Joseph von Lauff
Sankt Anne
Joseph von Lauff

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XII

Es war ein schweres, goldenes Vlies und doch das zarte Gefieder, die Schwingen eines majestätischen Vogels, die sich sanft im leichten Morgenwinde bewegten . . . Einzelne Fäden irrten durch das geöffnete Fenster, zogen dort flirrende Streifen durch die silbrige Luft, fingen und haschten sich wechselseitig, um dann rückwärts zu schweben und sich in zärtlichen Liebkosungen um den blendendweißen Nacken und die geschmeidigen Linien ihres Körpers zu legen.

In dem sonnenwarmen Licht verklärte sich Anna van Dornick. Alles Hochmütige, Abweisende, Herbe war aus ihrem Antlitz gewichen. Der Gedanke, sich im Besitz einer großen Liebe zu wissen, machte sie hingebend und weich wider Willen. Noch einmal durchlebte sie die Stunden des gestrigen Abends. Sie weckte die geringfügigsten Dinge. Nichts entging ihr. Sie war wie ein Künstler, der in sein eigenes Gebilde verliebt ist. Die Erinnerung schien ihr fast köstlicher als die Wirklichkeit selber. Sie wollte nur langsam, folgerichtig genießen. Sie schmückte dieses Erinnern mit duftigen, schweratmenden Blumen und breitete einen Gazeschleier darüber, der alles noch rosiger und verlockender machte.

Ihre Blicke weiteten sich in seliger Vergessenheit.

»Ob ich schön genug bin, ihn stetig zu fesseln?« dachte sie plötzlich.

Mit einer jähen Wendung trat sie vor den Spiegel. Ihr Haar folgte und legte sich flammenartig um sie. Wie das gleißte und glänzte! – In dieser gewellten Flut ruhte ihr Antlitz wie in einem köstlichen Rahmen.

Sie betörte sich an ihrem eigenen Bildnis.

Aber da kamen sie wieder geschlichen: die wachsenden Zweifel, die Selbstvorwürfe, die eine endlose Kette unerträglichen Elends hinter sich herschleppten. Soviel Schatten in dieser endlosen Sonne! – soviel Leid und Dornen auf dem Wege, den sie zurückgelegt hatte! Eine Schranke stellte sich ihr entgegen, als wäre sie von Giganten aufgetürmt worden. Ihre Liebe war mächtig wie der Tod und konnte Berge versetzen, aber hier wollte ihre Kraft absterben. Und dennoch: sie mußte hinüber, selbst auf die Gefahr hin, daß sie jenseits abstürzen sollte. Sie mußte steigen, immer nur steigen; sie mußte in das Land der Glücklichen. Nur frei sein, frei sein! – In diesem Gedanken stärkte sich ihr Wille und wuchs und wuchs. Sie erwachte aus ihrer brütenden Starrheit. Sie mußte handeln, bevor es zu spät war. Sie dachte an die zerknitterten Zeilen von gestern. Wie nichtig die waren! – Jetzt hatte sie für eine große Liebe zu kämpfen oder – zusammenzubrechen. Das war es ja eben!

Kurzentschlossen packte sie in ihre wogende Haarflut, rollte sie auf, schlang sie zu einem mächtigen Knoten zusammen und befestigte ihn mit einem Schildkrotpfeil dicht über dem sanftgewölbten Nacken. Unter ihren Händen knisterte es von elektrischen Funken. Das war wieder Anna van Dornick in ihrer berückenden, herben und dämonischen Schönheit – sie, die so abweisend und herrisch sein konnte und doch zu erschauern vermochte wie die Blüten am Baum, wenn laue Frühlingswinde über sie fortgingen – eine kalte Dulderin und trotzdem eine Frauennatur, die ungeduldig nach der Umarmung des geliebten Mannes verlangte. Aber bevor sie sich diesem Taumel hingeben konnte . . .

Ihr jetziges Handeln sollte über ihr ganzes Leben entscheiden. Jede Minute war kostbar. Sie durfte nicht warten. In fieberhafter Eile ließ sie sich nieder, fuhr mit energischer Hand über die alten, zerknitterten Blätter, legte neue zurecht und begann eifrig zu schreiben.

»Frei sein, nur frei sein . . .

Ihre Schriftzüge gaben sich bestimmter und fester. Sie hatten das Nervöse verloren. Gleichmäßig reihte sich Buchstabe an Buchstabe. Von dem, was sie gestern aufgestellt hatte, merzte sie vieles aus. Anderem gab sie eine tiefere Prägung, und so, unter stetigem Ringen, unter der krampfhaften Anstrengung, sich würdig einer reinen Liebe zu machen, gab sie dem Schreiben seine endgültige Fassung. All ihre Bekenntnisse, Schlüsse und Folgerungen bewegten sich auf der nämlichen Linie, strebten alle einem gemeinsamen Pol zu. Jetzt war sie fertig geworden. Die letzten Zeilen überflog sie noch einmal.

»Was ich Dir zu sagen hatte, war nicht anders auszudrücken,« las sie scharfbetonend. »Du mußt alles so hinnehmen, wie es gemeint ist – und sollte es Dir weh tun, vergib mir, aber diese Aussprache bin ich Dir und mir und einem Dritten gegenüber schuldig gewesen. Ich will endlich Licht um mich haben. In diesem stetigen Halbdunkel verkümmert die Seele. Du weißt es ja selber: Deiner jähen Leidenschaftlichkeit bin ich damals zum Opfer gefallen, nicht ohne meinen Willen, gewiß nicht, und das ist das Trostlose in meiner Verfassung – ein Drama, welches eine traurige Lösung heraufbeschwören muß, wenn kein Ende gemacht wird. Die Zeit hierzu ist jetzt gekommen. Was mich bewegt, kann ich Dir nicht länger verhehlen. Ich sage Dir das ganz offen. Die Rätsel einer Frauenseele sind nicht spielend zu lösen. Abgesehen davon, daß ich mich damals über das Glück einer anderen hinwegsetzte und mich noch heute mit den vorwurfsvollen Blicken einer Verstorbenen abzufinden habe, kann ich mein Gelöbnis Dir gegenüber nicht mit reinem Herzen aufrecht erhalten. Zwinge mich nicht zum Äußersten. Wage es nicht, Deine Rechte in unbarmherziger Weise geltend zu machen. Es wäre ein trostloses Leben. Verkümmert und schuldbewußt würde ich neben Dir hergehn, Dein rechtliches Weib zwar – Dein Weib vor dem Gesetz, aber nicht vor mir und meinem Gewissen. Ich vermöchte es nicht, in Deinen Armen den Himmel zu finden – und das wäre schlimmer als sterben. Du kannst mich doch nicht zu einer leblosen Maschine, zu einem gefügigen Werkzeug herabwürdigen – oder könntest Du glauben, daß ein derartiges Nebeneinandersein einen Gewinn für uns abgeben würde? Nein und abermals nein! – Ich bin nicht mehr die, die Du früher kanntest. Ich lebe im Taumel einer schönen Selbstentfremdung, und dennoch: wenn Du hier wärest, wenn Du die Not in mir sähest. Du würdest begreifen, wie es um mich steht. Es geht um Leben und Sterben bei mir. Verstehst Du – um Leben und Sterben! Aus diesem Bekenntnis heraus suchte ich die Freiheit für mich – und habe sie in verzweifeltem Ringen gefunden. Kneble mich nicht aufs neue. Gib auch Du Dich zufrieden. Ich flehe Dich an: gib auch Du mir die Freiheit, wir würden sonst einer verzweifelten Krise entgegengehn. Aber gute Freunde wollen wir bleiben – wirklich gute, uns liebende Freunde. Nicht im Bösen wollen wir scheiden.

Ich reiche Dir die Hand übers Meer. Folge einem anderen Stern und versuche glücklich zu werden. Für uns gilt das Wort nicht: Wir können uns nicht selbst entfliehen: Wir müssen es eben. Eine gemeinsame Zukunft gibt es nicht für uns, wenigstens nicht in dem Sinne, wie Du sie Dir vorstellst. Also zwinge mich nicht. Du würdest nur bitteren Tränen begegnen, und daher nochmals gesagt: Folge Deinem Stern – ich folge dem meinen. Und Gott sei mit uns!

Deine

Anna van Dornick.

So – jetzt hatte sie von ihm Abschied genommen. Auch für immer? Sie grübelte nach. Ja. Es hätte an Wahnsinn gegrenzt, eine erwürgte sündige Leidenschaft wieder ins Leben zu rufen. Unmöglich! – die Zeiten der Wunder waren doch lange vorüber, Und das war gut so. Mit einem tiefen Atemzuge kniffte sie die einzelnen Bogen, kuvertierte sie und rief nach Klaartje.

Nur fort, fort! – und als Klaartje das Schreiben mit dem Zipfel ihrer Schürze in Empfang genommen hatte und dann hinausgegangen war, folgte sie dem Mädchen mit heißen Gedanken. Sie hätte diese schmucke Person zärtlich umarmen können, trug sie doch ihr grimmiges Herzeleid und ihr letztes Kämpfen und Bangen aus Sankt Anne ter Muiden. Da ging sie. Jetzt mußte sie die nächste Straßenecke erreicht haben – jetzt stand sie vor dem niedrigen Postamt – jetzt war sie über die abgeschliffenen Treppenstufen vor den Schalter getreten – jetzt hatte sie den Brief abgeliefert . . . Sie sah das alles, und es erfüllte sich, was sich erfüllen mußte: auch sie war gesundet. Um sie her breitete sich das jauchzende Leben aus, und in dieses jauchzende Leben konnte sie frei von Schuld und Zweifel hineingehn und glücklich werden an einem glücklichen Herzen. In dieser Hoffnungstrunkenheit, in diesem beseligenden Gefühl der Erlösung vergrößerten sich ihre Augen zu einem märchenhaften Erstaunen, als wenn sie erst jetzt die Mysterien einer echten und unüberwindlichen Liebe gewahrten.

Sie betete diese reine, große Liebe an. Sie stand wie geblendet und unter dem Banne einer seligen Stunde. Jetzt mochte er kommen . . .

Sie hörte Schritte. Das waren Klaartjes Schritte. Und Klaartje kam und überreichte ihr einen Strauß dunkelroter, italienischer Rosen. Glitzernde Tautropfen hingen noch an den einzelnen Blüten.

»Von wem?!« fragte sie hastig, obgleich sie wußte, wer sie geschickt hatte. Mit geheimer Wonne barg sie ihr Gesicht in die duftenden Rosen.

Klaartje gab keine Antwort. Verschämt ging sie der Tür zu, und als sie hinausging, trat Hans Wehrend über die Schwelle. Hinter ihm zog Klaartje die Tür zu – ganz leise und noch durchdrungen von dem, was ihr die wenigen Minuten offenbart hatten.

Etliche Pulsschläge hindurch war es in dem kleinen Zimmer totenstill, so still wie in der Nähe des Altarsakramentes, so still wie beim Erwachen eines Frühlingsmorgens, bevor noch die ersten Amselrufe ertönen. Dann aber ging der erste Jubelruf, das junge Licht begrüßend, über die erwachende Landschaft – und zwei Menschen fanden sich wieder in heißer Umarmung, im lechzenden Kusse, im Begegnen ihrer geheimsten Gedanken, die sich wie zärtliche Schmetterlingsflügel berühren. Brust schlägt an Brust. Die blutroten Rosen sind ihren Händen entglitten. Den Kopf zurückgebogen, die Arme um seinen Nacken geschlagen, wähnt sie sich dem Irdischen entrückt, um dann wieder gierige Küsse von seinen Lippen zu trinken. Aus den halbvereinigten Wimpern schimmert ein feiner irisierender Lichtstreifen. Im Taumel des Genießens kann sich ihr Mund nicht mehr schließen. Die Verzückung gleitet an ihrem Körper herunter. Mit heiliger Scheu gewahrt er in ihr die Verklärung und die tiefe Erregung des Weibes. Bewegungslos stehen sie nebeneinander – wie im Gebet, im Erkennen der ewigen Liebe versunken, alles vergessend und umwölkt von schwerem Rosenduft, der langsam und wie eine narkotische Welle an ihnen emporkriecht. Nur durch die Falten des leichten Morgengewandes von dem Geheimnis ihres Leibes geschieden, hört er die Sprache ihres Herzens, die gebieterisch ist wie die Stimme des Todes.

Nur der Tod kann scheiden.

»Ach, du, du . . .

Mit einem tiefen Seufzer umschlang sie ihn fester.

»Und hast du geträumt von mir?«

Ihre Worte erstarben in einem verschämten Flüstern.

»Ob ich von dir geträumt habe? – du Närrin, du Himmlische . . .!« und wieder schloß er ihre halbgeöffneten Lippen. »Die ganze Nacht, bis tief in den Morgen hinein, habe ich dich in meinen Armen gehalten. Ich träume noch immer; ich werde von dir träumen, wenn ich allein mit mir bin, und der deutsche Wald mich mit verschlafenen Augen ansieht.«

»Was heißt das?«

Sie wurde schwer in seinen Armen.

»Weil ich fort muß, weil ich nicht mit leeren Händen kommen will und dir sagen möchte: Ich habe unter Kummer gesät und unter Freuden geerntet. Und diese Ernte soll dein sein, bevor wir noch unsere Schwelle betreten.«

»Du mußt fort?« fragte sie wie geistesabwesend.

»Ja, ja, ja,« sagte er hastig, »aber nur für wenige Tage, nur um die reife Frucht einzuheimsen und gleich wieder in den Bann deiner wundertätigen Hände zu treten!« – und dann sprach er in abgerissenen Sätzen von seinem Suchen und Schaffen, von seinem neuen Werk, von seinem Kampf in diesem Werk, Tagesgötzen und niedrigen Seelen die ekelhafte Maske vom Antlitz zu reißen, von seiner heiligen Begierde, Gefallene aufzurichten, Gequälten die Dornenkrone zu nehmen. Wegemüden Erquickung zu reichen, gute Menschen bei den Händen zu fassen, sie auf stille Höhen zu führen, wo eine unendliche Klarheit ist, und ihnen das Land der Verheißung zu zeigen.

»Es ist ein langes und banges Schaffen gewesen,« sprach er eindringlich weiter, »aber ich glaube, es ist meine beste Arbeit geworden, denn du hast neben mir gestanden und meinem ringenden Menschen Leben und Odem eingeflößt. In schlaflosen Nächten hast du mir über die Schulter gesehen. Dein Hauch umwehte mich. Du hast alles verfolgt, was ich niederschrieb – Zeile für Zeile – Bogen um Bogen, und deine heißen Tränen sind auf die einzelnen Blätter gefallen . . . Ich sehe noch die unvergänglichen Spuren; sie sind mir lieb und teuer geworden. Und jetzt, da alles vollendet ist, wo ich hoffen darf, einen warmen Sonnenstrahl über das weite Land und in gefolterte Herzen werfen zu können, sollst auch du in das sonnige Licht hineingehn. Und bei den Händen will ich dich nehmen, auf stille, einsame Höhen will ich dich führen, und sagen will ich: Siehe das Reich meiner Arbeit! – und siehe: wie aus den Schollen, die meine Not gepflügt hat und die von Tränen benetzt sind, die grüne Saat der Hoffnung aufgeht, wie sie in Ohren schießt und gleich einer unabsehbaren, goldenen Flut unter dem Himmel dahinweht. Himmlische, Göttliche . . .! – und das hast du alles geschaffen.«

Immer fester zog er sie an sich.

»Ich?!« fragte sie stammelnd und sah ihn mit Blicken an, die voll süßer Zweifel waren. Sie wußte nicht, was sie mit seinen Worten anfangen sollte.

»Ja – du, du!« stöhnte er unter dem Einfluß einer zwingenden Macht, die sich an ihn geworfen hatte. »Weißt du denn nicht, daß wir uns schon lange kannten, daß wir schon Jahre um Jahre zusammengehörten? Damals in der Löbkerschen Bude . . .! – Du wohntest mir schräg gegenüber . . . und die Schneeflocken fielen leise vom Himmel . . . und unsere Liebe war so rein und zart wie die lichten Sternchen, die in unsere Traumwelt hineinspielten . . . Weißt du noch? – und in der kleinen Bude hing das Bild der schönen Frau, die jetzt in Brügge unter der schweren Marmorplatte ruht und so früh sterben mußte. Aber sie ist wieder lebendig geworden. Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Die Toten werden wieder lebendig!«

Er jubelte in seine Worte hinein.

»Aber – Hans, Hans . . .!« rief sie flehend.

»Das mußt du wissen, das kannst du doch nicht vergessen haben!«

Mächtig strömte es aus seiner übervollen Brust. Schwül legte sich der aufsteigende Rosenduft um seine Sinne. Vergangenheit und Gegenwart flossen in eins zusammen.

»Das mußt du doch wissen,« flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich kann doch nicht darum betteln, daß du dich aller Einzelheiten erinnerst, aber es ist so . . . Bald darauf wurden wir auseinander gerissen. Weh dem Besiegten . . .! – und aus dieser Not heraus, aus meiner Sehnsucht nach dir wuchs die Liebe zur Menschheit, zu der armen, ringenden, verzweifelten Menschheit. Dumpf und schwer lebte ich hin. Allein du legtest mir die kalte Hand auf die wehe Stirne, und unter ihrem magischen Einfluß hast du mich erst zum wirklich Schaffenden gemacht, hast du mich gelehrt, den Schmerz in die Hände zu nehmen, ihn zu einem Kunstwerk zu formen – und so ist das Hauptwerk meines Lebens entstanden, das jetzt in die Welt hinaus soll . . . Weh dem Besiegten! – Das gilt nicht mehr! – Aus dem Besiegten bin ich ein Sieger geworden.«

Wütend zog er sie an sich.

»Ich verstehe dich nicht,« ächzte sie unter seinen wilden Küssen. »Was machst du aus mir? – Was tust du? – Was bedeutet das alles?!«

»Du mußt doch begreifen,« rief er sie an. »Ich beklagte die, die mir genommen wurde.«

»Und ich . . .?« fragte sie schaudernd.

Seine Blicke funkelten dicht vor den ihren.

»In dir,« hauchte er zärtlich, »hat die Beklagte ihre Auferstehung gefeiert.«

Er drückte sie von sich.

»Was?! – jetzt begreifst du doch alles!«

Da warf sie sich an ihn.

»Du Lieber, Guter . . .

Wie eine Befreiung kam es aus ihrem gemarterten Herzen.

»Ach, du, du . . .

In stürmischer Hast suchte sie seine Lippen zu finden, und in diesem Bestreben, in dieser jähen Liebkosung entfesselte sich ihr Haar, wogte in losen Massen über Hals und Schultern, wobei es einen schimmernden Glanz von sich gab, als wäre eine unsichtbare Lichtquelle in ihm. In seidenen Wellen rieselte es über seine Hände, berauschte es seine Sinne. Zwei wunderbare Goldmassen legten sich über ihren Busen, der sich heftig auf- und niederbewegte.

So war sie ihm schon früher erschienen.

Die Toten sind heilig!

Es ergriff ihn wie bei der Betrachtung eines Kirchenbildes. In scheuer Erregung lösten sich seine Arme von ihrem Körper.

Sie selber war in ihrem leuchtenden Mantel so ruhig und übermächtig wie eine Verzückte geworden.

Er trat einen Schritt zurück, ganz versunken in Anbetung dieser irdisch-überirdischen Schönheit.

Einige Augenblicke vergingen.

Und wieder die Stille von eben! – die Stille, die das kleinste Geräusch tönend macht, die Stille in der Nähe des Altarsakramentes, und die dem Morgengrauen vorhergeht, bevor noch die ersten Amselrufe erwachen . . . In dieser feierlichen Stille sprach die Hoheit des Weibes zu ihm mit beredten Zungen, ließ ihn die Welt vergessen und machte ihn kleinlaut, wie beim Anblick einer Heiligen, in deren Gegenwart man die Riemen lösen muß. Er wagte es nicht, sich von der Stelle zu rühren. Jede Bewegung hätte den geheimnisvollen Zauber gebrochen.

Die Toten sind heilig!

Er wagte kaum noch zu atmen, aus Furcht, die Erscheinung würde zerfließen – würde von ihm gehn, um nie wieder zu kommen. Sie stand vor ihm – wirklich und wahrhaft. Sie lebte. Jetzt brauchte er um keine Tote mehr zu trauern. Sie war erwacht, sie war bei ihm, sie strömte den Hauch der entschlafenen Geliebten aus. Sie lächelte wie ein Kind. Genauso hatte die andere gelächelt – und dennoch bewunderte er in ihr die langsame Entfaltung der jungfräulichen Sinne.

Da hielt's ihn nicht länger.

Er mußte in diese Goldflut hinein.

»Herrgott, wie schön . . .

Seine Hände gruben sich tief in die weichen, welligen Massen, die jetzt über ihn fortgingen und ihn mit glitzernden Fäden umstrickten. Und durch diese Goldflut hindurch küßte er ihren schlanken Hals, der blendend aus den weißen Rüschen hervorsah – und durch diese Goldflut hindurch küßte er ihre Stirne, ihre Augen, ihren Mund, die weiße Hand, die sie ihm aufs Herz gelegt hatte.

»Anna-Maria . . .!« hauchte er, noch im Taumel der vergangenen Jahre schwelgend.

Sie war ihm wiedergegeben. – Endlich gefunden! – Da ruhte sie an seiner Brust – der Verstorbenen so ähnlich an Gestalt, an Wohllaut der Sprache, an dem sanften Feuer der Augen, daß er unwillkürlich den Namen der Heißgeliebten mit dem der Toten verflechten mußte. Tod und Leben berührten sich, gingen ineinander über und gaben sich die Hände.

»Anna-Maria . . .!« rief er noch einmal. Kein Flüstern, kein Hauchen . . .! – Nein! – wie ein Jubelschrei wurde der Name von seinem Munde gerissen. »Aber was hast du . . .

Sie warf sich starr in seinen Armen zurück. Ihr Gesicht bekam einen seltsamen Ausdruck.

»Wer ist diese Anna-Maria?« fragte sie heiser und mit einer Betonung, als wenn sie sich vor einer Beantwortung graute.

»Du – und sie . . .

»Sie . . .?!« rief sie mit erkünstelter Ruhe.

»Ja – du! – die Tote . . . das Weib meiner Träume . . .!« – Mit unruhiger Hand strich er über ihr Haar. – »Die tote Maria . . .! – um derentwillen ich ein Verzweifelter, ein Ruheloser wurde, um derentwillen ich am Leben verzagte. – Und nun höre zu, ich will dir von der schönen Maria erzählen. Sie ist gestorben und doch nicht gestorben. Sie lebt! – und bei den Faraglioni, in den purpurblauen Wogen des Mittelmeeres tauchte sie unter, um hier an der vlämischen Küste sich wieder in meine Arme zu stürzen. Jetzt hab' ich dich! – Anna-Maria! – Anna-Maria . . .

Er war rasend in seinem Doppelleben geworden.

Sie bäumte sich in seiner Umstrickung. Ihre Brust stürmte, als hätten dämonische Fäuste dort hineingegriffen.

»Und sie, und sie . . .

Sie rang nach Worten. Sie wurde sehend: der Zusammenhang der Dinge zeigte sein vernichtendes Antlitz. Ihre eisigen Hände umfaßten die seinen. Sie hielt ihn fest mit ihren gespenstischen Augen.

»Und sie da – die Tote . . .?! – Wer war sie . . .?!«

»Das Weib meines Freundes.«

»Heiking . . .?!« schrie sie auf.

Ihre Stimme flatterte wie ein losgerissenes Segel.

»Ja.«

Ihr Haupt sank nach vorne.

Aber dann ein Aufschrei, als wäre sie hinterrücks von einem Messer getroffen.

»Mein Gott und mein Heiland!«

Mit hellem Gelächter, ihr Haar über die Brust zerrend, flüchtete sie in eine Ecke des Zimmers. Kreidig schimmerte ihr Gesicht aus den goldenen Strähnen. Im Entsetzen war es auf ihn gerichtet.

Er stand wie gelähmt.

Nur drei Herzschläge hindurch.

»Anna-Maria . . .

Mit einem mächtigen Satz war er bei ihr.

Dieser Wandel in ihr. – Er begriff nicht. Er zermarterte sein Hirn. Es war alles so plötzlich gekommen. Das Weib mit dem Tierkörper regte sich wieder.

»Geliebte, Einzige . . .

Leidenschaftlich stieß sie ihn zurück.

»Ich bin doch kein Narr!« sagte er bitter.

Er drang auf sie ein.

»Rühre mich nicht an!« schrie sie gellend. »Was willst du?! – Ich gehöre dir nicht! – Du hast kein Recht auf mich! – Die tote Maria . . .! – Die Faraglioni . . .! – Heiliger Gott, ich bin deiner nicht würdig!«

Es war ein wütendes Bestreben in ihr, aus seiner Nähe zu kommen.

Sie zeigte auf die blutroten Rosen, die am Boden lagen.

»Das sind Sterbeblumen geworden.«

»Geliebte . . .

»Niemals . . .

Mit beiden Händen griff sie ins Leere. Sie drohte niederzusinken, aber, von seinen Armen umfangen, sank sie an seine Brust tastete sie nach seinem Herzen und weinte bitterlich.

Das brachte Erlösung.

Sein Mund ruhte auf ihrem duftigen Scheitel.

Ein unsäglicher Schmerz verschönte ihr Antlitz.

»Geh nicht,« flüsterte sie wie eine Sterbende. »Jetzt nicht . . . erbarme dich meiner . . . ich muß dir doch erst von der toten Maria und von mir . . . Und wenn ich dir alles gesagt habe, dann kommt das Vergessen und – der Tod.«

Sie sprach nicht weiter. Ein immer stärker werdendes Dunkel legte sich um ihre kranken Sinne und webte Schleier um Schleier. Die Außenwelt war gestorben für sie. Nur wie das Rauschen des fernen deutschen Waldes klang es in ihre Traumwelt hinein.

Sie horchte darauf.

»Weißt du, daß ich bei dir bin?« fragte er zärtlich.

Sie gab keine Antwort.

»Mein Weib, mein alles . . .

Sie hörte ihn nicht mehr.

Immer näher kam das Brausen und Rauschen.

Da ging leise die Türe.

Erasmus trat ins Zimmer.

Ein schmerzlicher Zug flog über sein Antlitz. Er sah, was sich begeben hatte und was kommen mußte. Er wollte doch selber . . .

Er gab Behrend ein stummes Zeichen, und dieser verstand ihn.

In stiller Milde war er näher getreten und nahm seine Tochter aus dem Arm des Geliebten.

Er sah: hier stand ein armes Menschenherz vor einem Geständnis – und konnte das Geständnis nicht finden.

»Und Sie reisen noch heute?« fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Heute nicht mehr,« kam es von gepreßten Lippen.

»Dann möchte ich um eine Unterredung bitten – später, wenn sie sich beruhigt hat, wenn alles vorüber ist. Es ist besser so. Ich bin Ihnen Aufklärung schuldig. Wollen Sie?«

Hans Behrend nickte wie ein im Traum Befangener.

»Heute ums Abendläuten auf der Priesterkoppel – wo wir allein sind . . .

»Ja,« sagte Hans Behrend.

Ihm war das Herz zum Zerspringen.

Dann ging er.

Als er das Zimmer verließ, schlug sie die Blicke auf und versuchte, ihm die Arme entgegenzustrecken.

»Hans!« rief sie schluchzend, »geh nicht fort. Ich muß ja – ich muß ja . . . Habe doch Erbarmen mit mir!«

»Er kommt wieder,« sagte Erasmus van Dornick.

 


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