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Es war an demselben Tage, allein der Abend ging schon in Schlafrock und Plüschpantoffeln herum, trug ein gesticktes Troddelmützchen und qualmte seine Pfeife Tabak durch die stillen Felder. Er rauchte ›Abraham Berg en Zoon‹. Es lag wie Haarrauch in der Luft. Mit langen Stelzbeinen häkelte er sich über Bäume und Gräser. Es war nur ein feinmaschiger Hauch, aber stark genug, der Landschaft ein ungewöhnliches Aussehen zu geben – und das kam daher, weil der Mann im Schlafrock »Abraham Berg en Zoon« rauchte und in aller Forschheit dichte Wölkchen verpaffte. Die Wetterfahnen zeigten Nordostwind. Irgendwo in Gelderland mußten sie Heide verbrennen. Die langen Stelzbeine arbeiteten weiter; die Gegend nahm einen zartblauen Duft an.
Die Malvenstöcke blühten nicht mehr, dafür standen die prächtigsten Sonnenblumen vor den Häusern und in den kleinen Vorgärten – pausbäckige Damen, so eine Art von Kuhstalldragonern in der Pflanzenwelt, die sich für die Kirmes herausgeputzt hatten, und wenn Moritz Dütz-Josum irgendwo auf ein auserwähltes Stück von Frauenzimmer stieß, pflegte er immer zu sagen: »Aufgeschirrt wie 'ne Sonnenblume von Sankt Anne ter Muiden.« Und das von Rechts wegen. Die schönste jedoch sah in den Thronsaal hinein, wo an diesem Abend Wilhelmintje und Bernadintje hinter ihrem plaudernden Teekessel saßen, und der Seelenmensch seine stakeligen Beine bequem unter den Tisch streckte. Vor knapp einer Stunde an Land gegangen, hatte er hier in Erwartung Jan Bottertjes Anker geworfen, um nach dessen Rückkehr eine Portion Proviant, bestehend in Zucker, Salz, Pfeffer und Kaffeebohnen, an Bord des Feuerschiffes zu lotsen. So saßen denn die drei köstlichen Menschen im Thronsaal, hatten Gott im Herzen und ›Ons Wilhelmintje‹ über sich und warteten mit Sehnsucht auf die Ankunft der längst fälligen Landkutsch. Sie sprachen nicht viel, warfen nur ab und zu ein verlorenes Wort hin, wobei jeder von ihnen gewissermaßen auf seiner eigenen Reepschlägerei stand, Schritt für Schritt rückwärts ging und seine Gedanken zu einem stattlichen Tau aushaspelte. Wilhelmintje simulierte darüber nach, ob Jan mit einem oder zwei, mit drei oder vier Genever nach Haus kommen würde. Alles war ihr gleichgültig – allein mit dem vierten Genever intus durfte er ihr nicht unter die Augen treten; denn wenn er es täte, wenn er wiederum als Admiral de Ruyter anschwimmen sollte . . . Herrgott, noch mal! – die Sache war überhaupt nicht auszudenken, dann konnte ein Unglück passieren . . . Als sie aber ihr Gedankenwerk näher besah, da waren Knuppen und Knoten darin, und jeder dieser Knuppen und Knoten erinnerte sie an den vierten Genever. Bernadintje ließ vier Stricknadeln gegeneinander klappern. Sie arbeitete an Moritz' Hochzeitsstrümpfen und spann dabei ihre Betrachtungen zu einem aalglatten Tau aus, zwischen dessen Fäden sie einzelne Vergißmeinnichtsträußchen steckte, die ihr die kommenden Jahre vergegenwärtigen sollten. Eins war so schön wie das andere. Das fünfundzwanzigste jedoch hatte einen besonders liebevollen Aufputz erhalten, denn es war mit silbernen Ähren und drei Rosenknöspchen geschmückt, eine sinnige Anspielung auf ihre zukünftige silberne Hochzeit und drei ganz kleine Dütz-Josums. »Ach, wie lief, wie lief!« lächelte Bernadintje, tat ordentlich verschämt, wie ein heuriges Häschen, strickte weiter und klingelte mit ihren Ohrgehängen, während der Seelenmensch ab und zu einen gehörigen Schluck Grog zu sich nahm, den ihm Wilhelmintje in einem hohen Stengelglas angesetzt hatte, und darüber nachgrübelte, wann er wohl den tiefsten Pegelstand erreicht haben würde. Ja – die drei hatten schon ihre eigenen Gedanken, Admiral de Runter-, Liebes- und Groggedanken, während der kupferne Teekessel allerhand närrische Geschichten erzählte, und ›Ons Wilhelmintje‹ sich in ihrem Krönungsornat auf den Zehen hob, um sich drei Zoll größer zu machen, geradeso, als wenn sie sagen wollte: Ihr drei da unten – du, Wilhelmintje, und du, Klaas Buhle, und du, Bernadintje – ihr alle drei seid schon prächtige Menschen! Habt man keine Bange! – Wir, Wilhelmintje von Gottes Gnaden, werden euch Unseren Königlichen Schutz angedeihen lassen, und wenn ihr mal so in die Nähe von Amsterdam oder »Het Loo« kommt, dann geniert euch man gar nicht, kommt man 'rein und trinkt mit mir ein leckeres Täßchen Kaffee zusammen.
Na, das war denn auch alles sehr schön, und der Seelenmensch nickte »Ja und Amen« dazu, und die dicke Sonnenblumendragonermamsell grüßte freundlich ins Zimmer, und der Abend ging im behäbigen Nankingschlafrock und Troddelmützchen am Fenster vorüber, tat äußerst gemütlich und rauchte seinen »Abraham Berg en Zoon« in so strammen Zügen aus seiner langen Pfeife, daß selbst die schnellen Schwalben benebelt wurden und höheren Flug nahmen. Auch das machte sich recht schön, allein der Seelenmensch fand ein Haar darin, denn wie der Abend so dicknäsig am Fenster vorbeispazierte und etliche Wölkchen in den Thronsaal hineinblies, setzte Klaas Buhle ein äußerst muffeliges Gesicht auf, zog die Brauen bedenklich in die Höhe und sagte so verloren vor sich hin: »Gefällt mir gar nicht – die Sache.«
»Woso nicht?« fragte Bernadintje, indem sie Hände und Strickstrumpf erwartungsvoll in den Schoß legte.
»Haarrauch!« erwiderte Klaas Buhle. »Mögen wir Seemänners nicht. Bringt konträrigen Wind, deckt die Feuer ein und setzt frische Seelen aufs Wasser.«
»Gott bewahr uns!« entsetzte sich Wilhelmintje, »du willst uns doch hier keine graulichen Geschichten erzählen?!«
»Gar nicht! – Aber daß ich's man sage. Das war um die nämliche Zeit vorm Jahr. Oder war's später? – Ja, es war später und ging auf Nacht zu. Gott's den Donner noch mal! – da kam auch so 'ne dicke Watte vom Land her, und vor uns war Licht, aber man dösig. – Schiff in Sicht, Kap'tän! – Mit richtigem Kurs? – Gottverdomie, kein Hand mehr zu sehen! – Nur Watte, Watte! – und dann ein Racken und Brechen – und dann sahen vierundzwanzig Seelen über die Reling. Die fünfundzwanzigste kam an Land und ist die vom Bestmann gewesen. Kann alle Tage noch einmal passieren. Der Klabautermann ist wieder unruhig geworden.«
»Bei Euch?« fragte Wilhelmintie.
»Jawoll. Der liebt so 'ne stickige Luft nicht. Die fühlt er voraus, und dann kann er keine Lichters vertragen. Und daß ich's man sage: mir soll's egal sein, wenn er immer die Lichters auspustet.«
»Und dann passiert was?« fragte Wilhelmintje entsetzt.
»Immer,« entgegnete Klaas Buhle mit unerschütterlicher Ruhe. »Kann noch vierzehn Tage dauern – aber kommen tut's, so wahr ich die Feuers bediene.«
»Wo?!« riefen die beiden Frauen fast gleichzeitig.
»In der Henster Bucht. Brauchen nicht gerade vierundzwanzig zu sein. Das Wasser ist auch mit einer zufrieden.«
»Aber, Seelenmensch . . .!«
»Jawoll, Wilhelmintje! – Früher fraß er uns aus der Hand, aber nu ist der Klabautermann des Deuwels geworden. Kariolt in den Wanten 'rum, sitzt stundenlang im mittelsten Feuerkorb und spuckt uns ins Essen hinein, nur aus purem Schmerz wegen des Malörs, das ihn langsam ankriecht. Das kann auch der Knasterbart eidlich beschwören. Ist ihm auch auf dem Ostindienfahrer passiert, als sie Basilius schwimmen ließen. Nu schwimmt er im Heißen Wasser herum – vor dem Passatwind. Glückliche Reise!«
Er spreizte plötzlich alle zehn Finger; seine weit aufgerissenen Augen sahen aus, als wären sie glasig geworden.
»Hu . . .!« sagte er leise.
Über die beiden Frauen kroch ein lähmendes Gefühl. Wilhelmintje vergaß ihre Knuppen und Knoten, die ihr bisher den verfluchten Admiral vor Augen gehalten hatten, während Bernadintje so in Not und Angst geriet, daß ihr selbst die Erinnerung an die Vergißmeinnichtsträußchen und die ganz kleinen Dütz-Josums keine Aufmunterung brachte. Sie war rein verbaselt. Der Mensch machte ja heute die tollsten Geschichten! Was hatte er überhaupt den Klabautermann in den Thronsaal zu bringen? Der gehörte draußen aufs Meer, zwischen die fettigen Teerjacken, aber nicht hier in den sorglosen Frieden, wo »Ons Wilhelmintje« eitel Pläsier und Genüglichkeit ausstrahlte und sie so liebevoll und ganz ohne königliche Allüren invitiert hatte, gelegentlich bei ihr ein Schälchen Kaffee zu trinken. Das wollte sie ja auch alles herzlich gerne besorgen, womöglich auch noch ihren lieben Moritz mitbringen – und jetzt war da so plötzlich der Seelenmensch mit seinen verrückten Geschichten dazwischen gekommen . . .
Nein – dieser Klaas Buhle!
»Ach, was!« meinte sie ängstlich, »das sind man alles dämliche Mouvements.«
»Gott's den Donner noch mal! – dämliche Mouvements, Bernadintje . . .?!«
In seiner ganzen Länge begehrte der Seelenmensch auf. Die blaßblauen Augen schimmerten wie transparente Glasscherben.
»Mouvements, Bernadintje . . .?!«
Der Mann sah aus, als wenn er mit seinem zerrissenen Gesicht und im triefenden Ölrock in Wetter und Sturm stände. Sturzwellen gingen über ihn fort – er sah zerfetzte Großmarssegel im Wind – die Sirene stieß ihren entsetzlichen Ton aus . . .
»Mouvements, Bernadintje . . .?! – Dann wartet mal ab, wenn erst die Feuer auf Steuerbordseite munter werden, und 'ne weiße See über die Back geht! – und wenn dann die armen Seelen . . .!«
»Hör' auf!« rief Wilhelmintje und hielt sich die Ohren zu, »da friert einem ja das Vaterunser im Munde zusammen!«
»Soll's auch!« versicherte der stakelige Mensch und schlug dabei mit seiner harten Hand so fest auf die Tischplatte, daß sie in allen Fugen krachte und stöhnte, und die Teetassen ängstlich zusammenklirrten.
»Hu . . .!« – und wieder spreizte er alle zehn Finger – »dann kostet's was! – 'ne Seele mindestens. Unter dem tut's die Heyster Bucht nicht und wenn's eine von Sankt Anne sein müßte!«
»Aber, Seelemnensch . . .!«
»Jawoll!« rief Klaas Buhle, »und wenn's eine von Sankt Anne sein müßte!«
Schwer sank er auf den Stuhl zurück; hastig griff er nach seinem Stengelglas. Nachdem er getrunken hatte, schob er ein neues Priemchen hinter die Backe. Er war wieder so ruhig wie eine ölglatte Fläche geworden, und sein Geist fuhr darüber hin wie ein schöner, schlanker Gaffelschoner vor flauer Brise, der, um besser vorwärts zu kommen, alle Leesegel hoch gemacht hatte. Kein Schaukeln und vages Denken war in ihm. Er hatte den Klabautermann und die Heyster Bucht und die armen Seelen vergessen. Das schwere Wetter lag hinter ihm. Er spuckte gemächlich aus und rückte Wilhelmintje sein Glas hin.
»Wilhelmintje, wenn ich noch um 'nen Grog bitten dürfte. Us't üh belieft . . .! – aber 'nen steifen.«
Er sah sie groß an. Die beiden Frauen rührten sich nicht. Sie befanden sich noch immer unter dem unheimlichen Druck des soeben Gehörten: Es ging ihnen etwas verquer. Nie richtige Stimmung wollte nicht aufkommen, und dabei schummerte der Abend immer stärker und dunkler ins Zimmer. Die dicke, fette Sonnenblume bewegte sich leise im Wind; ihr rundes Vollmondgesicht leuchtete zwischen dem Fensterrahmen. Hinter ihr waren die Kanasterwölkchen noch intensiver geworden. Die Welt lag in Schmaltebläue getaucht. Vereinzelte Schwalben segelten die Dorfstraße entlang. Aus den nahen Wiesen rauschten die Bäume herauf; kaum wahrnehmbar, aber in weichen und feierlichen Tönen hallte die Abendglocke herüber.
»Hm!« sagte Klaas Buhle und trillerte mit seinen harten Fingern auf der Tischkante herum. Er machte sich wieder an seinem Glase zu schaffen. Gemächlich schob er es näher an die Rumflasche heran.
»As't üh belieft, Wilhelmintje.«
Die regte und rührte sich nicht. Auch Bernadintje reagierte auf nichts mehr. Der einfältige Mensch hatte ihnen mit seinem Klabautermann und der weißen, wütigen See, die alljährlich ein armes Menschenleben gierig an ihre Brust zog, den ganzen Abend verdorben.
»Wilhelmintje . . .!«
Keine Antwort erfolgte.
»Denn nicht,« sagte Klaas Buhle in seiner unerschütterlichen Gemütsruhe, räkelte sich hoch und ging ans Fenster. Stumm und stur, ab und zu den Saft seines Priemchens in scharfen Spritzern auf die Straße befördernd, sah er in den Abend. Von seinem Platz aus konnte er den Brügger Weg bis zur Bizinalbahn verfolgen. Die Straße war menschenleer; nur in der Ferne wurde luftig gesungen. Donnerschlag noch mal! – er kannte doch die lustigen Stimmen.
»Höhö!« rief er plötzlich.
Das brachte Leben in die Bude.
»Was gibt's?« fragte Wilhelmintje. Gummiballartig schnellte sie in die Höhe.
»Die Landkutsch . . .! – Die Reisenden kommen!«
Bernadintje wollte schon hinaus, um Moritz an ihre übervolle Brust zu drücken; ihre Schwester jedoch vertrat ihr den Weg und sagte: »Keinen Schritt, Bernadintje . . .! – Wo die Mannskerle so spät vorfahren – nur ja nicht mit die Gefühle über den Zaun weg. Nur ja nichts merken lassen . . .« und in Erwartung der Dinge, die sich ihr bald präsentieren sollten, stellte sie ihre Hände in die stämmigen Hüften. Ihr ahnte Böses. Stocksteif waren ihre Blicke auf die Türe des Thronsaales gerichtet.
Und richtig – sie kamen.
»Hurra!« und nochmals »Hurra!« ging das auf der Straße.
»All right!« lachte der Seelenmensch zum Fenster hinaus.
Wilhelmintje rührte sich nicht.
»Laß sie man kommen,« meinte sie bissig.
Vom Bock aus grüßte Moritz fidel mit seinem Zylinder, während Jan, die Mütze schief auf dem Kopf und unter stetigem ›Hurra‹, die Landkutsch auf den hinteren Hofraum zu lenken versuchte. Im scharfen Trabe nahm er die Biegung, nahm sie aber zu kurz; die Räder stuckerten auf, und ein prächtiger Zuckerhut wurde hoch im Bogen aus dem Wagen geschleudert.
»Gott's den Donner!« rief Klaas Buhle.
»Egal!« brüllte Jan und fegte um die Ecke herum.
Wilhelmintje stand wie angeschmiedet.
Ein Kaffeesack folgte, platzte auf und verstreute seinen köstlichen Inhalt.
»Gott's den Donner!« rief Klaas Buhle zum andern, stürzte aus dem Zimmer, um noch zu retten, was zu retten war. Mit je einem halben Zuckerhut unter den Armen, den schmächtigen Kaffeesack an den Leib pressend, beehrte er kurz darauf wieder den Thronsaal, deponierte die geretteten Kolonialwaren auf den Tisch und sagte: »Gut gefahren – aber man von dämlichen Kerls. Wer keinen Schnaps vertragen kann, soll brackiges Seewasser saufen. Was, Wilhelmintje . . .?!«
Er schlug die Hände zusammen.
»Laß sie man kommen,« sagte diese, ohne mit den Wimpern zu zucken. Mitdem ließen sich auch schon die Stimmen der beiden Kistenreisenden im Hausflur vernehmen. Die von Jan dröhnte, als schriee er in ein leeres Bierfaß hinein.
»Moritz, gib mir 'nen Kuß!« rief er lauthals. »Was, Moritz?! – Wir zwei beide . . .! – Pottdorie noch mal, solche Kerls gibt's überhaupt nicht mehr zwischen hier und dem Nordpol. Du – der beste Freund van de Koning van Preußen, und ich . . . Aber jetzt man 'rein in den Thronsaal!« – und die Tür ging dabei so feierlich auf, als seien die alten Zeiten von 1653 wieder aufgewacht, und Admiral und Ratspensionär träten vor die Großen der Union, um ihnen zu melden, daß sie den verfluchten Engländern so 'n bißchen den Daumen in die Visage gedrückt hätten und jetzt alles seine Richtigkeit habe.
Jan legte die Hand an die Mütze und meldete: »Admiral de Ruyter . . .!« – Hinter ihm schwankte Moritz ins Zimmer.
»Ne, diese Kerle!« grinste Klaas Buhle. »Nu wird's Zeit, Wilhelmintje.«
Allein Madam Bottertje, geborene Demmertje-Donselaer, hatte keine Antwort für ihn. Ihre ganze Takelage war von unten bis oben mit Eis überlaufen. Nur ihre Äugelchen blieben kregel. Diese nahmen denn auch die beiden Eindringlinge energisch aufs Korn, genau so, wie es eine Tierbändigerin im Amsterdamer Bestentuin an sich hat, wenn sie zwei rebellische Biester in ihre Schranken weisen will.
»Alle Mann auf Deck!« kommandierte Jan und schwenkte seinen Admiralshut. »Los mit die eisernen Brummers! – Bum – bum – bum . . .!«
Jetzt wollte sie ihm in die Parade fahren. Aber sie hatte kein Glück damit, denn Moritz vertat sich, wie sich auch mal Jan vertan hatte, weil er des Glaubens sein mochte, in Wilhelmintje seine leibhaftige Braut vor sich zu haben.
»Komm her, Bernadintje!« sagte er lallend, steuerte mit gebreiteten Armen auf seine zukünftige Schwägerin los und klebte ihr einen herzhaften Kuß auf.
»Herrjeses!« fuhr nun Bernadintje dazwischen. »Moritz, du irrst dir, du irrst dir!« zog ihn kurzentschlossen an ihren weichen Busen, redete ihm gut zu, und da sie eine resolute Frau war, führte sie ihn, ohne lange Umstände zu machen, aus dem gefährlichen Bereich ihrer Schwester auf die Straße hinaus und von hier dem knallblauen Häuschen und den heimischen Penaten entgegen.
Der Admiral de Ruyter lachte ihm nach: »Gut gemacht, Moritz! – Brav gemacht, Moritz! – Los mit die eisernen Brummers!«
»Du – Schafskopp!«
Wilhelmintje hatte die erlösende Formel gefunden. Die Jacke wurde ihr zu eng. Sie hätte aus der Haut fahren mögen und schien willens, ihm den Admiralshut vom Kopfe zu holen.
»Woso?« fragte Jan.
»Daß du ein Peijatz bist!« sagte sie giftig.
»Admiral bin ich und kommandiere das Ganze,« rief er und legte sich forsch in die Weste. »Tops hoch! – und – weiß der Deuwel! – Moritz hat recht, weil er dir mächtig geküßt hat, denn alle seebefahrenen Männers und solche, die sich aufs Malen verstehen, haben das in der Angewohnheit, und weil ich der Oberste davon bin, tu ich dasselbige dito und erkläre Antje van Dornick für meine Geliebte.«
»Wen?!« schrie sie auf. Sie glaubte nicht recht gehört zu haben. Aus ihren Augen spritzten glühende Fünkchen.
»Antje van Dornick,« sagte Jan patzig.
Da war's alle mit ihr. Schritt für Schritt ging sie rückwärts, wie vor einem wildgewordenen Dromedar.
»Auch das noch, auch das noch!« rief sie verzweifelt aus und streckte beide Arme zur Decke. »Heilige Jungfrau von Sankt Anne ter Muiden . . .!« schlug sich die Hände vors Gesicht und wankte gebrochen dem Sofa zu. Der ganze Thronsaal mitsamt dem Inventar, die Lampe mit dem japanischen Schirm und der porzellanene Kanarienvogel kamen ihr drehkrank vor.
»Mein Gott und mein Leben!«
»Höhö!« lachte in diesem Augenblick der Seelenmensch auf, »ich fürchte mir nicht; wollen mal den Admiral in die Koje besorgen,« nahm Jan ins Schlepptau und bugsierte ihn zur Türe hinaus über den Flur in die Kammer hinein, wo hinter einer buntgeblümten Gardine die hochaufgestapelte und zweispännige Bettlade träumte.
Noch einmal hörte Madam Bottertje, wie Jan kommandierte: »Fregatte auf Steuerbordseite! – Tops hoch! – Los mit die Brummers!« – dann stoppte das allmählich ab, als hätte eine hungrige Welle den Admiral de Ruyter mit seinem Orlogschiff und all seinen prächtigen Flaggen in die Tiefe gezogen, und eine ruhige, glatte See läge jetzt über dem Helden und seinem Tagewerk. Nur von der Küche her fiedelte ein Heimchen – immer dasselbe, immer dasselbe! – und es fiedelte noch, als Klaas Buhle nach zehn Minuten mit einem schmunzelnden Gesicht zurückkehrte und seine verwitterte Hand sanft auf Madam Bottertjes Schulter legte.
»Seelenmensch, der olle Genever . . .!« sagte sie durch ihre Tränen hindurch. »Es geht keinen guten Gang mit dem ollen Genever!«
»Man ruhig, er schnarcht schon,« sprach er begütigend auf sie ein, »und wenn ich nicht irre, ist er noch morgen früh bei die nämliche Arbeit. Und nu, Wilhelmintje, bitte ich darum, mir mit Zucker, Pfeffer und Kaffeebohnen bedienen zu wollen. Ich muß fort; sonst steckt mir die See Watte ins Maul, und ich kann nicht hinüber.«
»Na, denn . . .« sagte Wilhelmintje, bekriegte sich wieder, verschob ihren Ärger auf spätere Zeiten und ging mit Klaas Buhle zur Theke, um ihn dort zu bedienen. Beim Betreten des Hausflurs drangen langgezogene, monotone Laute aus der Nebenkammer. Der Admiral schnarchte wie ein Gangspill bei voller Arbeit, das einen zwei Tons schweren Rüstanker an Bord holen mußte.
»Bald hat er ihn hoch,« griemelte Klaas Buhle in sich hinein, nahm hierauf die ihm zugemessenen Rationen in Empfang und ging in den Abend, dem Strand und dem Feuerschiff zu, dessen Licht, als er eine Stunde später dort anlangte, wie ein ziegelroter Stoßvogel im Nebel rüttelte.
In Sankt Anne selber fand er die kleine Etage, die Erasmus van Dornick bewohnte, erleuchtet. Auch andere Fenster hellten auf. Der Haarrauch war stärker geworden. Von den alten Bäumen rieselten lange Gewänder. Bei der Priesterkoppel begegneten ihm zwei hohe Gestalten, die der Dorfstraße zugingen. Er kannte sie. Es waren Hans Behrend und Erasmus van Dornick. Mit einer grotesken Handbewegung riß er die Mütze vom Kopfe.
»Heelmoijen Abend, Mynheers!«
Bald darauf verschwand er in den dichten Schwaden, die hinter ihm zusammenschlugen. Sein harter Schritt tönte noch geraume Zeit auf dem einsamen Fußweg. Kein Mensch begegnete ihm; nur arme Seelen waren in seiner Gefolgschaft. In weiße Tücher gehüllt, schritt er dem Meer zu, dem geheimnisvollen Meer und den bleichen, flockigen Massen, die auf ihm ruhten.
Die beiden Männer blieben wie auf Verabredung stehen. Nichts war um sie: nur das Wallen des Nebels und das träumerische, gelassene Rauschen der Bäume. Sie hörten wechselseitig ihren hämmernden Pulsschlag. Noch einmal erhob der Prediger seine Stimme. Sie war wund und zerrissen, und als er sprach, streckte er seine Arme aufwärts, gleichsam als müsse er die Gnade des Himmels herabflehen. Ermattet sanken sie ihm am Leibe herunter.
»Nun wissen Sie alles,« sagte er wie ein Mann, der in seiner Not die Tür des Herzens sperrangelweit geöffnet hatte, um auch die geheimste Falte darin offenkundig zu machen, »und so wahr mir Gott helfe! – es fehlt kein Glied in der Kette meiner langen Erzählung. Ein häßlicher Sturmwind zerrte die Saiten eines glücklichen Daseins, daß sie jämmerlich aufschrien; jetzt klingen sie wieder in früherer Reinheit. Das ganze Leben meiner Tochter liegt vor Ihnen: ihr Sehnen und Suchen, ihr menschliches Fehlen – auch das, was sie Ihnen begehrenswert machte. Es ist ein langes und banges Ringen auf Erden gewesen, aber sie hat endlich die Palme des Sieges und die Palme der Liebe gefunden. – Was jetzt geschehen soll und muß – das ist Ihres Amtes.«
»Domine . . .!«
Mit tränenerstickter Stimme klang es in die Worte des Predigers hinein.
Erasmus van Dornick machte eine leichte Handbewegung. Er war noch nicht zu Ende. Er mußte noch seine Schlußfolgerung ziehen.
»Wie Sie auch entscheiden mögen,« sagte er gefaßt, »der Herr sei mit Ihnen und gebe uns allen seinen Frieden. Ich lege Ihnen kein Hindernis in den Weg. Glauben Sie, trotz der vergangenen Tage, an ihrer Seite glücklich zu werden, kann Ihre Liebe Berge versetzen – ich hebe freudig die Hände gen Himmel; wollen Sie mein Kind in meine Arme zurücklegen – Ihr Wille geschehe, denn er ist menschlich begreifbar. Ich hege keinen Groll gegen Sie, ich vergesse Sie nicht und bin Ihnen dankbar für den kurzen Traum, den Sie in einer armen Seele aufkommen ließen – und seien Sie überzeugt: die Hand, die Sie aus der Ihrigen taten, wird Sie dennoch segnen für immer.«
Er sprach nicht weiter, aber ein verhaltener Schrei, dem Schrei eines verdurstenden Tieres gleich, das endlich die ersehnte Quelle gefunden, drang aus der Brust des neben ihm stehenden Mannes. In langen durstigen Zügen trank er das köstliche Wasser und mit ihm das Heil der Genesung.
Und er streckte sich auf. Noch sah er ein Gesicht im Nebel: das Gesicht dessen, der ihm schon einmal mit brutaler Gewalt . . .
Er hatte einen Fluch auf den Lippen; aber der Fluch versiechte vor einer zarten Erscheinung, die ihm das Bild der Geliebten vorspiegelte, die ihm zuwinkte, als wenn sie sagen wollte: Nun komme doch endlich; es ist ja alles gut zwischen uns beiden.
So schön und rein wie in dieser Stunde war sie ihm noch niemals begegnet. – Und wieder rauschte das Meer auf, das Meer an der italischen Küste. Die Faraglioni lagen im Mondlicht, und auf den Wassern war eine Stimme, eine sonore Männerstimme, die immer mächtiger anschwoll: »O dolce Napoli . . .« und er hörte die Stimme, als er Hand in Hand mit dem Prediger auf die erleuchteten Fenster zuschritt, als sie über die Schwelle gingen – er hörte sie noch, als sie die niedrige Stube betraten, die ein feines Netzwerk umspielte.
Er wagte kaum vorwärts zu gehen. Etwas Kirchliches wehte ihn an.
Und sie . . .
Sie saß in der gedämpften Helle. So hatte sie schon seit vielen Stunden gesessen: ohne Bewegung, mit einer Verklärung auf den blutleeren Zügen, die nicht von dieser Erde war. Das Haupt zurückgelehnt, die Hände im Schoß, die mit ihren wächsernen Fingern die blutroten Rosen umgriffen, sah sie einer Sterbenden ähnlich.
Hans Behrend glaubte ein Traumbild zu haben. Auf Zehenspitzen trat er näher. Er wagte kaum zu atmen. Er befand sich auf geweihter Stätte und hatte die liebe Stimme des Predigers neben sich, welche sprach: »Die Blumen sind hervorgegangen im Lande; der Lenz ist gekommen, und die Turteltaube läßt sich hören im Lande.«
»Hans,« sagte sie mit weher Betonung, »ich dachte schon, du wärest nicht wiedergekommen.«
Da hielt's ihn nicht länger.
In demselben Augenblick lag er vor ihr auf den Knien und hatte sein Gesicht in ihren Schoß gebettet. Die Arme um ihren Leib geschlagen, zog er sie an sich.
»Nicht wiederkommen . . .?!« stöhnte er auf. »Und hätte ich im Grabe gelegen, und hätte das Meer mich verschlungen – ich wäre wiedergekommen!«
Sie umklammerte seine Schläfen.
»Komm näher – immer näher . . .! – Geh nicht fort. Halte mich, fasse mich, sonst bin ich verloren! – So ist's gut, Hans! – Ach, wie gut du bist, wie lieb du bist!« und sie legte ihm ihre weißen Hände aufs Haupt und umgriff seine Stirne. Und sie beugte sich unter Tränen immer tiefer und tiefer, bis ihr heißer Mund seinen Scheitel berührte; und da war alles von ihr genommen, alles, alles.
»Hans . . .!«
Sie bog seinen Kopf zurück.
Er riß sie auf.
Sie erstickte fast in seiner wilden Umarmung.
»Die Tote lebt! – Die Tote ist auferstanden! – und du bist doch meine Anna-Maria!«
»Ja,« hauchte sie unter seinem verzehrenden Kuß, »ja – ich bin deine Anna-Maria!«
Der Duft der blutroten Rosen war bei ihnen. –
Und der Nebel stieg und stieg. Der letzte Odem des kränklichen Abendlichtes verzehrte sich. Eine Stunde später stand der Seelenmensch an Bord und sah über die Reling. Die Wanten des Schiffes waren kaum zu erkennen. Ein greifbares, langsam hinziehendes Grau lag um ihn gebreitet, über ihm rüttelte der ziegelrote Stoßvogel und konnte keine Fernsicht gewinnen, unter ihm aber krochen die Wellen gleich mächtigen Urwelttieren und verschlangen sich gegenseitig. Einige sahen mit gelben Augen über die Reling.
Klaas Buhle machte eine Bewegung, als wenn er sie mit seinem Fuß zurückstoßen wollte.
»Wartet man ab,« sagte er keuchend, »ihr sollt eure Seele schon haben.«
Und der Nebel stieg und stieg . . . und es war kein Stern unter dem Himmel.