen Reiz und seinen Duft verloren? – und ich, ich habe nach dir gejammert und mich verzehrt in meiner Liebe.«
»Nenne nicht Liebe, was bei dir Leidenschaft war,« sagte sie schaudernd.
»Präge nichts Falsches, sonst: der Gedanke liegt nahe, ich würde beiseite geschoben, um dasselbe Spiel bei einem andern erleben zu müssen. In diesem Falle könnte ich dich bedauern.«
»Hör' auf!« rief sie verzweifelt und suchte von ihm zu kommen. »Was machst du aus mir . . .!«
Sie taumelte rücklings und griff in ihr Haar, als wenn sie es aufreißen wollte.
Das waren dieselben Haare von früher, die ihn so oft betört hatten. Das blitzte und gleißte! – Wie es aufleuchtete in dem warmen Sonnenstrahl, der voll darüber hinglitt und die Bernsteinfarbe erst ins Leben rief, daß es Funken gab! – Welch geheimer Reiz in diesem Körper ruhte, in dieser Biegung des Nackens, so weich und doch so königlich . . .! – Sein Blut war ins Stürmen geraten.
Er drang auf sie ein. Brust schlug an Brust. Wie das klopfte und pochte! Diesen Herzschlag . . .! – den kannte er. Der gehörte ihm, das war sein Eigentum, den ließ er nicht wieder.
Sie straffte ihren Leib, um seine Fessel zu brechen.
»Laß mich los!« wehrte sie sich in seiner Umstrickung.
Es war alles vergebens. Seine Liebe glimmte nicht wie Asche, die ein leichter Fuß austreten konnte. Sie war eine Flamme, eine unbezähmbare Flamme – und das war sie immer gewesen.
»Wenn ich dich nicht so wahnsinnig liebte . . .!« keuchte er atemlos.
Sie mußte seine suchenden Blicke ertragen.
»Ich gehöre dir nicht . . .!«
»Das ist ja alles nicht wahr,« sagte er heiser. »Und wenn es wahr wäre, so ist trotzdem mein Recht nicht hinfällig geworden. Ohne dich würde ich in mein Nichts zurückgeworfen. Das Wesensinnere läßt sich nicht abschütteln, wie man den Staub der Scholle abschüttelt. Ich werde doch nicht mein eigenes Leben zerstören, oder könntest du glauben, ich hätte alle Brücken hinter mir abgebrochen, um das Ersehnte nicht bis zur Anspannung des letzten Nervs zu verfolgen? Ein Sturz vom Leukadischen Felsen würde mir keine Ruhe bringen. Ich habe Jahre gewartet. Was uns anhaftete, mußte schwinden. Die Menschen sollten uns vergessen. Zermürbt durch Arbeit und mondäne Pflichten, habe ich nur deinetwegen gerungen, habe die Stunde erwartet – und jetzt ist die Stunde gekommen.«
Wütend suchte er ihre halbgeöffneten Lippen.
Noch ein letztes Ringen von ihrer Seite, obgleich sie wußte: es ist alles umsonst; er ist in seinem Recht; du kannst ihm nicht entgehen . . .
Da stieß sie ihn von sich.
»Nein!« schrie sie gellend.
Er war totenblaß geworden.
»Entweder du folgst mir,« sagte er mit einer Selbstbeherrschung und Entschlossenheit, die auch sie bis ins Tiefste erschütterte, »oder . . .«
Der letzte Appell setzte ein.
»Hast du noch nicht genug an der Toten . . .? Sprechen die Felsen der Faraglioni nicht eine vernichtende Sprache? Bist du eins mit dem Weib, das nach immer neuen Freiern lechzt, um ihr Herzblut auszutrinken und die Entseelten in den Abgrund zu stürzen?«
Lautlos brach sie zusammen, und, den Kopf gegen die Dielen gedrückt, jammerte sie auf, als würde ihr Letztes, ihre Ehre, zum Kirchhof gefahren.
Er war dicht vor sie getreten.
»Es gibt Augenblicke,« sagte er vornübergebeugt und zwischen den Zähnen, »über die man nicht mehr hinweg kann, die einen wahnwitzig anstieren und gebieterisch an die Männerrippen pochen. Und diesseits steht eine höhnische Gewalt – und lächelt – und drückt einem ein hartes, blankes Ding in die Hand . . . Fertig; mache ein Ende. – Weißt du, was es heißt, dieser unabwendbaren Gewalt zu begegnen? Weißt du, was es bedeutet, das Dasein,einer anderen gemeinsam niederzutreten, um darüber hinweg ein neues zu gründen? – Gut, wir taten's und haben die Konsequenzen zu tragen . . . und nun willst du mir, wo ich alles um deinetwegen hingab, die Tür weisen und sagen: Erbettle dir ein andres Weib. Ich habe mich inzwischen besonnen. Ich suche neue Genüsse. Ich habe genug von dir und gehe über die Tote, über den Betrogenen in ein anderes Glück ein.«
Das saß wie ein brennender Striemen.
»Du . . .!« schrie sie auf.
Sie hatte sich vom Boden gehoben.
»Du willst die Tote gegen mich aufrufen . . .?! – Du könntest . . .! – Du willst sie mir vor Augen stellen, ich soll ihren Blicken begegnen . . .! – Sei doch barmherzig!«
Sie griff an die Brust, als wollte sie ihr Mieder zerreißen.
»Du bist ja nie ohne Waffe. Du trägst sie stets bei dir. Wenn du mich wirklich so liebst, wie du sagst, dann mache ein Ende und schieße mich über den Haufen. Das ist besser denn leben.«
»Nein – leben sollst du!«
Wieder umstrickte er sie.
»Und bin ich schuldig geworden,« rief er gepeinigt, »so erlöse mich, rette mich, hilf mir . . .! – Rette mich vor der, die nicht mehr ist, die wir verrieten. Eine gemeinsame Schuld trägt sich besser gemeinsam! – Anna, Geliebte . . .!«
Das klang ja, als hätte sein Inneres um Hilfe geschrien. Wie ein Verzweifelter hatte er ihre Lippen gefunden.
Da gab sie den Kampf auf. Sie wußte ja längst: sie opferte ihre Kraft einer verlorenen Sache. Das wußte sie, bevor sie ihn noch gesprochen und den letzten Brief an den andern abgeschickt hatte. Das war ihr Geschick. Sie hatte es vorausgesehen.
Sie erstarrte in seinen Armen; ihr Gesicht nahm jenen welken Ausdruck an, den der Tod den Abgeschiedenen verleiht.
Da ließ er von ihr ab.
Wie leblos stand sie vor ihm. Er erwartete eine Aufwallung ihres Herzens, einen Liebesschrei, ein tödliches Wort . . . Nichts von dem geschah. Sie verharrte in ihrer entsetzlichen Ruhe. Nur ihre durchsichtigen Nasenflügel bewegten sich leise.
Mit einer fast religiösen Scheu betrachtete er die plötzlich eingetretene Leidenschaftslosigkeit in diesem weiblichen Körper.
Jetzt wollte sie sprechen . . . jetzt sprach sie . . .
»Es ist gut,« sagte sie endlich. »Ich sehe ein, wir können die Vergangenheit nicht abstreifen. Sie ist zu mächtig. Du kannst über das, was an mir sterblich ist, gänzlich verfügen. Du zwingst mich, vor mein Gelöbnis zu treten. Du hast ein Recht darauf – und ich folge mit dem Pflichtbewußtsein eines Soldaten, dem es obliegt, bis zum letzten Atemzuge auf seinem verzweifelten Posten zu bleiben. – Du hast die Tote gegen mich aufgerufen . . . Ich verzeihe dir; auch sie wird verzeihen . . . Geh jetzt und komme bald wieder. Es ist noch vieles zu ordnen. Habe keine Sorge: ich folge dir, ohne Groll im Herzen, ohne die Absicht, dich jemals an diese Stunde erinnern zu wollen. Was sonst kommen wird – das allerdings ist eine andere Sache. Darüber zu entscheiden, steht nicht in meiner Kraft. Geh jetzt. Du sollst dich über nichts beklagen. Was mir obliegt, werde ich mit peinlicher Sorgfalt erfüllen. Und nun ist's genug. Das bißchen bettelarme Leben, das mir noch übrig bleibt, magst du nach deinem Ermessen verwerten.«
Sie wandte sich ab.
Er ergriff ihre Hände.
»Ich finde dich zu einer gelegneren Stunde . . .«
»Geh jetzt,« sagte sie ruhig.
Da küßte er ihr Hände und Stirne und Augen . . . dann ging er.
Sie verfolgte seine Schritte, bis sie auf der leeren Straße verhallten.
Die Bäume, die auf dem Beghinenhof standen, hatten sich in Purpur gehüllt. Der Abend sah mit großen, erstaunten Augen ins Zimmer.
Bald darauf kam Erasmus nach Hause.
Er fand seine Tochter in derselben Verfassung, in der sie Heiking verlassen hatte. Sie stand noch auf der nämlichen Stelle – wie vorhin.
Als er auf sie zutrat, wußte er alles.
»Er war hier, trotzdem er erst morgen kommen sollte?« fragte er verstört.
»Ja,« sagte sie, ohne eine Träne zu finden.
»Und du hast gewählt?«
»Ja – ich habe gewählt, und was ich ihm schrieb, was ich Behrend schrieb, deckt sich mit dem, was kommen mußte und kam.«
Da wankte der Prediger in ein anderes Zimmer und ließ sich dort nieder. Dann schlug er die Hände vors Gesicht. Er wollte zu Heinrich vom Hövel. Warum das? Es war doch nichts mehr zu retten und nichts mehr zu helfen.
Da blieb er und suchte nach Lösung der Dinge und konnte die Lösung der Dinge nicht finden und nichts mehr, was Licht hatte unter dem Himmel – und doch stand die ganze Welt in leuchtendem Purpur.
Aber er sah es nicht.
»Es wird öde und still um mich her,« sagte Erasmus.