Joseph von Lauff
Die Brinkschulte
Joseph von Lauff

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Dreizehntes Kapitel

Noch lange zitterte das Klingen dieser Stunde in ihrem Herzen nach. Und immer wieder begann es aufs neue zu klingen – die Tage hindurch, die Nächte hindurch, und Nächte kamen, die so hell und durchsichtig waren wie lichtklare Tage.

Und diese Nächte verfolgte Karl Mersmann mit stiller Aufmerksamkeit und seltsamem Wesen. Er war überall und nirgends. Er stand auf dem Hellweg, das Hemd über der mächtigen Brust geöffnet, um plötzlich hinter einem Baum im Garten oder einem Gemüsebeet aufzutauchen. Den geweihten Buchsbaum oder Palm, wie er im Volksmunde hieß, der hinter dem kleinen Spiegel in seiner Kammer steckte, pflegte er in solchen Nächten mit rührender Einfalt, preßte ihn an die Lippen und netzte ihn mit klarem Brunnenwasser, stündlich gewärtig, daß er neue Zweiglein ansetzen und grünen würde. Er dachte dabei an die Jerichorose im Heiligen Lande. Wie diese sollte auch der Buchsbaum sich erschließen und von längst vergangenen Zeiten erzählen.

Aber das Palmsträußchen blieb, was es war: ein verschrumpfeltes Ding mit mürben Blättchen und Zweigen, das kein Leben mehr ansetzte.

»Denn nicht,« sagte Karl Mersmann und stellte sich an dem schwarzen Tümpel hinter der großen Scheune auf Anstand, gewillt, irgendeiner vagabundierenden Ratte den Garaus zu machen.

Er war von einer merkwürdigen Atmosphäre umgeben. Niemand sah ihn, und doch sahen ihn alle. Er war von knechtischer Unterwürfigkeit und von eigenwilliger Anmaßung. In der letzten Zeit hatte sich sein Nacken gestrafft, war braun wie Erde und wurde von zähen, eisernen Muskeln getragen. Mehr denn sonst steckte Karl Mersmann voller Widersprüche. Er vermied die Brinkschulte, ging ihr aus dem Wege, wo er nur konnte, und doch war er bei ihr – ein treuer Hund, der eine Siedelung umkreiste.

In solchen Nächten stand auch die Brinkschulte am Fenster. Und sie sah ein weites, endloses Meer und mitten darin ein friedliches Eiland.

»Ach, wer da wohnen könnte!« hauchte sie leise, und sie breitete ihm Herz und Arme entgegen, denn auf dem fernen Eiland, das auf Mondlicht zu schwimmen schien, wohnte das Glück.

»Wenn er doch käme!«

Und sie wartete Stunde um Stunde und Tage um Tage – und er kam nicht.

Er schien sie vergessen zu haben, trotz der Asbecker Scheid und trotz ihrer Aufforderung.

Da drückte die schwergeprüfte Frau die Stirn gegen die Scheiben und hoffte, das Vergessen zu finden. –

Die dumpfigheißen Sommertage wälzten sich gleich gigantischen Lastwagen über die Erde. Längst war auch der Weizen eingebracht worden. Die Brunnen senkten ihren Wasserstand tiefer; die lehmigen Feldwege wurden hart und trocken wie Asphalt und bekamen Risse und Schrunden.

Auch die Tätigkeit des alten Jaspers trocknete ein. Er lebte ein verborgenes Leben. Man hörte nichts mehr von ihm. Er schien sich auf den Altenteil gesetzt zu haben. Die auf dem Brinkschultenhof hatten Ruhe vor ihm. Seine Begierde nach Grund und Boden war eingeschlafen, sein neues Evangelium klang hohl und geborsten wie ein zersprungener irdener Topf. So behaupteten wenigstens einige Leute aus Sönnern, die ihm in Dortmund zufällig begegnet waren. Im übrigen zerflatterte sein Name gleich Häckselspreu. Man hatte nicht gern mit dem zugeknöpften Brandstifter und Unfriedsucher zu schaffen. Man rückte von ihm ab, wie man von einem Unreinen abrückt. Nur eines Sonntags war er in Sönnern gewesen, hatte das Dorf abspioniert und dem emeritierten Rektor Tobias Klopps, der stets eine heimliche Freude darin fand, die harten Bauernköpfe gegeneinander auszuspielen und sie wirbelsinnig zu machen, einen Besuch abgestattet. Das war auch alles. Seit Wochen wurde Jaspers zu den Toten geworfen. Keiner sprach mehr von ihm, und wenn es doch einer tat, dann rasselte Jans Stedink entrüstet mit seinem steifen Schurzfell, daß die Unterhaltung unterging wie eine bleierne Ente.

Auch heute geschah es.

Die Fenster in der Wirtschaft ›Zum fröhlichen Anton‹ standen sperrangelweit geöffnet. Viereckige Stücke tiefblauen Himmels, in denen sich kein Federwölkchen bewegte, standen zwischen den Fensterrahmen. Nur ab und zu hastete eine rasche Schwalbe vorüber oder stimmte ein dickleibiger Brummer seine näselnde Melodie an, mit der er ungeschickt in die Wirtsstube hineintaumelte.

Von jenseits der Schmiede kam eine wohltuende Kühle herauf.

Pius der Neunte und Bismarck hingen friedlich nebeneinander. Wacholderduft und Tabakskringel umzogen die vergoldeten und jetzt von Fliegenschmutz gesprenkelten Rahmen. Auch heute saß der Rektor außer Dienst auf dem ripsenen Kanapee, einen ›ollen Klaren‹ vor sich und die langen Beine selbstgefällig unter die Tischplatte geschoben. Den zwerghaften Kopf mit dem Entenschnabelgesicht in die klobigen Hände gestützt, bohrte er die stieren Blicke in sein Leibblättchen hinein, das in Dortmund erschien und hinsichtlich seiner vaterländischen Gesinnung zu den minderwertigen Erzeugnissen der engeren Heimat gehörte. Der Inhalt interessierte ihn höchlichst, machte ihn tot für die Außenwelt und ließ ihn achtlos über die anderen Gäste hinwegsehen, die nicht weit von der Anrichte saßen und von diesem und jenem des Längeren und Breiteren erzählten. Ab und zu wurde ein politisches Wort dazwischen geworfen. Dann drehte sich der vermickerte Kopf auf den ungeschlachten Schultern herum, spitzte die Ohren, um gleich darauf den Entenschnabel wieder mit einem überlegenen und verbissenen Lächeln in die knitterigen Blätter der Zeitung zu stecken.

Emanuel Wimke führte am Nebentisch das große Wort, kümmerte sich den Henker um den emeritierten Rektor und amüsierte die Gesellschaft damit, allerlei Kunststücke mit Schwefelhölzern zu machen oder einen funkelnagelneuen Taler wie eine Oblate zwischen den spitzen Fingern zu zeigen und ihn spurlos verschwinden zu lassen.

Der Kerl war zum Närrischwerden.

Selbst Fritze Leppers hielt sich hinter der Anrichte den Buch vor Lachen und spritzte mit seinen viven Schrotkügelchen herum, daß es man so eine Art hatte, obgleich er eigentlich vier Hände haben mußte, seine Gäste ordnungsmäßig zu bedienen.

Es ging auf Feierabend.

Aus der Stedinkschen Schmiede klang noch immer die Arbeit herüber. Dann eine mächtige Stimme: »Sechs Uhr. Schicht wird gemacht!« – und das wuchtige Hämmern verstummte, als wäre ihm die Zunge aus dem ehernen Leibe herausgeschält worden.

Gegen seine Gewohnheit blieb der Rektor dieses Mal sitzen. Eine Notiz des Dortmunder Blättchens schien es ihm angetan zu haben.

»Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen,« ließ sich Wimke vernehmen, indem er ein blankes Geldstück zwischen Daumen und Zeigefinger emporhielt und den Ärmel etwas in die Höhe streifte, »hier diesen preußischen Taler mangier ich mit Kopf und Wappen herunter und zieh' ihn mit Ihrem gütigen Wollbenehmen wieder aus die Nasenlöcher heraus. Wer wettet ein preußisches Kastemännchen dagegen?«

Alles riß Nase und Mund auf, während Wimke das Geldstück herumzeigte und es den Zuschauern gewissermaßen mit der Handfertigkeit eines kundigen Taschenspielers anpräsentierte: »Wer wettet dagegen?«

»Auf solchen Unsinn zu wetten . . .!« klang es höhnisch von der Sofaecke her.

»Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen – woso?« fragte Emanuel Wimke und sprang krötig auf seine fixen Beine.

»Weil es Unsinn ist, purer, leibhaftiger Unsinn!« konstatierte der gallige Rektor und schlug dabei mit der flachen Hand auf die Zeitung, daß es knallte und das Glas mit dem ›ollen Klaren‹ umschüttete.

»Herr!« unterbrach ihn Wimke, »ich bin ein Sönnener Bürger und Sie man ein Hergelaufener aus Dortmund. Ich bitte Ihnen, uns eingeborene Männer zu respektieren und uns unser Pläsier zu belassen.«

»Ach was!« hielt ihm der Rektor entgegen, »Sie mit Ihren dämlichen Redensarten. Hier stehen wichtigere Dinge auf der Tagesordnung, Dinge, von denen Sie keine blasse Ahnung besitzen.«

»Was ist denn los?« fragte Leppers und kroch hemdärmlig hinter der Anrichte vor.

»Hier!« donnerte der Rektor, falzte die Zeitung zu einem schmalen Streifen zusammen und hielt die also zugerichtete wie ein Billardkö in die Höhe. »Die neuen Reichstagswahlen stehn vor der Tür, und einsichtsvolle Leute haben beschlossen, mir ein Mandat in die Hände zu legen. Ich würde in diesem Falle auch Sönnern vertreten.«

»Sie?« fragte Wimke und machte dazu ein Gesicht wie der ungläubige Thomas, dessen Bild, von Ludger tom Rink gemalt, neben der Sakristei in der Kirche von Sönnern hing und vor dem die Kinder jedesmal ein heimliches Lachen bekamen.

»Warum nicht?« versetzte der Rektor und erhob sich in seiner ganzen knolligen Schwerfälligkeit. »Es wäre ein Glück für die ganze Umgebung, für Preußen, für Deutschland. Es ist endlich an der Zeit, daß die richtigen Männer auf die richtige Stelle placiert werden. So geht das nicht weiter. Männer mit Haaren auf den Zähnen sind so nötig wie bei denen in Dortmund die Brotschnitten. Ich bin der Mann, ihnen Brot und Freiheit zu geben . . .«

In diesem Augenblick traten Jans Stedink und Heinrich Tillbeck ins Zimmer, blieben aber sprachlos an der Türe stehen, als sie die Expektorationen des Rektors vernahmen.

Dieser ließ sich nicht stören, auch durch Jans Stedink nicht stören, obgleich er es meistens vorzog, ihm ängstlich aus dem Wege zu gehen. Dem zukünftigen Reichstagsabgeordneten geziemte das nicht mehr. Er hatte Farbe zu bekennen – offene und ehrliche Farbe und ohne Ansehn der Person. So harrte er denn auf seinem Posten aus, mit freier Stirn und einer großen Mission unter dem blaugestärkten Chemisettchen.

»Gleichheit vor dem Gesetz, das ist meine Maxime,« also fuhr er fort und pfefferte das gefalzte Zeitungsblatt auf die Tischplatte zurück. »Was hat uns Bismarck zu sagen? Was haben uns die blöden Patrioten zu sagen? Was hat uns der ganze Militarismus zu sagen? Was bedeutet das alles? Kaum soviel wie das Schwarze unter meinem Nagel bedeutet. Fortschritt, nur Fortschritt! Aber das klebt, als hätte die verdummte Menschheit Pech an den Schuhen. Ich will nicht, daß die Kohlenbarone und die sonstigen Großtuer in Dortmund allein prosperieren. Ich will nicht, daß der Bauer die Hände in den Hosensack steckt und breitmäulig zusieht, wie ihm sein Ochse das Geld in die Taschen hineinfrißt. Dem muß der Brotkorb höher gehängt werden, damit er endlich begreift, was es heißt, hungern zu müssen. Und die da in Dortmund, die hungern.«

»Da kiekt mal!« rief eine fette Stimme herüber. »Sie sind ja ein infames Faktotum von 'nem früheren Lehrer!«

»In Ihrem Sinne jawohl, aber nicht im Sinne der Intelligenz. Aber ich will, daß man den Menschen unter Tag, den Menschen mit den leeren Mägen und dem gebrochenen Familienleben nicht in den Arm fällt und ihnen das ›Glückauf‹ in den Mund hineinzwingt. Denen in Berlin werde ich 'ne Laterne aufstecken, aber 'ne helle. Alles muß vor mein Forum: die Menschenschinderei, der aufgespeicherte Grundbesitz, die geknebelten Kunstanschauungen. Ist ein Mensch nicht so viel wert wie der andere? Warum hat die Brinkschulte alles und ich man das Nachsehn? Was ist überhaupt Besitz? Er gehört dir, er gehört mir, er gehört niemandem – nur daß ihn einige haben . . .«

»Ruhe, man Ruhe!« gebot Jans Stedink und gab seinen Bart frei, den er noch vergessen hatte, aus dem Schurzfell zu knöpfen.

»Nein, ich gebe keine Ruhe, absolut keine Ruhe. Ich kämpfe für Gleichheit und Brüderlichkeit, für Kunst und Wissenschaft und werde denen in Berlin beweisen, was sie für 'ne schandmäßige Kunst in gewissen Lokalen und Theatern betreiben. Die schreit ja zum Himmel, die humpelt 'rum wie 'ne alte Großmutter, die sich am Byzantinismus den Magen verkolkt hat und nicht leben und sterben kann. Das sage ich, ich Tobias Klopps, emeritierter Rektor, wohnhaft zu Sönnern.«

Ein helles Lachen verschlang seine letzten Worte.

»Was kapieren Sie überhaupt von die Künste und Wissenschaften?« fragte Jans Stedink. »Sie verfertigen ja selber Gedichte und Riemsels, daß es ein Ferkel zu jammern vermag. Da ist Emanuel Wimke ein wahrhaftiger König dagegen.«

»Ich und keine Gedichte . . .?! – Ich, der Mann der Intelligenz und der Bildung . . .

»Ach was mit Ihrer krummnäsigen Bildung! Allerdings, wenn der Herr Pastor die Messe liest, dann fühlen Sie sich und nicken dazu, als wäre Ihnen jedes Wort so geläufig wie'n glatter Aal mang die Finger. Aber ich wette mein Schurzfell dagegen« – und damit ließ er es aufrasseln wie eine alte Franzosentrommel – »daß Sie davon soviel verstehn wie'n gesalzner Hering von's Mausefangen.«

»Herr Stedink . . .

»Kein Wort mehr! – Nein, Sie können kein Latein und können keine Riemsels verfertigen. Sie können überhaupt nichts; höchstens verstehn Sie es, konfuse Schädel noch konfuser zu machen.«

»Ich will . . .«

»Sie haben gar nichts zu wollen. Und damit aus!«

Er drehte sich dem Wirt und den übrigen Gästen zu: »Tag, die Herrens! Von dem will ich haben; 'nen Wacholder. Um dessentwegen bin ich gekommen.«

Hierauf nahm er Platz und winkte Tillbeck zu, sich an seine Seite zu setzen, während der Rektor sich mit einem höhnischen Lächeln in die Sofaecke zurückfallen ließ und aufs neue in seinem Leib- und Magenblättchen studierte.

Über das ihm zuteil gewordene Lob ähnelte Wimke einem geschwollenen Laubfrosch, der eine Portion fetter Fliegen eingeschnappt hatte, sprach von neuen Ideen, zeigte ein frisches Kartenkunststückchen und ließ schließlich drei Talerstücke aus der Nase spazieren, eins nach dem andern, drei veritable preußische Talerstücke, daß die Bauern wähnten, Wimke habe einen regelrechten Verbrüderungsbund mit dem Satan geschlossen.

Selbst Fritze Leppers versicherte, so etwas wie das Herausschneuzen der Taler noch niemals in seinem Leben gesehen zu haben, schlug sich auf die fetten Schenkel, daß es einen herzhaften Knall gab und ging in seinem Pläsier so weit, eine Lage Bier zum besten zu geben, als die dürre Gestalt des alten Jaspers in einem der Fensterrahmen auftauchte.

Der grindige Marabukopf mit den gesunden Raubtierzähnen erschien gerade in Höhe des Sofas, nickte dem Rektor zu und versuchte es, sich über die anderen Gäste zu informieren.

»Bitte Entree,« meinte der Rektor, als er den Alten bemerkte.

»Wenn es erlaubt ist . . .

»Warum nicht? Man immer 'rein, Jaspers. Hier ist noch Platz genug für propere Leute.«

Da aber sprang Jans Stedink mit einem jähen Ruck auf die Beine, umgriff seine Stuhllehne und wandte sich mit einer kurzen Drehung an Leppers.

»Hier ist Euer Reich und Euer Tempel, Leppers,« sagte er fest und bestimmt. »Darüber habt Ihr zu verfügen. Um dessentwegen habe ich mich hier um gar nichts zu bekümmern. Tut, was Ihr wollt. Aber wenn der da 'nen Fuß über die Schwelle setzt, dann habe ich im ›Fröhlichen Anton‹ zum letztenmal 'nen Wacholder getrunken.«

»Das wäre noch schöner . . .

Da stand der Herr Rektor Tobias Klopps in seiner ganzen fadenscheinigen Größe und seiner aufgeblasenen Unwissenheit und ließ seine Kauwerkzeuge gegeneinander spielen.

»Das ist Tusch!« trat er Jans Stedink entgegen. »Wie können Sie sich unterfangen, einem friedfertigen Bürger, der zudem noch durch mich, den zukünftigen Mandatsträger, invitiert wurde, das Lokal zu verbieten?«

»Weil der Mann nicht in den ›Fröhlichen Anton‹ gehört, wenigstens solange nicht gehört, als anständige Menschen sich hier ihren Wacholder genehmigen.«

»Warum nicht gehört?«

»Weil's mir nicht paßt. Im übrigen bin ich keinem Rechenschaft schuldig.«

Das Schurzfell rasselte auf: »Ich heiße Jans Stedink und lasse mir von keinem Vorschriftens machen. Und wenn ich dennoch rede, so tu ich's man im Hinblick auf meinen Freund Fritze Leppers, um mir zu entschuldigen, wenn ich und meine Bekannten Leine ziehen und anderwärts Feierabend machen.«

Der schwarze, seidenhaarige Bart legte sich in zwei mächtige Hälften.

Jans Stedink fuhr daran herunter und zwirbelte die Enden mit Daumen und Zeigefinger zusammen.

»Per primus,« sagte er würdig. »Mir kann keiner zumuten, mit 'nem Mann unter ein und demselben Balken zu sitzen, der gewissermaßen unter dem Henkerbeil des Gesetzes lebt und nur weiter 'rumvegetiert, weil er durch das Loch der Verjährung hindurch geflutscht ist.«

»Leere Ausflüchte, schandbare Vermutungen!« ereiferte sich der vierschrötige Rektor, gestikulierte mit seinem Taschentuch und ließ die flache Hand auf den Tisch fallen. »Beweise, Beweise . . .! Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, wenn auch 'ne Jugend mit 'nem babylonischen Vollbart . . .«

»Herr, ich bitte mir aus, meinen Vollbart in Ruhe zu lassen, wenn er nicht vorzieht, seine eigenen Backenzähne schlucken zu müssen.«

»Ich wollte nur sagen: War einer dabei? Hat einer mit leiblichen Augen gesehn? Sie etwa? Jemand im Dorf? Ich nicht. Und da kommt so einer daher und schneidet einem Förderer der bürgerlichen und geistigen Freiheit die honorigen Knöpfe von seinem Ehrenkleide herunter. Das muß vor den Reichstag, das muß die Volksvertretung brandmarken. Ich werde, ich werde . . .«

Jans Stedink lächelte und hörte über die Kloppssche Drohung hinweg, wie ein Stocktauber über eine Brandglocke hinweghört.

»Zum andern!« fuhr er dann fort. »Wer hat die armen Bergmannsleute aufgestachelt und ihnen brennenden Schwamm unter den Hintern gepfeffert, daß sie unbewußt in die blanken Bajonetters hineinmußten? – Wer hat Dörte und den braven Zechendores auf dem Gewissen? – Etwa die Dreizehner aus Münster? Keine blasse Idee. Die sind nur Mittelsleute gewesen. Aber die Kerls sind's gewesen vom Schlage des Mordiobrenners, die hier noch ihren angestammten Advokaten finden . . . Um dessentwegen haben die Dortmunder Bergmannsleute alle viere gen Himmel gestreckt oder sind in die Käsemessers gelaufen, anstatt sich an Gesetz und Ordnung zu wenden.«

»Dann wären sie längst verhungert. Und darum sage ich mit Fug und Recht, ich, der Mann, der vermöge seiner Intelligenz turmhoch über Sie steht: Herr Jaspers ist ein Apostel der Freiheit!«

»Ein netter Apostel!«

Die Stimme Jans Stedinks donnerte: »Das ist ja um Hundekuchen zu fressen . . .!« – und das harte Schurzfell fiel rasselnd dazwischen – »das ist ja . . .«

Er besann sich anders. Er wollte dem Rektor die Ehre nicht antun. Er hatte lediglich mit Fritze Leppers und den vernünftigen Gästen zu reden.

»Zum letzten! – Wer will mit 'nem Menschen was zu tun haben, den selbst die Vereinigten Staaten nicht wollen? Ich nicht, keiner von uns, auch die Brinkschulte nicht! – und nu kommt dieser Musjö mit seinem bankrotten Menschen von die Indianers retour und will sich wichtig machen im ›Fröhlichen Anton‹ und will sich als Ohm der Brinkschulte aufspielen, und will ihr mit seiner toten, grindigen Hand an die Kehle, und will ihr sagen: Dein Gut ist mein Gut; heraus mit dem Erbteil . . .«

Ein helles Lachen unterbrach ihn.

Der Rektor hatte gelacht, der jetzt seine Zähne aufeinanderwetzte, als müsse er den Sprecher zerschroten.

»Immer noch besser,« fuhr er dazwischen, »als wenn er auf der faulen Haut läge und sich sein gutes Geld aus der Hand spielen ließe. Wir wissen ja alle, was das sogenannte Anerbenrecht für ein antiquiertes, liederliches Recht ist. Es ist überhaupt kein Recht. Es ist eine Familienraufe, bei dem einer vor Überfluß berstet, während der nächste sich zufrieden geben muß, die mistigen Strohhalme unter seinen Füßen zu fressen. Da kann nur Selbsthilfe zum Ziele führen. Und ich frage jeden denkenden Menschen: Wer ist höher einzuschätzen, derjenige, der als Verwandter des Hauses, also als leibhaftiger Bruder des Vorbesitzers, alles in Bewegung setzt, sein ihm von Gott verbrieftes Recht zu vertreten und durchzufechten, als der, der gewissermaßen als ein von der Senne Gelaufener, als Habenichts und landfremder Mann sich unterfängt, Haus und Hof und Weib anzuschleichen, um alles in seine Tasche zu stecken? Ich meine, da ist der erste doch besser.«

»Hoho!« rief Jans Stedink und sah jeden einzelnen an und wurde wie einer, dem das Entsetzen auf die Schulter klopfte, und sagte: »Mein Sohn, du hast in dieser Sache nichts mehr zu reden; jetzt muß ein anderer sprechen.«

Er meinte denn auch: »Nu bin ich fertig mit dem da, nu habe ich mich verdefendiert vor dem Besitzer des ›Fröhlichen Anton‹, warum ich nicht bleiben kann, wenn der alte Jaspers seine Beine hier unter den Tisch stellt. Das alles wißt Ihr jetzt,« und mit fürchterlichem Ernst wandte er sich an Heinrich Tillbeck, knüpfte bedachtsam einen Knoten in seinen Vollbart und sagte: »Tillbeck, ich habe gesprochen. Was nu erfolgen soll, das ist andermanns Sache. Ich würde ein Unrecht begehn, wollte ich's auf meinen Acker verpflanzen. Das steht mir nicht an. Da bin ich denn doch nicht der Kerl dazu. In diesem Augenblick nicht, in diesem Momang nicht. Tillbeck –« und seine Stimme nahm einen sonoren, feierlichen Klang an – »Tillbeck, jetzt ist die weitere Arbeit an deine Adresse gekommen.«

»Bravo!« riefen Wimke und Leppers.

Alle sahen auf den Angesprochenen.

Aber da stand Heinrich Tillbeck schon – dem Rektor direkt gegenüber – wie aus Erz geschweißt – mit eisernem Gesicht – ruhig wie er geblieben war, als die blauen Husaren auf französischer Erde die Attacke anbliesen. Auf seinen Zügen lag der entschlossene Wille, den andern niederzuschlagen. Und dennoch beherrschte er sich. Ein Blutstropfen lag auf der Unterlippe, in die er die Zähne gebissen. Langsam kam er ins Fließen.

»Also ich bin der hergelaufene Kerl, der Habenichts, der landfremde Mann, von dem Ihr vorhin geredet?«

Jedes Wort war wie auf dem Amboß geschmiedet, zielbewußt und ohne jede Erregung; aber es war heiß und von glühenden Funken durchzittert.

Der Rektor drehte den Tisch gegen Tillbeck. Hinter dieser Verschanzung fühlte er sich sicher.

»Jawohl,« sagte er denn auch, »ich bin nicht gesonnen, mein Wort zu den Akten zu legen. Das steht einem zukünftigen Mandatsträger nicht zu. Und daher: wer fragt, der hat sich schon selber die Antwort gegeben.«

»Den ›Habenichts‹,« sagte Tillbeck mit derselben Gelassenheit von eben, »lasse ich Euch hingehn, obgleich ich reiche und gesunde Kraft in den Knochen besitze; auch den ›hergelaufenen Mann‹, obschon ich mich auf westfälischem Boden zu Hause weiß – aber das mit der Brinkschulte . . .

Mit einem Sprung war er bei ihm.

»Mensch, du infamer! – das mit der Brinkschulte steht denn doch auf einem besonderen Brett verzeichnet. Da wird meiner persönlichen Ehre das Totenhemd angezogen. Aber ich laß es ihr nicht anziehn. Von keinem, auch von Euch nicht, selbst wenn Ihr zehn Reichstagsmandate besäßet« – und er lachte bitter auf, aber in dieser Bitternis saß Haß und Verachtung – »und ich sollte der Mann sein, der sich an die Brinkschulte heranschleicht – an ihren Leib, an ihr Hab und Eigen heranschleicht . . .?! – ich, Heinrich Tillbeck von der Paderbörnschen Senne . . .?!«

Seine Stimme kam langsam ins Rollen.

Der Rektor verfärbte sich.

»Was ich gesagt hab',« meinte er kleinlaut, »versteht sich alles unter einer gewissen Reserve.«

»Jetzt keine Ausflüchte mehr! – Gesagt ist gesagt. Jetzt werden keine Beleidigungen mehr heruntergefressen. Jetzt nicht – das hättet Ihr früher bedenken sollen. Jetzt ist es zu spät. Und das mit der Brinkschulte . . .! – Die Frau steht zu hoch, als daß man sich an sie heranschleichen könnte, und Ihr steht zu niedrig, als daß Ihr sie beleidigen könntet. Aber hier steht der Habenichts, der landfremde Mann – und dem habt Ihr die Beleidigung direkt zwischen die Zähne gehauen. Und ich weiß, was er wert ist. Das hat er erfahren in der Kraft seiner Arbeit und da, als er seinem angeschossenen Rittmeister den Säbelhieb eines Chasseurs d'Afrique ersparte . . . und so was vergißt man nie mehr im Leben. So was gibt Selbstbewußtsein und Ehre.«

Spielende Flämmchen wetterleuchteten aus seinem sonnverbrannten Gesicht.

»Und nun wagt so ein verfluchtiger Rektor . . .«

Ein stählerner Arm streckte sich aus – und daran saß eine stählerne Faust . . . und die packte zu . . .

»Seht euch diesen an . . .

Wie von einer Zange gefaßt, fühlte sich der Rektor aus seiner Verschanzung gezogen und den Gästen anpräsentiert.

Wie er sich auch sträuben und verteidigen mochte, es half ihm nichts. Die Siegfriedgestalt faßte zu ehern.

»Kinder!« rief Tillbeck, »seht euch den Mann an – den Volksbeglücker – den Kerl, der immerzu nickt, wenn der Pastor ein lateinisches Wort von sich gibt, der die Kunst für sich allein in Kauf und Pachtung genommen hat . . . zu erbärmlich, ihn rechts und links um die Ohren zu knallen, zu schad' für die Hand, ihn am Kragen zu halten, zu nichtswürdig, sich weiter mit ihm zu beschäftigen, aber auch zu elend, ihn hier zwischen anständigen Leuten im ›Fröhlichen Anton‹ zu lassen . . . Wo der da hingehört, der andere, der Kompagnon an Leib und Seele von ihm, der alte Jaspers: Mensch, da gehörst auch du hin! – 'raus mit dir zu deinem Gesinnungsgenossen!«

Ein mächtiger Griff, und Tobias Klopps schwebte zwischen Diele und Decke – und dann: in sachtem Schwunge sah er sich durchs Fenster auf die Straße geschoben.

Hut und Stock stolperten unter freudigem Zuruf der Tafelrunde hinter ihm her.

»Mit Ihrem gütigen Wollbenehmen,« rief Wimke, »allerhand Achtung!«

»Bravo, bravo . . .!« stürmte es auf Tillbeck ein.

Alle umringten ihn, alle gaben ihm die Hand. Wie eine Erlösung ging es durch die Wirtsstube des ›Fröhlichen Anton‹.

»Tillbeck, auf ein Wort,« sagte Jans Stedink und führte ihn still auf die Seite.

»Das brauchen die andern nicht zu wissen,« sagte er tief aus der Brust heraus, »wenigstens jetzt nicht. Aber dir muß ich es sagen, denn nu weiß ich es, und es steht fest bei mir wie das Wort Gottes und die Ruhe am Tabernakel. Ich spreche dich als den richtigen Kerl an. Ich hab' keine Angst um dich. Tillbeck, greif zu« – und die Hand des Schmiedemeisters legte sich ihm schwer auf die Schulter – »von heute an kannst du den Brinkschultenhof in eigene Regie übernehmen.«

 


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