Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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VIII

Anderen Tages hatte die liebe Morgensonne nur ein verstohlenes Blinzeln, denn es war ihr blau vor den Augen geworden. – Gott ja! – es gibt Dinge auf Erden, die ganz unverschämt und unverfroren in die Welt hinausknallen und das Zeug in sich haben, nicht nur die lieben Mitmenschen zu ärgern und jede mollige Stimmung in die Bohnen zu jagen, sondern, ihrer Knalligkeit wegen, selbst der Frau Sonne ungemütlich und lästig werden können. Zum Beispiel: das frischangetünchte Häuschen in Sankt Anne ter Muiden, dessen niedrige Vorderstube Moritz Dütz-Josum schon seit etlichen Jahren bewohnte. Giebel- und Frontseiten dieses Häuschens waren seit gestern derart in blau gesetzt worden, daß man annehmen mußte, irgendein überspannter Kopf wäre zur Ehrung des blauen Montags auf dieses Kunststück verfallen – so blau war die Sache, so impertinent blau, daß selbst die leuchtenden Farben von Kornblumen und Wäschebläue verschimmelt dagegen aussahen. Diesen ulkigen Tempel nun bewohnte Moritz Dütz-Josum. In der links vom niedrigen Flur gelegenen Stube schlief er, aß er, rauchte er, aber so, daß man Stücke aus der kompakten Rauchmasse heraussäbeln konnte. Hier arbeitete er zwischen altem Gerümpel, Entwürfen, Farbentuben und Spachteln, dachte er an alte Zeiten, wo die ekelhaften Ratten mit ihren klebrigen Schwänzen in seiner elterlichen Wohnung auf den mageren Eßtisch geklopft hatten, hier hatte er einen lustigen Kerl auf das winzige Sofa komplimentiert, der jetzt mit behäbigem Gesicht dasaß, als wollte er sagen: »Herrgott, wie schön ist die Welt!« – Noch vor vierzehn Tagen war das anders gewesen. Da saß ein anderer Kerl, da saß sein Bruder, der grimmige Humor, da – aber den hatte Moritz kurzerhand beim Wickel genommen und vor die Haustür geworfen, und das war geschehen, als er die erste Hand an die Bambocciade legte, dem mit burleskem Unsinn durchtränkten Gemälde, das jetzt, mit einem dunklen Tuch fein säuberlich überdeckt, auf der Staffelei stand und seiner baldigen Vollendung entgegenharrte. Die kleine Malerbude war ordentlich in Freude getaucht. Sie ruhte in dem blauen Unsinn wie ein Weinkern in einem Indigofaß und sah mit ihren herumliegenden Wurstpellen und der etwas defekten Binsenmatte so lustig aus, als sollte sie die Szene für irgendeine Jan Steen'sche oder Adrian Brouwer'sche Schilderung abgeben. Auf der Binsenmatte aber stand ein wackeliges Tischchen, und auf dem Tischchen, neben einem Armvoll dunkelroter Georginen, war ›er‹ placiert – er, der groteske, lächerliche, unmögliche, fuchsige Zylinder aus Filz, und vor diesem Unikum von Zylinder stand Moritz Dütz-Josum in stummer Betrachtung.

Fünf Minuten mochte er so gestanden haben, als er mit einem kräftigen Entschluß sein Taschenmesser hervorholte, es aufklappte und Miene machte, selbiges in die Röhre des schäbigen Hutes zu bohren. Im letzten Augenblick jedoch nahm er Abstand davon und vergnügte sich damit, die Georginen zu sortieren, künstlerisch zusammenzustellen und zwei prächtige Sträuße aus ihnen zu binden, nachdem er vorher die schönste Dahlie, und zwar eine schwefelgelbe, beiseite gelegt hatte. Nach Fertigstellung der Sträuße, von denen jeder fünfundzwanzig Blumen enthielt, langte er wieder nach seinem Taschenmesser.

»Es muß sein,« sagte er kurz entschlossen, holte zum Stich aus und setzte zwei haarscharfe Schnitte dicht nebeneinander, aber so plötzlich, daß der arme Zylinder unmöglich Zeit finden konnte, seine Empfindung in gehöriger Weise zu äußern. Er piepste nur, und da lächelte Moritz und sagte: »Kurz ist der Schmerz, doch ewig währt die Freude,« wobei er hinter sich griff, die beiseite gelegte Dahlie erwischte und den langen Stengel in die beiden Schlitze hineinpraktizierte. Den also geschmückten Hut schlenkerte er alsdann mit einer gewissen Grandezza auf den Kopf, gab ihm noch einen ordentlichen Druckser nach rückwärts und verließ mit seinen Sträußen die Schwelle des wäscheblauen Häuschens. Ein putziger Georginenkönig stolzierte er hierauf durch die stillen Straßen von Sankt Anne ter Muiden.

Er war nicht mehr der armselige Moritz von früher! – Schöner, nein – schöner war Moritz Dütz-Josum in den letzten vierzehn Tagen allerdings nicht geworden. Der aus dem Hohlspiegel ins Leben gestolperte Mensch mit dem zwergigen Körper und den langen Spinnengelenken blieb er auch heute noch, aber bei seiner nun erworbenen Ellenbogenfreiheit fühlte er sich seelisch gehoben, sah er die Welt mit anderen Augen an und kam sich vor wie ein Wiedehopf, der sorgenlos über eine junge Frühlingswiese stelzte und sich in die angenehme Lage versetzt sah, neue Entwürfe, Projekte und ihm zusagende Ideen aus der ergiebigen Erde zu wurmen, eine Rolle, in der er sich trefflich gefiel, und die er durch die aufgesteckte Kaktusdahlie noch lebenskräftiger und wahrscheinlicher machte. Nu aber vorwärts! – und mit dem festen Vorsatz im Herzen, Wilhelmintje und Bernadintje, der Modellsteherei wegen, endgültig zu versöhnen, marschierte er auf das Bottertje'sche Anwesen los, nahm einen feierlichen Gang an und überschritt die ihm zunächstgelegene Schwelle, wo ihn Wilhelmintje empfing und mit allen Ehren in den Thronsaal geleitete. Der Besuch mußte Wunder getan haben, denn als Moritz nach viertelstündiger Anwesenheit das Haus wieder verließ, erschien Wilhelmintje mit dem Strauß in der Hand hinter ihm, blieb zwischen Tür und Angel stehn und wischte sich heiße Tränen von der Wange herunter.

»Sie sind ein edler Mensch,« sagte sie leise, »und für Ihre Nobilität bekommen Sie von jetzt an Ihren Zucker für gratis. Ein Viertel Pfund alle Wochens.«

Damit steckte sie ihr appetitliches Gesicht in die Georginen hinein, zog es aber mit gelber Nasenspitze wieder heraus, mit einer knallgelben Nasenspitze, die aussah, als wäre sie mit Safran einbalsamiert worden. Gleichzeitig legte eine Drehorgel auf der Dorfstraße los und spielte: »Hab' ich nur deine Liebe . . .«

Da schluchzte Wilhelmintje vor tiefer Rührung auf, gab Moritz noch einmal die Hand und verfolgte ihn mit feuchten Blicken, bis er hinter den beiden Oleanderbäumen verschwunden war.

Bald darauf die nämliche Szene! – Als er eintrat, las Bernadintje im ›Löwen von Flandern‹, wobei sie, der Genauigkeit wegen, die einzelnen Zeilen mit ihrem Zeigefinger verfolgte. Sie klappte das Buch zu. Kerzengrade stand sie in ihrer blankgescheuerten Stube, als Moritz in schöngesetzter Rede seine Entschuldigung vorbrachte und des längeren erklärte, warum er eigentlich erschienen sei. Als er aber mit der Sentimentalität kam, die rührendsten Worte fand, alles nur so hingeschmalzt, und ihr schließlich mit einem ordentlichen ›Avec‹ das Bukett überreichte, da konnte sich Bernadintje auch nicht mehr halten: sie steckte ebenfalls ihr blankes Näschen in die Georginen hinein, brachte es ebenso kanarienvogelgelb, wie es ihrer Schwester passiert war, wieder zum Vorschein und mußte gleichfalls bitterlich weinen.

»Ach, Mynheer Moritz . . .!« sagte sie schluchzend, indem sie sich abwechselnd mit dem Bukett und dem herausgeholten Taschentuch gegen die Augen tupfte, »ach, Mynheer Moritz . . .

Mehr konnte sie in diesem Augenblick nicht von sich geben; sie konnte dem braven Menschen nur tief in die Augen sehen, und da vergaß sie sich und die Schnapsbouteille auf dem gemalten Bilde, sah nur den genialen Künstler in ihm und die große, ehrliche Seele, die wie eine purpurrote, brennende Rose aus seiner etwas fadenscheinigen und sehr einfachen Weste hervorleuchtete. Gott – ja! – ihre Schwester hatte schon recht, als sie ihn damals schlicht und einfach geschildert und auf seine inneren Vorzüge hingewiesen hatte. Man soll eben einen Menschen nicht nach seinem Äußeren taxieren, vornehmlich dann nicht, wenn er so 'nen feinen Plie und so eine vornehme Gemütsart hatte. Hand aufs Herz, wenn sie ihn so richtig betrachtete, dann war er überhaupt gar nicht so ohne – und diese Erkenntnis nunmehr als selbstverständlich hinnehmend, ging sie mit ihren Gedanken in die Vergangenheit zurück, dachte an Basilius und an das, was er ihr alles angetan hatte, wuscherte so 'n bißchen in der Gegenwart herum, dann wieder guckte sie über ihren dicken Georginenstrauß fort auf Moritz und fand, daß er bei seiner männlichen Schönheit außerdem noch mit einem Ziegenbärtchen und einem properen Schnäuzchen aufwarten konnte. Sie schluckte denn auch ihre Tränen herunter, wurde sprechselig und erzählte, wie sie nun so ganz allein als ›Koopmannsfrau‹ mit ihren ›Inwohners‹, mit Klaartje und ihrem porzellanenen Kanarienvogel in Sankt Anne wohne und sich schlicht und recht über Wasser zu halten verstände. Hierauf kam sie wieder auf Basilius zu sprechen, der mit der noch jungen Ehehälfte des Manufakturisten Luis Gielen aus Lisseweghe auf- und davongegangen sei und sich mit ihr verheiratet habe, und wie sie nun selber als ledige Frau ihr eigenes Vermögen, das, außer dem immobilen Besitz in Sankt Anne, aus zehntausend Gulden bestände, ohne männliche Hilfe verwalten müsse. Sie erzählte immer fort, bis sie aufs neue ins Schluchzen geriet und das gelbe Näschen abermals in den dicken Blumenstrauß hineindrückte, um ihre innere Erregung besser verheimlichen zu können.

Moritz hatte auch seine eigenen Gedanken. Er vergegenwärtigte sich seine armselige Jugend, das stickige Zimmer, wo die Lade wuchtete, Vater und Mutter immer hüstelten, und die Ratten mit blutroten Äugelchen um den leeren Brotschrank quieksten und polterten, daß es einem ordentlich in die Beine fuhr. Hatte er überhaupt glückliche Tage gehabt? – Die letzten – ja, aber die übrigen Tage? Das war ja ein Hundeleben gewesen, ohne Ordnung, ohne Lichtblicke, ohne das zarte Walten einer liebevollen Hand, die die Sorgen fortscheuchte und alles zum besten richtete. Hatte ihm überhaupt jemals ein weibliches Wesen gesagt: »Bitte, Moritzchen, nu lege endlich mal deinen Pinsel beiseite und setze dich recht gemütlich in die Sofaecke; ich setze mich zu dir, und dann trinken wir ein leckeres Täßchen Kaffee zusammen?« – Hatte ihm das jemals auch nur eine andeutungsweise gesagt? Niemand hatte ihm so liebevoll zugeredet, geschweige denn ein genügliches Fräuchen – und da sah der Ärmste ganz bedrückt in der Stube umher. Er bemerkte das schöne Sofa und die Kaffeetassen im Glasschrank und den Kanarienvogel im blankgeputzten Messingkäfig und die weißen Gardinen und den warmen Sonnenschein, der in das Zimmer hineinflutete – und er sah, daß alles recht schön war. Noch mehr: er sah Bernadintje vor sich, wie sie dastand mit ihren roten Bäckchen und dem glattgescheitelten Haar und den Goldspiralen, die aus dem zarten Spitzenhäubchen hervorsahen; er fühlte, daß sie trotz ihrer vierzig Jahre noch immer ein respektables Frauenzimmerchen abgab, und da drehte er verlegen seinen schäbigen Hut in den Fingern herum und wußte nicht, was er sagen und anfangen sollte.

Was wollte er, der von der Natur so vernachlässigte Mensch überhaupt in dieser Wohnung, bei diesem Weibchen, in diesem häuslichen Frieden? Was sollten im besonderen seine Gedanken bezwecken? Sie konnten nur stören.

»Marasmus! – Marasmus . . .!« sagte er leise.

Sein früheres Elend kam über ihn. Moritz fiel total aus der Rolle des Georginenkönigs und sah betrübt zu Boden. Ja – er konnte nur stören.

Bernadintje hingegen war anderer Ansicht. Sie rückte einen Schritt vor, fuhr sich verlegen über die Schürze, klingelte mit ihren goldenen Ohrgehängen und meinte treuherzig: »So ist das denn alles gekommen. Und nu stehe ich hier mit meinem Häuschen und meinen Guldens als ledige Jungfrau, so zu sagen als höchstselige Witwe und muß mir überlegen, wer das alles mal in Erbschaft bekommen soll. Wilhelmintje besitzt keine Kinders, und ich habe auch keine Kinders. Aber Sie müssen mir exküsieren, weil ich das hier so erzählt hab'. Ja, Mynheer, es ist wirklich traurig, keine Kinders zu haben!«

Wehmütig blickte sie Moritz an.

»Aber, Bernadintje . . .!« rief dieser so recht aus dem Herzen heraus. Er hatte nichts Meckeriges mehr in der Stimme. Im Gegenteil: sie war weich und zart wie eine Eiderdune geworden.

»Aber, Bernadintje . . .!« rief er noch einmal.

Da kam das von draußen: »In dem Kostüm, so ganz intim . . .«

Gerade vor dem kleinen Häuschen hatte sich die Drehorgel postiert. Ihr Walzer drängelte sich lieblich durch die beiden Oleanderbäume in den Hausflur hinein und von da in die Stube, und weil Bernadintje in ihren jugendlichen Jahren mal eine auserwählte Tänzerin gewesen war, auch heute noch auf diese Kunst sich nicht wenig zugute tat, so fuhr ihr die sanfte Melodie durch und durch, und da ging das nicht anders: sie begann erst mit dem Köpfchen zu nicken, dann sich in den Hüften zu drehen und dann sich auf den Füßen zu wiegen.

»Ach, wie nett!« sagte sie lieblich und konnte ihrer inneren Unruhe nicht mehr gebieten.

Und Moritz sah das; er streckte ihr seine langen Arme entgegen, als wenn er sagen wollte: »Darf ich?«

Und Bernadintje nickte: »ja«, und da zog er sie an sich und walzte mit ihr über die schönen, blanken Dielen und dann um den weißgespreiteten Tisch herum und dann in den Hausflur und dann wieder in die Stube hinein, aber fein säuberlich und von dem heimlichen Gedanken beseelt, so mit ihr durchs ganze Leben zu tanzen, um endlich mal glücklich zu werden.

»Ach, Bernadintje . . .

»Ach, Moritz . . .

Als die Drehorgel verstummte, legte Bernadintje ihren Kopf an seine Brust, und er küßte sie herzlich, und sie hatten nicht acht darauf, daß jemand leise ins Zimmer getreten war, so selig war der arme Moritz, so freudig bewegt war Bernadintje Bottertje, geborene Oemmertje-Donselaer, so weltvergessen waren beide geworden.

»Ach, Moritz . . .

»Ach, Bernadintje . . .

»O! – o! – o!« rief in diesem Augenblick eine zärtliche und doch ernsthafte Stimme. So ähnlich hatte sich vor ungefähr vierzehn Tagen Bernadintje bemerkbar gemacht, als Heinrich vom Hövel ihre Schwester mit einem herzhaften Küßchen beehrte. Jetzt aber rief Wilhelmintje – und da stürzte sich Bernadintje von der Brust Dütz-Josums an das warme und mollige Herz ihrer Schwester.

»Ach, Wilhelmintje . . .

»Mynheer,« sagte diese, »exküsiert, aber ich und Ihre liebwerte Braut müssen jetzt ein Stündchen allein sein.«

Da machte sich Moritz still auf die Socken.

»Ach,« lächelte die Glückliche ihm nach, »er ist ja so 'n lieber Mensch!« und dann setzte sie selbstgefällig hinzu: »Wilhelmintje, er hat auch ein Schnäuzchen.«

»Wie ich gesagt hab'.«

»Ob er wohl wiederkommt?«

»Natürlich,« sagte Wilhelmintje, und da setzte sie sich mit der zukünftigen Madam Dütz-Josum auf das Sofa mit den gehäkelten Schutzdeckchen, liehen sich beide in Gedanken den größten Farbenkasten von Moritz, rührten Kremserweiß und Krapplack gehörig durcheinander und pinselten das Gesicht der Zukunft mit den rosigsten Farben aus. Der porzellanene Kanarienvogel nickte dazu, die liebe Sonne sah immer schöner ins Zimmer hinein, die beiden Oleanderbäume verstreuten weiße und zartrote Blüten über den Eingang, als wenn der Hochzeitszug heute schon losgehen sollte. Aber der Orgelmann war weiter gegangen, drehte aus Leibeskräften und spielte:

»Wir winden dir den Jungfernkranz
Mit veilchenblauer Sei – ide.«

Von diesem Tage an herrschte ein stilles Glück unter den Dächern des indigoblauen und des khakifarbigen Häuschens, vor dem die beiden Oleanderbäume standen, die noch geraume Zeit hindurch ihre duftigen Blüten verstreuten. Vor der Hand sollte das Verlöbnis noch ein Geheimnis bleiben, zumal die Hochzeit erst für das kommende Frühjahr gedacht war, und Bernadintje jegliches Aufsehn vermeiden wollte. Allein im Mistbeet der Heimlichkeit gedeihen die Rosenstöcke der Liebe am besten. Die beiden standen oft davor und sahen zu, wie das alles blühte und grünte und sich mit herrlichstem Flor gab. –

Über Sankt Anne zog ein süßer, schwerer Sommerduft. In den nahegelegenen Roggenfeldern rauschte die Sichel. Unermüdlich, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, ging ihr eigentümliches Singen und Näseln über die vlämische Landschaft. Im stetigen Einerlei reihte sich Stunde an Stunde. Noch öfters ertönte das Orgelspiel aus der kleinen Kirche. Mit seiner feierlichen Stimme zog es weit in die Felder hinein; dann hielten die Schnitter mit ihrer Arbeit inne, nahmen ihre Mützen herunter und horchten andächtig auf die frommen Weisen des deutschen Predigers. Ja – ein süßer, schwerer Sommerduft zog über Sankt Anne, die freundlichen Dächer blitzten in der klaren Luft, die blaugrünen Pappeln säuselten so träumerisch und verloren darüber hin, als hätte der Friede hier Heimatsrechte und könnte niemals seines Asyles beraubt werden. So schien es wenigstens, und dennoch war es so, als ginge ein hoher Schatten von unbestimmter Gestalt durch die einsamen Straßen, als bliebe er vor dem Häuschen mit den Oleanderbäumen stehen und sähe von hier aus in die Zimmer, die Erasmus van Dornick mit seiner Tochter bewohnte. Niemand sah diesen Schatten und konnte ihn sehen; trotzdem war er da, reckte sich auf und stierte mit glanzlosen Augen durch die geöffneten Fenster.

Seit dem ersten Begegnen in der Kirche von Sankt Anne war eine Woche vergangen. Heinrich vom Hövel täuschte sich nicht. Er sah die geheimnisvolle Arbeit einer rätselhaften Gewalt, die Vergangenes mit den gegenwärtigen Tagen verknüpfte. Wechselbeziehungen eigentümlicher Art traten hier in die Erscheinung, die von der Norm des gewöhnlichen Denkens und Fühlens wesentlich abwichen und unter dem Einfluß eines zwingenden Kultes Tod und Leben, Wirkliches und Wesenloses, Natürliches und Übernatürliches derart vertauschten und ineinander flochten, daß er kaum zu unterscheiden vermochte, wo das wirkliche Leben begann und die Erinnerungen an den Tod von einem gewesenen Dasein erzählten. Er sah das alles und fühlte das alles; aber er hoffte auch auf eine glückliche Lösung der Dinge, auf eine Lösung, die das Leben siegreich machte und es befähigte, endlich mit stiller Resignation das Grab einer verstorbenen Liebe zu schmücken und das Wiedererwachte, das gleichsam aus dem Grabe Erstandene, mit starken Armen an sich zu reißen. Ostern und Auferstehung! – und Heinrich vom Hövel hoffte darauf wie auf eine Offenbarung des seligen Frühlings. – Auferstehung! – auch ihm, Hans Behrend, hatte sich in diesen Tagen eine große Erkenntnis aufgedrängt, die ihn ansah mit ernsten Augen und ihm das Geheimnis der Jerichorose erklärte, jener mystischen Blume, die schöner ist denn alle übrigen Blumen und, wenn auch abgestorben und welk, dennoch wieder zum Leben erwacht, wenn heiße Tränen sie netzen und ein Herz sie begehrt, das inniger und verlangender schlägt, als die Herzen der übrigen Menschen. Schon damals nach dem ersten Begegnen, unter dem Abendhimmel in den endlosen Wiesen, die in Myriaden von Tautropfen ihr Bildnis widerspiegelten, war ihm diese Erkenntnis gekommen, befehlend und scharfumrissen. Er konnte nicht irren: sie ruhte nicht mehr in der Liebfrauenkirche zu Brügge, sie war nicht verunglückt auf dem Wege zur Punta Tragara, am Fuß der Faraglioni, wo jenseit von Anacapri eine silberne Helle sich ausbreitete, die den Golf von Neapel mit Flittersternchen bestickte. Niemals hatte er dort von ihr Abschied genommen. Sie war nicht gestorben, sie hatte überhaupt nicht gelebt. Erst hier war sie ihm zum ersten Male begegnet, vor kurzem erst – und jetzt streifte sie oft in ihrer eigenartigen Schönheit, mit dem feinen Lächeln, das wunderselig und schmerzlich zugleich war, in der Fülle ihres goldenen Haares über die Dünen und die verlorenen Straßen von Sankt Anne ter Muiden. Und wenn er sie sah, wenn ihre weiße Hand ihn berührte . . .

Noch gestern war er mit ihr, in Gemeinschaft van Dornicks und seines Freundes, durch die weiten Felder und die silberigen Dünen gegangen, den warmen, stillen Sommerabend um sich her und das Säuseln der Halme, das ihm endlos erschien, wie das nahe Rauschen des ewigen Meeres. Mehr denn nötig hatte ihre Hand in der seinen geruht, als er sie auf die höchste Kuppe hinaufzog – und dann standen sie oben, flimmernden Sand zu Füßen, vor sich die unendliche Fläche, von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergoldet, und wieder wie damals, als der Seelenmensch über die Reling sah, zog ein Ostindienfahrer mit vollen Segeln vorüber, als führe eine große, unaufhaltsame Sehnsucht in das Land der Verheißung. In wachsender Erregung erschlossen sich ihre Blicke. Das Wasser rauschte herauf. So hatte es auch am Fuße der Faraglioni gesprochen. Regungslos sah sie gen Westen, wo der Abend Rubinenschnüre und helle Perlen verstreute. Er stand dicht neben ihr. Er glaubte in ihr eine Heilige zu sehen, die ihre Hand nur zu strecken brauchte, um alles Leid aus seinem Herzen zu nehmen. Unbewußt traten ihm die Worte in den Sinn, die da lauten: Erquicke mich, denn ich bin krank vor Liebe. Er kannte sie aus dem Hohen Lied Salomonis. Da wandte sie sich. Hatte sie seine Gedanken erraten? Sie mied seinen Blick nicht; sie suchte ihn. Ihre Augen hielten ihm stand; da wußte auch er, was ihr Inneres bewegte. Eine selige Luft stieg in ihm auf. War endlich für ihn die heilige Stunde gekommen? – Plötzlich veränderte sich ihr Antlitz. Sie rang nach Atem, ihre Lippen zuckten, als wenn sie sprechen wollten. Aber sie sprach nicht. Ihre Gedanken schweiften wieder über das weite Meer hin – und da wähnte er ein Dornenkränzlein unter ihrem Schleier zu sehen, das Schläfen und Stirne umgürtete und sich mit der schweren Masse ihres Haares verstrickte. Blutstropfen lagen auf den todbleichen Wangen.

Hochaufgerichtet stand sie neben ihm.

Ihre Brust hob und senkte sich.

Noch einmal suchte er mit ihren Händen in Berührung zu kommen.

Da sah sie ihn an mit unendlicher Wehmut.

»Nein,« sagte sie mit verhaltener Stimme.

Ihre Finger krampften sich.

Unauffällig war sie an die Seite ihres Vaters getreten – und dennoch . . .

Ein neuer Tag kam über Sankt Anne. Es war um die vierte Nachmittagsstunde. Anna van Dornick saß in dem Zimmer, das auf die Dorfstraße hinausging. Der violette Duft des Tages schleierte sich um den Fuß des mächtigen Turmstumpfes, der hinter den niedrigen Dächern aufstieg. Es lag etwas Weiches, Müdes in der Natur, ein melancholisches Träumen, das scheinbar wünschte, sich in den Dämmerungen des Abends zu wissen. Mit offenen, wachen Augen gingen ihre Gedanken zu den Dünen zurück. Sie verfolgte sie bis zu dem weißen Streifen, der die Küste von Walcheren begrenzte. Sie gedachte des gestrigen Abends und des stillen, königlichen Schiffes, das, alle Segel hoch und von einem unwiderstehlichen Verlangen getrieben, in das reine und große Licht der untergehenden Sonne hineinfuhr. Ja – sie sah es auch jetzt noch, sie verfolgte es mit klopfendem Herzen und einem Blick, der etwas Unersättliches hatte. Ach, wenn sie Flügel hätte – sie ließe sich mit ihm und ihrer verzehrenden Sehnsucht an Bord des stillen Schiffes tragen, um dann weiter zu fahren, dem heiligen Licht zu, dem unbekannten Lande entgegen, wo sie allein waren und niemand wußte, daß ihrem eigenen Leben etwas anhaftete, was besser nicht dagewesen wäre. Sie quälte sich in diesem Sinnen und Denken. Lange sah sie auf ihre Hände. Waren sie wundertätig? Würden sie helfen und konnten sie helfen? Durfte sie diese Hände strecken, damit sie ihm und ihr zum Segen gereichten? – Ihre Mundwinkel verzogen sich. Das war ja alles unmöglich! – Sie konnte nicht retten und durfte nicht retten – und, einem unseligen Zwange gehorchend, erinnerte sie sich an vergangene Zeiten, an einen Taumel, an das, was sie mit Schauder erfüllte und erfüllen mußte. Sie fühlte sich fortgetragen über Erde und Wasser, über weite, blühende Heide. Es war dunkel um sie. Sie sah sie nicht mehr, aber sie hörte nahe Kornfelder rauschen, und weit dahinten erblickte sie eine große Stadt mit unzähligen Lichtern. Dann kam das Geläut von Glocken herüber. Deutlich unterschied sie die einzelnen Stimmen. Sie kannte sie alle. So hatten sie schon früher geklungen; sie gab sich keiner Täuschung mehr hin. Es wäre auch vergebens gewesen. Ihr Geist konnte nicht fehlgehn. Er sagte ihr trostlos: »Wo die Lichter brennen, bist du schuldig geworden; da wolltest du über das Glück einer andern hinweg das deine gewinnen. Du erinnerst dich doch?« – und in diesem Erinnern . . . Nein – sie verhehlte sich nichts mehr, und dennoch ging eine liebestrunkene Welle über sie fort, die sie berauschte und mit narkotischem Duft umhüllte, als sollte sie noch einmal das klingende Leben genießen, um dann an einem geliebten Munde selig zu sterben. Schon gestern, am Meer, zwischen den Dünen war ihr dieses Begehren gekommen, dieses heiße Verlangen, so süß in seiner Qual und so sündig in seiner Unschuld. – Sie liebte mit der ganzen Macht ihrer Seele. Er mußte genesen . . . und dann wieder die Zweifel, die Klagen, das zähe Festhalten an bange, glückliche und doch so unselige Stunden, das Denken an vergangene Tage.

Erregt stand sie auf.

So fand sie ihr Vater, der aus dem Nebenzimmer trat, wo er gearbeitet hatte und jetzt gesonnen schien, einen Spaziergang zu machen.

»Willst du nicht mitgehn?« fragte er mit weicher Betonung. »Unsere Freunde warten schon draußen.«

»Nein,« sagte sie ruhig.

»Also – du willst nicht?«

Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

»Ich kann nicht,« sagte sie endlich.

Da strich er sacht über ihr Haar und sah sie mit großer Liebe an, aber auch mit tiefer Betrübnis.

Als sie aufblickte, hatte er das Zimmer verlassen. Sie war wieder allein, warf sich auf den Sessel zurück und umspannte die Lehne, als müsse sie unter dieser körperlichen Anstrengung ihre wunden Gedanken weniger schmerzhaft machen. Ihr Geist nahm wieder seine planlose Wanderung auf, unstet wie ein armes Licht, das in die Irre hineingeht. Bald darauf trat Klaartje ins Zimmer. Sie exküsierte sich vielmals wegen der Störung und daß sie nicht ihr Sonntagskleid anhabe, aber das sei ihre Pflicht, sie müsse unter allen Umständen die Sommerlevkojen begießen. Sie tat es denn auch in ihrer geräuschlosen und zierlichen Weise, drehte sich wieder dem Ausgang zu und schloß die Türe, als wären ihre Angeln auf Watte gegangen.

Jetzt störte sie niemand mehr. – Als Erasmus nach zweistündiger Abwesenheit zurückkehrte, fand er seine Tochter noch in derselben Verfassung. Da ging ein zuckender Schmerz über sein Antlitz. Er legte Stock und Hut beiseite und trat auf sie zu.

»Anna,« sagte er mit weher Stimme.

Sie wagte nicht aufzublicken. Sie wußte, was in ihm vorging und bangte vor dem traurigen Blick ihres Vaters.

»Anna . . .

Noch einmal klang ihr die liebe Stimme entgegen. Da richtete sie sich jäh und erschreckt auf.

»Ich weiß,« sagte er bewegt, »daß das Menschenherz Wandlungen unterworfen ist. Es wäre töricht von mir, dieses verneinen zu wollen. Es kann nicht immer jubeln und Heiterem nachsinnen, es muß auch Tage geben, wo es sich im Traurigen gefällt und Tränen findet – aber dein Herz steht immer in Tränen. Schüttle den Kopf nicht. Weise mich nicht ab. Es ist so. Was ich dir früher schon sagte, die Vermutung, die bei mir als Samenkorn ruhte, hat Wurzeln geschlagen und ist bei mir zur Überzeugung geworden. Mit dieser Überzeugung sehe ich dein armes Herz an und fühle: es hat nicht Ruhe und Rast mehr des Lebens und keinen Gefallen an dem, was das Leben uns bietet. Es ist trostlos geworden, und warum es so wurde, will ich dir unumwunden sagen. Dir fehlt der Friede in Gott. Ein Schatten liegt um dich. Er steht neben dir, er ist über dir, er drängt sich zwischen Vater und Tochter und macht sie fremd und lieblos gegeneinander. Seit gestern ist er übermächtig geworden; er läßt dich am Dasein verzweifeln. Kind, Kind, Kind!« fuhr er auf, »hast du mir denn gar nichts zu sagen?! – Weißt du denn nicht, bei wem du Trost finden könntest?!«

Seine Worte erstickten.

Bewegt hielt er die Arme gebreitet.

»Bei dir, bei dir!« schluchzte sie auf und warf sich an seine Brust. Nun ruhte sie bei ihm, und seine Hand glitt über ihr Haar, als wenn sie über ausgesponnenes Sonnengold ginge; dann begann er auf sie einzureden, ohne sie aus den Armen zu lassen: erst leise, verhalten, dann immer eindringlicher, wachsender, mächtiger werdend, um dann wieder einzulenken und in Flüsterlauten zu sprechen, wie sie der Abendwind hat, wenn er die müde Erde erlösen will von ihrem Sorgen und Schaffen während des Tages.

»Drum folge mir,« sagte er ruhig, »Ein frischer Hauch muß über dich gehen. Er muß dich mit seinen Schwingen berühren, damit du lernst, wie man die Welt mit Kinderaugen betrachtet. Sie muß doch endlich kommen – die Stunde, aber sie kommt nur, wenn du wahrhaft gewillt bist, den Frieden Gottes und den eigenen Frieden an dich zu ziehen. Ohne ihn ist alles eitel und nichtig, denn alle, die ihn nicht wollen oder von sich abgewehrt haben, müssen zuschanden werden und elend verderben, denn sie verlassen den Herrn, die Quelle des lebendigen Wassers und den Hort der Betrübten.«

Sie warf sich in seinen Armen herum.

»Vater . . .!« stöhnte sie mit zerrissenen Lauten.

»Was soll ich?«

»Daß ich mich gräme und keinen Ausweg mehr finde.«

»Suche ihn, und du wirst leben.«

»Nein – ich kann ihn nicht finden.«

»Alle, die guten Willens sind, können ihn finden. Aber du liegst im Zweifel mit dir, mit Gott und den Menschen. Über einen Toten pflegt man zu trauern, denn er hat das Licht nicht mehr. Das ist irrig von den Menschen und ihren Gebräuchen. Man sollte um ihn nicht trauern, denn er ist doch zur Ruhe gekommen, über ein falschgeleitetes Herz aber, das sich besserer Einsicht verschließt, sollte man weinen, denn solches ist schlimmer als der Tod und bringt andere ins Unglück. Mein Kind, wenn ich so alles bedenke, wenn ich ansehn muß, wie dein früher so harmonisches Leben auseinanderflattert, wie unsere wechselseitigen Beziehungen immer lockerer und lockerer werden . . .«

Er suchte sich aus ihrer Umarmung zu lösen.

»Ich will endlich Ruhe haben,« sagte er heftig. Seine Stimme war hart vor innerer Erregung geworden. »Suche den Frieden in Gott. Folge der warnenden Stimme – und wenn du ihn nicht finden kannst, wenn dir der Mut fehlt, es dir hierzu an Kraft gebricht, so sage mir endlich, was dich hindert, das Gleichgewicht deiner Seele zu gewinnen.«

Sie antwortete nicht. Immer fester umschlang sie ihn und ließ nicht ab, – ihr Haupt krampfhaft an seine Schulter zu schmiegen. Und wieder das verzweifelte Schluchzen, das Klagen, das Suchen und Tasten in ihr und das bestimmte Wissen von dem, was sie wollte und nicht wollte und doch – was sie mußte . . . Und wenn es die ganze Welt gekostet hätte: jetzt nicht mehr; sie war nicht mehr willens, den Kelch ihrer Liebe und ihres Leides bis auf die bittere Hefe zu leeren.

Und da erkannte Erasmus. Sie drängten sich an ihn heran: die entsetzlichen Stunden aus vergangenen Tagen mit all ihren Einzelheiten, mit all ihrem Hangen und Bangen, die ihm die Haare ergraut und den Nacken tiefer gebeugt hatten. Er war wieder der Alte mit der flammenden Ader geworden, der Unerschütterliche, der Kanzelredner von früher, der es verstanden hatte, die Menschen zu führen und die Abtrünnigen reuig in die Knie zu zwingen. Das Feuer unter der Asche glühte bedrohlich. Das Vulkanartige in seiner Natur wollte die Oberhand haben.

»Du . . .!« sagte er flammenden Auges.

Mit beiden Händen ergriff er ihre Gelenke, umklammerte sie und drückte sie von sich.

Erasmus van Dornick glaubte seine Stunde gekommen. Er reckte sich auf. Mit einem starren Ruck hatte er die Haare in den Nacken geworfen. Nichts Väterliches mehr; der rücksichtslose Prediger trat hervor. Ein lähmender Frost ging von ihm aus. Er berührte sie mit eisigen Fingern.

»Was willst du von mir?« fragte sie auffahrend.

»Deine und meine Ruhe,« sagte er mit schartiger Stimme, »ich will endlich Einsicht gewinnen von dem, was ist und kommen wird. Noch ist nicht alles verloren. Breite die Falten deines Herzens vor mir aus, aber zwinge mich nicht, daß ich in den Worten Jeremiä zu sprechen habe: Er hat dich geführet und lassen gehen in Finsternis und nicht in das Licht. Er hat mich mit Bitterkeit gesättigt und mit Wermut getränket. Unserer Herzen Freude hat ein Ende und unser Reigen ist in Wehklagen verkehret . . . Auf daß ich nicht spreche zur Tiefe: Versiege; zu den Strömen: Vertrocknet, und zu dir: Gehe des Weges; wir haben kein Leben mehr gemeinsam und kein Teil mehr zusammen. – Und nun begegne mir offen, wenn du nicht willst . . .«

Er ließ ihre Hände fahren.

»Ja, du – wenn du nicht willst, daß ich zum Äußersten käme. Ich frage dich jetzt zum letzten Male und im Hinblick auf deine selige Mutter: Willst du den Frieden in Gott – und wenn du ihn willst, wirst du ihn finden?«

Sie war rückwärts getreten, und ihre Brust ging schwer.

»Nein,« sagte sie heiser, »ich kann ihn nicht finden.«

»Warum nicht?«

»Weil was zwischen uns steht. Weil ihm der Weg versperrt ist. Über das können er und ich nicht hinüber.«

»Über das, was früher passiert ist?«

»Ja.«

»Also doch wieder die alte Geschichte?!«

Seine Stimme brach ab.

»Ja,« sagte sie leise.

»Dacht' ich's mir doch!« kam es wie ein Schrei aus seiner Brust heraus, »und ich Tor wähnte bis gestern, sie wäre gestorben für immer.«

»Wäre sie es,« kam es schmerzlich zurück, »so stände es besser um mich, aber sie ist nicht gestorben für immer.«

»Ah – du . . .

Drohend war der Prediger näher getreten.

»Ich konnte nicht anders!« schrie sie verzweifelt auf. »Ich war damals ein Kind, wenigstens der Besinnung nach, dem Überlegen nach. Ich war wie betäubt, wie verstört, wie in einem Wahnsinn befangen.«

Sie warf sich im Oberkörper zurück.

»Nein – ich konnte nicht anders!«

»Was . . .?!« fuhr er sie an, »du konntest nicht anders? So geht der Mund der Toren, die niemals anders können, wenn sie in Sünden geraten. Für den lauteren Menschen jedoch gibt es keine Leidenschaft, deren Autorität er sich unterwerfen müßte, keine noch so zwingende Begier, die er nicht zu zügeln und zu lenken vermöchte. Und du . . .?! – Weißt du nicht, daß der Mensch etwas besitzt, das sich die Stimme des Gewissens nennt?! – und geschrieben steht: Du sollst nicht begehren.«

»Vater . . .

»Ja – du hast trotzdem begehrt und wußtest, daß er ein verheirateter Mann war.«

»Schuldig, schuldig!« stöhnte sie auf, als habe sie den schmerzhaften Hieb einer Peitsche empfangen. Ihre Brust war zum Zerspringen. Kreuzweise legte sie ihre zuckenden Hände darüber. Unter dem Zwang einer dämonischen Gewalt sank sie langsam in die Knie. Verstörten Gesichtes, wahllos die Worte nehmend, brach es in ihr los. Ihre Gedanken überstürzten sich, malten ihr eigenes Verschulden größer denn nötig. »Ja – ich bin sündig gewesen,« sagte sie wimmernd. »Ich wollte ihn ja damals vergessen, an nichts mehr denken . . . Ich bangte vor ihren Augen, vor den Augen seines Weibes . . . Da kam sein heißer Kuß über mich . . . Ich ließ es geschehen, und aus diesem Geschehen wuchs die Flamme heraus, die uns beide verzehrte . . . Ich zerstörte sein Glück . . . Ich machte ihn schuldig und muß wieder aufbauen, was ich zerstörte . . . Ich weiß ja, daß alles zu nichts führt, aber es muß seinen Gang gehn, wie es auch gehn mag.«

Die letzten Worte gingen in ein krampfhaftes Lachen über, und das Lachen wandelte sich in ein herzzerreißendes Schluchzen, das sich nicht beruhigen wollte.

Der Prediger verfärbte sich.

»Und wußte sie darum, ich meine, wußte sein Weib darum, was alles passiert war? Mir gegenüber hast du damals geschwiegen. Antworte jetzt. Wußte die Ärmste darum?«

»Nein,« sagte sie schmerzlich, »erst nach ihrem Tode raunten es sich die Menschen zu, weil sie glaubten, ich hätte das Unglück verschuldet. Erst nach ihrem Tode begann das Gerede.«

»Da brach der Skandal los, dem ich zum Opfer fiel,« keuchte Erasmus.

Wiederum hatte er das Handgelenk seiner Tochter umspannt und sie an sich gerissen.

»Was tust du mit mir?!« schrie sie gellend.

»Ja – du, da ging der Skandal los. – Ich duckte mich wie ein Tier. Ich ließ meine Stellung, mein Ansehn, mein Amt, ich ließ meine Kanzel, wo ich mit Gott und den Menschen sprechen durfte, ich ließ das, was mir ans Herz gewachsen war, wie die Borke um die Seele des Baumes, um hier in Brügge deine und meine Minderwertigkeit vor den Blicken der Menschen zu verbergen. Was ich darunter litt, mag nur der ermessen, dem es allein vergönnt ist, zu sagen: Erasmus, komme, mache dich fertig, mit dieser Stunde hat deine irdische Pilgerfahrt Ende und Ziel erreicht. Du kannst dich schlafen legen, deine Zeit ist gekommen. Ich bin dein Herr und Gott. – Und nun . . .«

Er suchte nach Atem. Seine aufgerissenen Blicke standen über ihr wie zuckende Lichter.

»Und nun . . .« sagte er drohend, befehlend, mit herrischen Worten, »es muß endlich Klarheit zwischen uns werden. Mehr wie zwei Jahre sind darüber vergangen. Was gedenkst du zu tun?«

»Ich weiß keinen Ausweg. Er wollte, wenn alles vorüber, wenn das Gerede aufgehört hätte . . . Er versprach mir . . .«

»So – er versprach dir?! – und du . . .

Ein hartes, trockenes Lachen erschütterte seinen Körper, als er das sagte.

»Ich weiß es ja nicht!« schrie sie auf und suchte aus seiner schnürenden Hand zu kommen, die ihr Gelenk wie eine Fessel umstrickte. »Es ist alles zertrümmert.«

»Und du hast ihn nicht wiedergesehen?«

»Ja – hier in Brügge habe ich ihn wiedergesehen.«

»Wann?«

»Vor kurzem.«

»Bei welcher Gelegenheit?«

»Als er vom Auswärtigen Amt nach London versetzt wurde.«

»Zur deutschen Botschaft?«

»Ja.«

»Seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?«

»Nein.«

Der Prediger atmete auf.

»Und du liebst ihn noch immer?« fragte er wieder.

»Damals – ja.«

»Und jetzt?«

Sie gab keine Antwort.

»Ich meine, wenn er jetzt käme, wenn er vor dich hintreten sollte und dich an sündige Tage erinnerte, wenn er dir sagen würde: Wir wollen ein anderes Leben beginnen, die Schuld in Unschuld verkehren, aber sie sind doch schön gewesen die sündigen Tage – die kann uns niemand mehr nehmen . . . Was würdest du sagen?«

Seine Stimme klang fiebrig. Sie war metallos geworden.

»Er hat mein Gelöbnis,« sagte sie qualvoll.

»Und du gedenkst es zu halten?«

Sie suchte nach Worten, sie rang nach Worten; Verzweiflung und Jammer schrien in ihr auf.

»Ich muß ja, ich kann ja nicht anders!«

Sie streckte die Arme. Machtlos, wie gelähmt sanken sie wieder an ihrem Leibe herunter.

»Aber ich wollte . . .«

»Was wolltest du?«

Da sah sie ihn starr und leblos an.

»Ich wollte, er käme nicht wieder – oder: ich wäre gestorben.«

Das traf.

»Her zu mir!«

Sie hörte noch die gellenden Worte, die halb Jubel, halb Kummer verrieten. Wie Sturmgeheul, wie das Branden einer endlosen Welle ging es über sie hin. Der Prediger hatte sie an sich gerissen.

»So löse das Bündnis!«

Wie ein befreiender Ruf klang es ihr zu.

»Wenn ich es dürfte . . .«

»Du darfst – denn tätest du es nicht: ich glaube, du lästertest noch das arme Weib im Grabe, und die Tote ließe dich keine Ruhe mehr finden. Du sollst nicht begehren.«

»Schuldig, schuldig!«

»Anna, mein Kind!« flüsterte Erasmus van Dornick und seine Arme umstrickten sie fester. »Folge dem, der dich lieb hat.« Seine Stimme wurde milder und milder, seine Hände glitten über ihre duftigen Haare. »Anna, mein Kind! – sei nicht wie ein Falter, der sich immer und immer wieder zur Flamme kehrt, denn die Flamme verzehrt dich. Folge dem ruhigen, stillen und großen Licht der Erkenntnis. Friede in dir – das ist Gottesfriede. Anna, mein Kind! – nur so wirst Du glücklich. Gottesfriede ist Menschenfriede.«

Und er beugte sich nieder.

Und als er sich beugte, da senkte sich auch der Abend auf Land und Meer, und es war wie von Stimmen der Seligen zwischen Himmel und Erde.

 


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