Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Zwischen den Scheunen stand Holthövel mit allen verfügbaren Knechten, jeder mit einer Peitsche bewaffnet, in deren Schnüre rosenrote Schleifchen geknüpft waren.

Die Gesellschaft stand in Reih' und Glied, weitgeordnet und mit dem nötigen Spielraum, um die erforderliche Ellenbogenfreiheit zu haben.

Holthövel vor der Front.

Er hielt Probe ab.

Nach ortsüblichem Gebrauch war der Gutsherrin eine Ovation mit Peitschengeknalle zu bringen, wenn sie in den Brautwagen stieg, um nach der Kirche zu fahren. Und diese Ovation sollte geübt werden.

Die zweite Probe stand an.

Heute war Sonntag; aber trotz des Sonntags war reges Treiben auf dem Brinkschultenhof. Boten und Bestellungen gingen ab und zu. Mit Rücksicht auf die bevorstehende Feier hatte der Pastor von Sönnern Dispens erteilt, werktägig zu schaffen.

Ein schwerbeladener Wagen mit Fichtengrün stand mitten im Hofe. Um ihn saßen die jungen Mägde, wanden Kränze und Girlanden und wärmten von Zeit zu Zeit ihre steifen Finger an dem Prasselfeuer, das lustige Funken in die kahlen Äste der ehrwürdigen Eichen hineinwirbelte.

Burschen aus der Nachbarschaft hatten sich willig erboten, vom Dielentor bis zum Eingang des Gehöftes eine via triumphalis herzurichten. Stangen und Pfosten erhoben sich, zierliche Bogen wurden geschlagen. Von diesen ließen sie die fertiggestellten Kränze in schmucken Windungen auf- und niedergleiten.

Dörte ging schon schweren Fußes in der Vorratskammer und der Küche herum. Sie hatte die Aufsicht über die Scheuer- und Putzfrauen. Zinn- und Kupfergeräte spiegelten alsbald, als wären sie funkelnagelneu aus der Werkstatt gekommen.

Der alte Brügelmann saß in seinem Sonntagsrock am Herdfeuer und rauchte sein Pfeifchen. Er war munter und guter Dinge, erzählte den Weibern alte Geschichten und amüsierte sie durch fidele Lieder, die er zwischendurch und mit dünner, quäkender Stimme ableierte. Mit wackelndem Kopf gab er den Takt dazu.

Seine Arbeit lag hinter ihm.

Schon Ende der Woche war er mit einem Pinsel und einem Topf roter Farbe durch sein Reich gepilgert und hatte die Hammel ausgezeichnet, die bestimmt waren, über die Klinge zu springen und am Festtage die Tafel zu schmücken.

Sechs schöne, feiste, zartwollige Schafe sahen ihrem Opfertode entgegen.

Zwischen den Scheunen war es mittlerweile munter geworden.

»Achtung!« kommandierte Holthövel. »Augen rechts!«

Er trat auf den Flügel, kniff ein Auge zu und kontrollierte nochmals die Richtung. Er verstand sich auf die Sache, wobei ihm seine Dienstzeit, die er beim Trainbataillon in Münster abgemacht hatte, trefflich zustatten kam.

»Rieget Ju! – Augen gradaus!«

Er begab sich wieder vor die Front.

»Meine Herren!« gebot er, und ein vierschrötiges Lächeln lief von einem Ohrläppchen zum andern, »ich will für meine Person folgendes zu wissen tun: Auf zwei – Peitschen hoch! – Natz Röwenkämper, was griemelst du?«

»Icke?« fragte Röwenkämper, ein putziger Kerl mit einem dreibastigen Maultrommelgesicht, krummen, aber bodenständigen Beinen, ein Kartenkönig auf Draht gezogen, als hätte ihn ein grimmiger Humor aus einem Hohlspiegel in die Welt purzeln lassen.

»Jawoll – du,« konstatierte Holthövel. »Aber ich bitte mir aus: ernsthafte Arbeit, sonst wirst du von's Knallen gestrichen. – Also auf zwei – Peitschen hoch! – Auf drei – wird angefangen. Achtung die Herrens! – eins, zwei . . . Natz Röwenkämper, was griemelst du wieder?«

»Icke?« fragte Röwenkämper zum andern, höchlichst erstaunt und mit demselben Maultrommelgesicht wie vorhin.

»Jawoll – du,« sagte Holthövel. »Du bist doch kein Komödienspieler! Ich bitte dir nochmals, sonst soll dich der Deiwel frikassieren. – Zwei, drei . . .

Dieses Mal klappte die Sache.

Fünf prächtige Peitschen knallten durch die Luft, gertenscharf und nadelspitz – und Solthövel rief: »Bravo!« – und die Knechte sangen dazu:

»Mien' Frau – de kost't 'ne Kron'!
Mien' Frau – de kost't 'ne Kiärmißkron',
Juchheissa, vivat Kiärmißkron',
Mien' Frau – de kost't 'ne Kron'!«

Und weither, von dort, wo das Feuer zwischen den Eichenstämmen prasselte und die Mädchen im Fichtengrün saßen, kam das Echo zurück:

»Juchheissa, vivat Kiärmißkron',
Mien' Frau – de kost't 'ne Kron'!«

Und dazwischen ein Geknatter wie von Flintenschüssen, aber gleichzeitig, Schuß bei Schuß, Ehrensalven, die keine Nachzügler kannten und jedem Exerziermeister die Tressen an den Kragen gebracht hätten. Schlangengleich wirrten sich die Peitschenschnüre durcheinander, entwirrten sich wieder, um mit hellem Hallo und Gejauchze in die Lüfte zu springen.

Und seltsam! – schon vor wenigen Tagen hatte das Wetter an Bissigkeit nachgelassen. Die Schneedecke war von der Erde genommen; nur noch vereinzelte Lappen hingen zwischen den Wallhecken, weinten aber und tropften ab wie brennende Talgkerzen. Regnerisch sah es aus. Schwere Wolken marschierten über die Landschaft . . . aber in diesem Augenblick . . .! – da legte sich der Wind, der stetig aus Westen geblasen hatte, da fältelten sich die trüben Wolken sacht auseinander und die liebe Sonne vergoldete die weite Erde und Äcker und Felder und die Dächer des Brinkschultenhofes mit einer Fülle freudigen Lichtes. Es war so, als hätten die lustigen Peitschenhiebe alles Grämliche zur Welt hinausgeknallt. Und das war gut so, denn übermorgen wurde Hochzeit gefeiert.

Ignaz Greving kam mit den beiden Oldenburgern auf den Hof kutschiert. Er hatte Probe gemacht und die Gäule im schlanken Trabe bis nach Sönnern bewegt, denn ihm war das Ehrenamt zugesprochen, das Brautpaar in die Kirche zu fahren. Ganz von Gold überflutet, trabte er durch die via triumphalis hindurch. Von den Messingrosen der Pferdegeschirre flatterten rosige Bänder. Ignaz kokettierte damit. Es lag bereits Hochzeitsstimmung in seinem Verhalten. An der großen Remise hielt er, stallte ein und begab sich zur Küche.

»Hat's geklappt?« fragte Brügelmann.

»Und ob!« lachte Ignaz. »Da kann 'ne Königstochter mitfahren.«

»Ist auch nötig,« versetzte der Alte, »denn wer eine zu kutschieren hat, die Sattelmeierblut in den Knochen besitzt, der muß schon was Extraordinäriges leisten. Sattelmeierblut und Königsblut ist nämlich für gewöhnlich dasselbe.«

Ignaz nickte.

»Weiß schon,« sagte er überzeugt; »drum auch die kostbare Krone, die schon Wittekind in die Augen gestochen hat.«

»Stimmt,« versetzte der Alte. »So was gibt's zwischen Ruhr und Lippe nicht wieder. Die von die westfälischen Edelmänners sind gar nichts dagegen. – 'ne Prise gefällig?«

»Toujours!« sagte Ignaz und langte mit Daumen und Zeigefinger in die ihm dargebotene Schnupftabaksdose.

Dann horchten beide auf.

Noch einmal tönte es unter Peitschenknattern herüber:

»Juchheissa, vivat Kiärmißkron',
Mien' Frau – de kost't 'ne Kron'!«

»Jaja,« meinte Brügelmann, »das wird 'ne Sache mit allen Kulören. Ich danke Gott, so was noch erleben zu dürfen. Das tut einem gut – und da kann man sich freuen, daß einem der Schreiner noch nicht das letzte Häuschen angemessen hat.«

»Schon richtig,« konstatierte Ignaz, fingerte sich den Spaniol in die Nase und ging zu den Ställen. Einzeln musterte er sie durch, stellte Mißstände ab und bezeichnete die Kühe, deren Hörner am Hochzeitstage mit Goldschaum verkleidet sein mußten. Dann machte er Feierabend.

Auch Holthövel tat es.

»Rührt euch!« kommandierte er mit vollem Brustton und sagte alsdann: »Ich tue euch hiermit zu wissen, daß die Sache gefleckt hat. Abgetreten!«

Da gingen sie gehoben und stramm auseinander. –

Anderen Tages fand sich Heinrich Tillbeck auf dem Hofe ein. Es gab noch mancherlei zu besprechen und anzuordnen. Er und sie überlegten alles für morgen. Die Stunden vergingen ihnen, als wären es Minuten gewesen, und jede Minute hatte etwas Gehobenes in ihrem Wesen und Wollen.

Sie zeigte ihr Brautkleid.

Er bewunderte es.

Sie sprach von ihrem Kopfschmuck und erklärte ihm die Einzelheiten des alten Familienstückes.

Da blickte er still vor sich hin und war glücklich.

Beim Abschied legte er den Arm um sie und preßte sie an sich.

»Ich gehe noch mit dir,« sagte sie, an ihn geschmiegt. »Bis zum alten Birnbaum an der Asbecker Scheid gehe ich mit. Da bist du zum zweiten Male groß und schlicht und zuversichtlich in mein Leben getreten. Und dann: ich möchte noch den Abend genießen, mit dir genießen. Das gibt doppelte Freude.«

Da leuchtete es in seinen Augen auf wie heilige Feuer, wie sie brennen in der Gnadenkapelle zu Telgte.

»So komm,« sagte er hierauf, und da gingen sie Hand in Hand, klopfenden Herzens, aber mit stillen, ruhigen Seelen in die kahlen Felder hinaus, die unter einem weiten, fernsichtigen Novemberhimmel lagen.

Die Felder ruhten aus von ihrer Arbeit auf Erden. Viele hatten bereits das Saatkorn umschlossen und hielten es warm wie an treuer Mutterbrust – aber sie schliefen.

Und die beiden störten diesen gerechten Schlaf nicht. Wortlos schritten sie nebeneinander in den werdenden Abend, der immer schöner wurde, immer schöner und wärmer. Es war so, als ginge die Welt in den Frühling und nicht in den Winter hinein, so sanft war die Luft, so laulich und durchsichtig und von goldfeinen Ahnungen durchzittert.

Vom Schwarzen Holz her woben sich graue Schleier gegen sie an. Sie achteten nicht darauf. Ein inneres Licht war bei ihnen. Das ging vor ihnen her und leuchtete ihnen.

»Herrgott! wie das schön ist, so mit dir durch den Abend zu gehn,« sagte er endlich.

Er konnte die Fülle des Glückes, die in ihm war, allein nicht mehr tragen.

Da preßte sie seinen Arm mit zärtlicher Gewalt und drückte sich an ihn.

»Wie gut du bist,« sagte sie leise.

So waren sie an den alten Birnbaum gekommen. Kahl und leer streckte er seine Arme gen Himmel. Aber ein geheimnisvolles Raunen war in seiner breitausgelegten Krone.

Einsam ragte er auf. Er beherrschte die weite Gegend, denn er stand auf sanftabgedachter Hügelung, die sich ganz allmählich in die Niederung hineinzog. Das Land lag zu ihren Füßen, mit Hecken durchquert, mit eingesprengten Gehölzen und Ortschaften besetzt, jetzt eingedunkelt, aber noch immer hell genug, schärfere Dinge und Einzelheiten hervortreten zu lassen.

Es war ein verhaltenes Klingen in der Luft.

Sie standen Schulter an Schulter und Hand in Hand und sahen in froher Selbstvergessenheit über die schon schlummernde Erde. Einer hörte auf den Herzschlag des anderen.

Es war die Zeit, wo die Blassen im Lande den Hellweg aufsuchen und ihre Gesichte haben. In solcher Stunde wird alles Weihe und Andacht, und die Geräusche verstummen. Ganz leise und unauffällig ging der Werkeltag in den Feiertag über.

Das fühlten die beiden.

Und morgen war Feiertag.

Seine Blicke suchten den einsamen Hof auf, und sie fanden ihn. Tief am Boden liegend und in seiner ganzen, trotzigen Eigenart machte er den Eindruck gesicherter Ruhe. Das also war seine zukünftige Heimat! – und Heimat ist Friede.

Daran mochte er denken.

Jenseits des Hofes stand ein silbriger Schein, der nicht schwinden wollte. Er nahm vielmehr an Größe zu und drängte sich höher.

Unter ihm hellte ein Licht auf.

Es kam aus dem Brinkschultenhof und war das erste in der weiten Umgebung.

»Still!« sagte er und freute sich des aufgehenden Lichtes. »Heimat ist Friede.«

»Daran denkst du jetzt?« fragte sie leise.

»Ja, daran denke ich jetzt.«

Und wieder schwiegen sie; nur ihre Seelen sprachen, nahmen sich bei den Händen und gingen wie große, glückliche Kinder durch das schlummernde, eingedunkelte Land hin.

Und sie gingen auf das einsame Licht zu, und als sie näher kamen, da sahen sie, daß das einsame Licht in der Kammer brannte, wo die Krone der Sattelmeier von der Konsole herab grüßte.

Ein kurzes Zucken überflog seinen Körper.

Sie bemerkte es und suchte sich zu beherrschen. Einen Atemzug hindurch schloß sie die Augen; dann sagte sie innig: »Ich glaube, ich errate deine Gedanken.«

»Und ich die deinen.«

»Morgen,« kam es wie aus einem Munde.

»Ja, morgen . . .«

»Ach, du . . .!« sagte sie heiß und drückte sich fester an seine Schulter heran, »es ist doch etwas Großes und Schönes, starke Mannesliebe sein eigen zu nennen.«

»Und heilige Weibesliebe kosten zu dürfen.«

»Ach, du . . .

Sie warf sich in seinen Armen herum, daß ihr Kopf an seiner Achsel ruhte.

»Was ich jetzt möchte . . .

Seine Stimme nahm einen besonderen Klang an. Es war ein Beben darin und geknechtete Leidenschaft.

Da sah sie ihn an, wie im Erstaunen, willenlos, geborgen durch seine Nähe. Ihr Mund fältelte sich, und sie drängte ihre Brust an die seine.

»Josepha . . .

Immer enger fühlte sie sich von seinen Armen umschlungen.

»Josepha . . .

Sie warf sich im Oberkörper zurück. Auge senkte sich in Auge. Er beugte sich vor, und seine Lippen standen über den ihren. Er streichelte ihr Haar, ihre Stirne, ihre Schläfen.

»Meine Josepha . . .

Eine Siegfriedsgestalt, ein Königsadler hielt eine köstliche Beute zwischen den Fängen.

»So tue es doch,« sagte sie ächzend.

Dann wurde sie ganz ruhig.

Er aber legte seinen Mund fest auf den ihren, und zwei Menschen fanden sich in der großen Einsamkeit in einem langen und verzehrenden Kusse, und in diesem Kusse ruhte Liebe und Leid, Hoffnung und seliges Weinen.

Da drüben wurde die Helle immer größer. Ein Schleiern und Weben wie von Filigrannetzen ging über die Landschaft. Himmel und Erde berührten sich.

Da ließen sie voneinander.

»Gute Nacht,« hauchte sie.

Noch ein letztes Umarmen, ein keusches Anschmiegen, Brust an Brust und Wange an Wange, ein Geben und Nehmen . . .

Dann schieden sie.

Noch lange sah sie ihm nach.

Einsam rauschte der Birnbaum im weiten Felde.

Es klang wie Musik.

»Heimat ist Friede . . .! – Heimat ist Friede . . .

Als sie sich zum Gehen wandte, lag das Mondlicht weiß auf dem Wege.

Hochaufgerichtet und mit festem Knöchel schritt sie hindurch und ließ sich von dem fließenden Licht überrieseln.

Vor ihr wuchs der Brinkschultenhof aus dem Boden. Je näher sie kam, um so breiter und höher stieg er in den Abend hinein, eine riesenhafte Silhouette mit flimmerigen Ecken und Kanten, in deren Giebelfront das einsame Licht brannte.

Als sie die Eichenallee erreichte, die direkt in den Hof führte, trat sie in gitterige Schatten, die sich kaum merklich am Boden bewegten. Rechts und links davon lag alles in milchiger Beleuchtung. Unzählige Funken nisteten zwischen den gebrochenen Furchen.

Plötzlich, als würde sie von einer höheren Gewalt zurückgehalten, verlangsamten sich ihre Schritte. Sie konnte kaum weiter. Jetzt wurde sie angesprochen.

»Tag, Brinkschulte  . . .

Der Puls setzte aus.

Wurden die Toten wieder lebendig . . .?!

Ja, die Toten wurden lebendig.

Da saß jemand seitlich der Straße.

Er saß auf dem Grabenrand und hatte eine breite Wallhecke im Rücken.

Er tat so, als sähe er nichts; aber langsam und gedehnt preßte er einzelne Worte durch die Zähne hindurch:

»Im Susewind gesessen.
Geschlafen im Roggenstroh;
Hab' Rüben und Häcksel gefressen . . .
Der Hunger . . . der Hunger . . .«

Mit einem tierischen Laut brach er ab; dann ein metallisches, hartes Lachen . . .

Es durchschnitt ihr die Seele.

Er war also wiedergekommen.

Sie konnte sich kaum noch auf den Füßen halten.

In Rufweite lag der Hof . . . Wenn doch einer käme! – Sie konnte nicht rufen . . . Ihre Kraft war zu Ende . . . Sie rang nach Atem . . . Sie wollte aus der Nähe des Unheimlichen . . . Sie versuchte weiter zu gehen . . .

Da stand er schon neben ihr – barhaupt, übermenschlich, mit aufgerissenen Augen, in die das Mondlicht wie in helle Scheiben hineinsah.

»Wo kommt Ihr her . . .?« stieß sie hervor und zog ihr Tuch eng um die Schultern.

»Brinkschulte! – wie'n Vieh über die Heide getorkelt . . . All die Wochen eingelegen bei Medard im Schafstall, weit dahinten, bei Salzkotten . . . Rüben und Knollen gerammst . . . Hunger . . . Hunger . . .

Er trat näher heran.

»Und das alles, um meinen Palm wieder zu holen. Der alte Jasper hatte ihn nicht. – Medard hatte ihn nicht. – Hast du meinen Palm . . .?!«

Er lächelte, er faltete die Hände, er bat mit flehender Stimme: »Brinkschulte, ich muß meinen Palm wieder haben.«

Seine Stimme wuchs und nahm einen bedrohlichen Ton an: »Brinkschulte, es geht um Leben und Sterben . . . Ich bin auf dem Hellweg gewesen . . .«

Hierauf wiegte er sich in den Hüften, als vernähme er ferne Tanzmusik, und begann wieder zu sprechen, aber näselnd, weich, mit eigentümlichem Singsang:

»Im Susewind gesessen,
Geschlafen im Roggenstroh;
Der Hunger . . . der Hunger . . .«

Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

Sie schüttelte sie ab.

Ihr grauste.

»Brinkschulte, macht keine Dummheiten.«

Seine Blicke umgriffen sie, hüllten sie ein, entkleideten sie und drangen in ihr Innerstes, um ihre Gedanken zu suchen.

Woran dachte sie jetzt?

Er parierte ihr nicht mehr. Ihre Gewalt über ihn war in die Brüche gegangen. Das fühlte sie deutlich, und daher: sie mußte es durch Güte versuchen, aus seiner gefährlichen und bedrohlichen Nähe zu kommen.

»Ihr seid müde,« sagte sie keuchend. »Kommt mit auf den Hof. Da wird alles gut werden.«

»Nach Hause . . .?! – Auf den Hof . . .?! – Unsinn . . .

Er vertrat ihr den Weg.

»Brinkschulte, daß ich's man sage: Soeben – am Hellweg bin ich gestanden . . . Da kam es gegangen . . .

Wer soll dat Kindken begrawen?
De Köster un de Rawen . . .!

Totenlaken . . .! – Totenlaken . . .

Er warf beide Arme nach oben: »Da kam es gegangen, aber ohne Viggelinen und Klarnetten. – Totenstill, totenstill! – 'ne große Proßjohne mit 'nem schwarzen Wagen dazwischen und mit 'nem schwarzen Kerl auf dem Bock. Der hatte ein düstres Flittken am Hut. Und dahinter der Kaplan und die Lichtjungfer und alle Knechte und Mägde – und sechs schwarze Bretter . . .! Die paßten nach Länge und Breite – für Euch nach Länge und Breite . . .« und er legte zum andern die Hände zusammen: »Herr Jesus Christus, gib ihr die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihr. – Was siehst du mich an? Du glaubst wohl, ich könnte kein Kreuzchen mehr machen? So mach' ich ein Kreuzchen. – Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes . . .«

Eiskalt fiel es über sie her. Sie konnte nicht vorwärts, nicht rückwärts. Der Mensch griff in ihre Seele hinein – brutal, unerbittlich, mit Leichenfingern . . .

»Komm, Kardel, wir wollen nach Hause . . .«

Sie zog ihr Tuch immer enger zusammen. Ihre Schultern fröstelten.

»Ach was, nach Hause . . .

Karl Mersmann wuchs unter den Strahlen des Mondes. Einer trat neben ihn. Das war der Wahnsinn. Der stieß ihn in die Rippen: »Kardel, immer man vorwärts!«

»Jawoll!« schrie der Spökenkieker. »Auf dem Hellweg bin ich gestanden, und also geschieht es, das mit den sechs Brettern, wenn Ihr meinen Palm nicht herausgebt. Meinen Osterpalm will ich haben.«

»Ich habe den Palm nicht!«

Ihre Worte erstickten. Sie griff nach den Schläfen. Kreidig stand ihr entsetztes Gesicht zwischen den Händen.

»Nein, ich habe den Palm nicht!«

»Nicht, wahrhaftig in Gott nicht . . .?! – Aber da sitzen sie und halten Gericht ab: Jan van Leyden, Knipperdölling und Krechting . . . und machen ein Rasiermesser blank. Komm her, Elisabeth Wandscherer, wir wollen das neue Kegelspiel spielen. Es tut gar nicht weh. Heiliger Bülo Krawallo . . .

Pfeifend ging ihm der Atem durch die Zähne. Seine Muskeln spannten sich in dem sehnigen Körper. Die Augen loderten. Sie waren blutunterlaufen. Es wurde klar in seinem konfusen Schädel. Die Gedanken sammelten sich, nahmen Richtung und Vernunft an. Die alte Zeit wurde lebendig, die Stunde, kurz vor der Katastrophe an der Bodenluke . . .

Er sah alles in dunklen Rissen, schattenhaft, aber scharf wie mit einer feinen Schere geschnitten.

Da stand sie – das Weib von früher; nur älter, schöner, gereifter. Das waren dieselben Haare wie einstens; nur voller und in satteren Farben. Schwerer, duftiger. Wie ihr harter Busen unter dem straffgezogenen Tuch sich auf- und niederbewegte! Wie das gierig machte! Wie das ins Fleisch hineinpackte! Das gehörte ihm; das war früher mal sein eigen gewesen, wenn auch nur in einer kurzen, unseligen Stunde.

Sein Blut kam ins Stürmen.

Der arme Gottestropf war wieder zum Menschen geworden – zum Menschen, dem das Verlangen in den Ohren sauste, dem wieder in die Sinne trat, was er einst besessen und dann für immer verlieren mußte.

Ein trunkenes Lallen! – und mit diesem trunkenen Lallen drang er auf sie ein, umstrickte sie mit nervigen Armen und preßte ihr den Kopf auf den Hals, zwischen Kleidrüsche und Ohrmuschel. Gierig, lechzend drückte er seine heißen Lippen auf die zuckende Stelle.

»Laß mich los!« rief sie gellend. Ein Biegen ihres geschmeidigen Leibes, ein Ringen und Wehren – und dann ein Schrei des Entsetzens, ein Schrei nach dem Geliebten . . .

»Ja, schrei nur, schrei nur . . .! Damals hast du nicht geschrien, damals, als der Brinkschulte mit 'ner Wagenrunge . . . und dann bin ich aus der Bodenluke gefallen . . .«

Ein letztes Aufbäumen ...

»Heinrich . . .! – Heinrich . . .

Die Luft wurde auseinandergeschnitten.

Es drang bis zum Hof.

Aber Karl Mersmann lachte in diesen Verzweiflungsschrei hinein.

»Das wußte ich ja . . .! Der Mensch will dich hochzeitern! – Aber bevor er dich hochzeitert . . . Gericht will ich halten . . .! – Am Hellweg sitzen die drei . . .! – Die werden dir sagen: Karl Mersmann ist der nächste dazu. Das werden sie sagen. Ins Düstermoor, ins Düstermoor . . .! Da ist Ruhe, da wird Hochzeit gehalten . . .

Ihre Sinne starben ab. Eine barmherzige Ohnmacht umfing sie.

Sie fühlte nur noch: von riesigen Kräften wurde sie aufgehoben, wurde getragen über Stoppeln und Acker, und eine wütige Stimme klang in das monotone Schreiten hinein:

»Im Susewind gesessen,
Geschlafen im Roggenstroh;
Der Hunger . . . der Hunger . . .«

Dann hörte sie nichts mehr.

Als sie aufwachte, lag sie im hellen Mondlicht auf freiem Feld, hundert Schritte von der Straßenallee entfernt.

Ignaz Greving und Holthövel bemühten sich um sie.

Sie lächelte wieder. Von den beiden geleitet, ging sie nach Hause.

»Ick gröte Ju, leiwe Mann,« sagte sie unter leisem Schluchzen und reichte jedem die Hand.

Von Karl Mersmann aber war nichts mehr zu sehen.

 


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